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3.3 - Silbe OD - das Runen-Haupt 
 
Dreimal, im altheiligen Sonnen-Zahlsinn also, erscheint die urehrwürdige Zahl 108 (QS 9 = s = sol / sowilo = Sonne) im bronzezeitl. Kunstwerk des Trundhol­mer Son­nenwagens. In welcher Form sie dort auftritt und welche hohe Bedeu­tung sie auch in anderen indogerm. beeinflussten Religionen besitzt, soll später beschrieben werden. (vgl. Tür 5.1). Die gesamte Runensprache-Runenschrift basiert auf dieser heiligen Zahl: Unsere urgerman. ODING-Buchstabenreihe umfasst 6 Selbstlaute sowie 18 Mitlaute. Die Lautwerte der Konsonantenzeichen sind d, ng (als Endlaut) l, m, b, t, s, z (als Endlaut), p, j, n, h, w, g, k, r, th, f. Als Vokalzeichen sind vorhanden: o, e, ei (Laut zwischen e und i), i, a, u. Kombiniert man die 6 Vokale (Urlaute) jeweils mit einem der 18 Konsonanten (Mitlaute), dann werden 6x18 = 108 Grundstammsilben ge­schaffen, aus denen sich im runentheoretischen Sinne die germ. Sprache entfaltet hat. Die erste Silbe OD die man als Urgrundstammsilbe bezeichnen kann, entsteht durch Verbindung des 1. Urlauts „o“ mit dem 1. Mitlaut „d“. Aus diesem „Kopf“ der gesamten Runensprache „erwachsen“ alle weiteren, insgesamt 108  Silben­lau­tun­g­en, die im folgenden der Reihe nach aufgezeigt werden:
 
   od  ong  ol  om ob  ot  os  oz  op  oj  on  oh  ow  og  ok  or  oð  of
   ed  eng  el  em  eb  et  es  ez  ep  ej  en eh  ew  eg  ek  er  eð  ef
   eid  eing  eil  eim  eib  eit  eis  eiz  eip  eij  ein  eih  eiw  eig  eik  eir  eið  eif
    id  ing  il  im  ib  it  is  iz  ip  ij  in  ih  iw  ig  ik  ir  ið  if
   ad  ang  al  am  ab  at  as  az  ap  aj  an  ah  aw  ag  ak  ar  að  af
   ud  ung  ul  um  ub  ut  us  uz  up  uj  un  uh  uw  ug  uk  ur  uð  uf
 
Der gefeierte altgriech. Kult-Lyriker Pindar (522-446 v.0) galt schon zu seinen Lebzeiten als einer der Bedeutendsten. Seine schöngeistigen Siegeslieder, mit denen er Herrscher und Helden der Wettkämpfe ehrte, bedienen sich der rühmlichen Themen von Göttern und mythischen Heroen in feierlich-erhabener, traditionell dorisch geprägter Sprache. Für ihn und das altgriechische Denken war es so, dass in der Tüchtigkeit und allem Großen, Erhabenen und Schönen dieser Welt das Göttliche aufleuchtet und in Erscheinung tritt. (Uvo Hölscher, Pindar Siegeslieder - Olympische Oden“, 1962, S. 190) Diese antike Betrachtungsweise hatte ganz natürlich lange vor und nach Pinda ihre empfundene Berechtigung in den Köpfen der Menschen. Gleiche Beurteilung erfuhren die Schriftsysteme - der anatolisch-vorderasiatisch-ägyptischen, der griechisch-lateinischen Buchstaben und der germanischen Runen -, das waren anerkanntermaßen gewaltige schöpferische Leistungen, in denen scheinbar übermenschlich-göttliche Erleuchtungen zu Tage traten. So ist auch mit Sicherheit das 24-stabige Oding-Fuðark als ein göttlich ins Werk gesetztes Phänomen betrachtet worden.
 
Welch ein erhabener Gedanken, wenn die Alten im Bewusstsein lebten, dass jegli­ches gesprochene und geschriebene Wort ein Ausfluss heiligster, sonnenseligster Ordnung, Wahrheit und Gerechtigkeit sei. Die Addition aller 24 Runenstäbe ergibt mit der Summe 300 wieder die Sonnen-3, d.h. den Wert der 3. Rune bzw. den ursprünglich reinen, schlichten Sonnenkreis der Ing-Rune (). Ebenso repräsentiert die Urgrundsilbe OD den Zahlenwert 1+2=3 und ist damit aus zahlenallegorischer Sicht gleichzeitig Kopf und Leib des Runen­universums, also: Gott. Des Runengefüges Baugedanken werden hier sichtbar, die wir auch aus pythagoreisch-gnostischen Schriften der Spätantike kennen. So ver­deutlicht der neupythagoreisch-gnostische Text des Buches „Jezira“ („Buch der Schöpfung“), dessen früheste Erwähnung im 9. Jh. erfolgte; die Texte gehen auf 6., letztlich aber auf 2. Jh. zurück. (Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, 1925, S. 140). Die Schrift vermittelt in einer mystischen Sprache die magische Anwendung der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und wurde allerdeutlichst zu magischen Zwecken benutzt. Im Vers 2,2 heißt es: „Zweiundzwanzig Buchstaben: Er umriss sie, Er hieb sie aus, Er wog sie, Er kombinierte sie und Er wechselte sie aus [verwandelte sie nach bestimmten Gesetzen] und Er schuf durch sie die Seele alles Erschaffenen und alles, was irgend geschaffen werden würde“. Mit „Er“ ist zweifellos Gott gemeint. Und weiter: „Wie kombinierte, wog, wechselte er aus?“ Die Buch­sta­ben werden hier also als Ideenbausteine des Universums verstanden. Das Sepher Jezira definiert das vorschöpfungszeitliche Chaos als Ursubstanz der magischen Welt­werdung. Der vergleichbare Begriff des kosmischen Urraumes im Germanischen wäre altn. Ginnungagap („gähnende Kluft / Leere“), z.B. in Vsp. 3. In dieses mit zauberisch-schöpferischen Kräften gefüllte Sein, das stoffliches Nichtsein ist, stellt der Jezira-Text die Wirkmächte der Buchstaben. Durch sie, mit ihrer Hilfe wird die Schöpfung „gezau­bert“, denn „Am Anfang war das Wort" (Joh.-Ev. 1,1). Nichts anderes kann das ed­dische Havamál in 141. Strophe meinen, wo Gott Odin-Wodin in die Stoffwelt der Schöpfung „fallend“, die Werde-Ideen in Gestalt der Runen fand/erfand: „orð mér af orði orðz leitaði, verc mér af verki vercs leitaði“  d.h. „ein Wort fand mir das andere Wort, ein Werk das andere Werk“ (vgl. 3.Tür „u-Laut“). Man könnte den Sinn der Strophe so verdeutlichen: Von Wort zu Wort und Werk zu Werk erwuchs die Welt. Das Jezira spricht von geheimnisvollen 231 „Pforten“ welche „in einem Kreis wie eine Mauer" aus den 22 Zeichen gebildet wurden. Sie stellen die 231 mathematisch mög­lichen Verbindungen zweier Buchstaben des Alphabets dar, wenn sich keine Kom­bination wiederholt: A und B werden beispielsweise also nur einmal verbunden, die Kombinationen AB und BA gelten als gleich. Die Rechnung wäre demnach: 22X21=462:2=231. 22 Grundbuchstaben, daraus entwickelte 231 Buchstabenpaare bzw. die Gesamtmenge von 462 geordneten Buchstaben galten der kabbalistischen Schrift als geistige Ursubstanz aus der Er, Gott, die Welt erschuf.
 
Andere Schulen gingen damals von den 24 Buchstaben des griech. Alphabetes aus; der Runensystemschöpfer wählte die gleiche Anzahl. In seiner ODING-Ordnung gab er die Symbolziffer 21 dem Ahnengeist Wodan-Wodin-Odin, dem Asen (). Der sollte als immanente Wirkkraft seiner Weltschöpfung in Erscheinung treten. Der Runen­kreis stellt diese Aussage in der einzig möglichen zahlenmythologischen Weise dar: Die arithme­tische Summe von 21 beträgt 231. Diese drei ersten Zahlen versinn­bild­lichen die Ur­schöpfung und ergeben in ihrer Quersumme 6, wie auch die Gesamtheit der 24 gei­stigen Runen-Weltbausteine in ihrer Quersumme 6 erzielen (2+4=6), jene Ziffer, die die Raumtotale des Kosmos vertritt. Der germanische Asengott Wodan galt dem­nach als Teilwesenheit und weltbewirkende Werdekraft des Alls, auch und im Beson­deren des Menschen, was durch die zahlenmäßige Gleichwertigkeit des Got­tesnamens und des Menschenbegriffes - nach ODING‘scher Gematrie - unterstrichen wird. Der Urmensch (Mannaz: ) und der Geistgott (Wodanaz: ) weisen den über­einstimmenden Zahlen­wert 87 auf, der sich in der Kernsumme wieder zu 15 (8+7=15) und zu 6 (1+5=6), also der Allzahl reduziert.
 
Abschließend heißt es im Jezira: „und so ergibt sich denn, dass alles Erschaffene und alles Gesprochene aus einem Namen hervorgeht.“ (Aryeh Kaplan, Sefer Jezira, Rita Ruther Verlag, 1994) Dass mit diesem Namen, aus dem alles erwächst, der Name Got­­tes gemeint ist, liegt auf der Hand. Die Weltwerdeziffer 231 stellt ja nichts ande­res dar als die ersten drei Zahlen und ebenso die ersten drei Runen, nämlich: O-D-ING. Im späteren Jezira-Schöpfungsbuch finden wir also die runischen Grund­ge­dan­ken ausgesprochen: die kreisförmige Anordnung sowie das Hervorfließen der schöp­ferischen Buchstaben aus dem Gottesnamen, der ihr Haupt, ihr Uranfang ist. Aus den Worten, den Runen-Buchstaben, wurden die Werke der Schöpfung, aus geistig ergriffenen-begriffenen Vorstrukturen (Runen) wurde die Dinglichkeit des Seienden.
 
Jene Urgrundstammsilbe = OD, die aus buchstaben-gnostischer Sicht identisch mit Gott sein müsste, ist es nach germ. Sprachwirklichkeiten tatsächlich -, sie stellt die Kernsilbe des Gottesbegriffes dar: wodanaz, wodinaz / wodan, wodin, woden / wod; altsächs. god, niederdt.-mundartlich bis heute / altn. oð, oðr, oðinn -, durch seit Beginn des 6. Jh. erfolgten späturnord. Schwund des anlautenden „w“ vor den dunk­len Vo­kalen: „o“ und „u“. In altgerm. Zeit, als die Eingeweihten die 24-er ODING-Ru­nen­ordnung benutzten, wurden die Namen des Seelengottes-Weltgeistes, des göt­tlichen Allumfassers-Göttervaters mit der Silbe „od“ geschrieben. Es schwanken ohnehin im Germ. d (), ð (), t (); erst im Verlauf des Mittelalters wandelte sich unregelmäßig germ. „d“ () in altnord. „th“ (). Dies bezeugen eine Reihe von Fun­den: Spange von Værløsa/Dänemark (ca. 2. Jh.): alugod + Hakenkreuzzeichen (alugod = Zaubergott); Fibel von Gårdløsa/Dänemark (ca. um 200): ekunwodt = ekunwod[i?], „Ich Unerregter / Un­verständiger“; Runenstein von Tune/Schwed. (ca. 400 n.0): woduri („Geist­reiter / Wodansritter / Wodanspriester“); Bügelfibel von Nor­dendorf/Deutschl. (ca. Mitte 6.Jh.): wodan („Wodan“). Dieser Gottesname ist als Wodin in urnord. Schreibung, noch mit anlautendem „w“ um 400 n.0 in Süd­ostnorwegen nachweisbar. (Detlev Elmers, Zur Ikonographie nord. Goldbrakteaten, 1972, S. 214) Die Anlautformen auf „w“ oder „g“ sind sekundär, die Kernsilbe des germ. Wortes wod-god ahd. got, nhd. Gott war „od“. Gott ist: od- Od ! Diese Grund­form wurde nie ganz vergessen; noch die Edda-Schriften kennen den Gott altn. Óð / Óðr, der mit Oðin als nicht identisch gilt. Der älteste Gesang des Nordens, die Völuspá (25), erwähnt „Óðs mey“ d.h. „Óðs Braut“, nämlich die ältere als Frigga, die gemeingerm. Göttin Freyja-Frija (Gylf. 34 u. Skalds. 20 + 35). Also muss Gott-Óð der ältere sein. Jan de Vries sagt richtig: Óðr ist eine alte Gottheit, aus ihm ist Óðinn hervorgegangen. (Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, 1957, S. 87)
 
Um den Verständnisinhalt des Gottesbegriffes „Ōd-Óð“ erahnen zu können, könnte vielleicht die Inaugenscheinnahme von Wortformen­trüm­mern hilfreich sein: ahd. odmütig = demütig, Oding = Steuergesetz, Oding = Kultstätte, altn. óðr = „Geist, Gemüts­erre­gung / Dichtkunst“, óðrœrir = „Begeisterer / Rauschtrank / Dich­termet“, got. woðs = „erregt / besessen / wütend“, mhd. wuot = „Wut“, wuotgüssine = „heftige Wassergüsse / Wol­ken­bruch“, altn. oeðiveðr = „gewaltiger Wind“, norw. u. schwed. dial. oden = „brüns­tig“, ode m. = „Brunst“, oda f. = „Brunst / Lebensmut / Hitzigkeit“, mndl. woeden = „heftig begehren, in Liebe brennen, rasen, wahnsinnig sein“, neunorw. od = „Raserei / Unwetter“, ???? óðal- =von freier, edler Geburt“, óðal = „Stammgut / Heimat / Vaterland“, altn. oddr = „Spitze, Pfeilspitze“, oddur = Speer (dichterich), øðli = „edel“, mōðir = „Stamm-Mutter“; ags. œðel = „Heimat“, ōð­ian = „atmen“, met-od = „Maß / Messender / Schick­sal“; germ. witod, got. witōð, ahd./mhd. wizzod = „heiliges Gesetz / Sakrament“,  mhd. alōd = „freier Besitz“, uodal = „Heimat“, ādum = „Atem“; ostmd. odem = „Atem“, mhd. ode-bar = „Seelen-Kin­derbringer, Storch“, kleinôt, kleinœde = „kleines hochwertiges Gut“. Anmerkung: aus idg. „ā“ konnte gemeingerm. „ō“, ahd. „uo“, altn. „ó“, dt. „u“ werden; z.B. ai. ātma = „Seele / Hauch / Geist“, altengl. ōðian, altn. óð = „Sinn / Geist / Verstand / Gemüt“, aber önd = „Atem / Seele / Geist / Anfang“, ahd. ādum / ātum, dt. Atem-Odem = „Hauch-Lebensluft“.  (Hermann Hirt, Handbuch des Urgermanischen, 1931)
 
Völuspá (18,4) schildert, wie die nordische Göttertrias die Verlebendigung des ersten Menschenpaares vornimmt: „önd gaf Oðinn, óð gaf Hœnir“  d.h. „Sinn gab Odin, Seele, gab Hönir“. Odin schenkt Geist, Verstand, eine seiner Hypostasen Hönir, gibt die Seele. Wie wären auch Sinn und Seele zu scheiden? Dazu schreibt der Isländer Sigurdur Nordal: „önd, óðr: Hier wird eine Unterscheidung gemacht zwischen dem Lebens­odem und der Seele. önd bestimmt die Lebensfunktionen, ist Teil des Lebens und ist Mensch wie Tier gemeinsam. óðr ist der ,göttliche Funke‘ im Menschen, der auf höhere Mächte zurückgeht.“ (Sigurdur Nordal, Völuspa, 1980, S. 48) Wir sind sicher: Der altgerm. Od-Gott der ODING-Epoche, kann nicht sehr viel anders ver­stan­den worden sein, als der hochmittelalterlichen Óð-Gott der Edda-Zeit, als Geber, als Inkarnation von Geist und Seele. Er ist der Gott jeglicher seelischen Erregung: Sturm­­gott und Erntegott, Kriegsgott, Runengott, Totengott und Herr der Dichtkunst, der Liebesbrunst, aber auch des Zaubers, der Tücke, der Maskeraden, der mensch­lichen Hingabe, ekstatischer Menschen und der Menschenopfer. Kein Betrachter darf dabei übersehen, dass Gottesseele und Menschenselbst immer ineinander aufge­hend und verwoben betrachtet wurden. Der arioind. Atman ist Seelengeber-Gott und Men­schen-Seele selbst. Ebenso wie es noch ein griech. Zauberpapyrus des 5. Jh. aus­drückt: „Erhöre mich, Hermes [...] denn ich bin du und du bist ich, dein Name ist der meinige [...] Denn ich bin dein Abbild.“ (Karl Preisendanz, Die griech. Zauber­papyri, Bd. 2, 1928-31, S. 46f u. 123) Zwar ist Od der Gottesname, der den germ. Volksglauben begründet in der Höhe des Alls und in der Tiefe des Seins, doch es sei daran erinnert: „Götter sind seelische Mächte und daher nie einseitig bestimmt und im Grunde nur dem Erleben, nicht dem Begreifen zugänglich. Ihre Eigenart kann sich im Namen spiegeln und tut es zumeist, doch liegt sie nie im Wortbegriff, sondern im ganzen Umfang der Wortbedeutung. Nie wird es darum ge­lin­gen, von einer Seite oder einem Endbegriff aus ihr Wesen zu fassen." (Martin Ninck, Wodan und der ger­ma­nische Schicksalsglaube, 1935, S. 32) Trotzdem müsste es mit dieser Erken­ntnis vom zentralen Od-Gott gelingen, die in den Buchstaben, Zah­len und Wörtern der Ru­nen eingeschlossenen Geister freizumachen.
 
3.4 - Die Lautung „ODING“
 
„Der Lautwert der Rune war, jedenfalls ursprünglich, nicht einfacher velarer Nasal, sondern ng bzw. ing." Da die Runenritzer der „ng"-Rune keineswegs grundsätzlich dort ein „i" voranstellten wo es lautlich wohl nötig gewesen wäre, dürfen für die -Rune Lautwerte „ing" sowohl wie „ng" angenommen werden. (Ger­hard Alexander, Die Herkunft der Ing-Rune, in Zeitschr. f. dt. Altert. u. dt. Literatur, Herausgeber Kurt Ruh, Bd.104, 1975, S. 1f)
 
3.5 - Symbolik der 6 Urlaute
 
Unsere urgerm. Buchstabenordnung des ODING-FUÞARK umfasst die 6 Urlaute/Vo­kalzeichen in Folge: , , , , , für o, e, ei, i, a, u, sowie 3x6 = 18 Mitlaute/Ko­nso­nanten. Dagegen besitzt das heute gebräuchliche, aus dem Lateinischen ent­lehnte ABC nur 5 Vokal-, aber 21 Konsonantenzeichen. Man könnte die Vokale auch als Kern- oder Seelenlaute be­zeichnen, denn sie stellen das Grundgerüst der Sprache dar, auf welchem aufbauend sich der gesamte Sprach­leib entwickelt hat. Es handelt sich dabei um Lautungen, die anlässlich be­stimmter Ein­drücke und Empfindungen aus tiefster mensch­licher Wesensart hervorbrechen:
 
Wenn uns etwas hoch und hold vorkommt, loben wir: „o !“
Wenn Ehre oder Ehrlichkeit verletzt werden, sprechen wir: „e !“
Wenn uns etwas heiter und fein erscheint, meinen wir: e (ei) !“
Wenn uns eine fiese Spinne anwidert, schrillen wir: „i !“
Wenn wir uns am saftigen Braten laben, wohllauten wir: „a !“
Wenn es uns im Dunkeln gruselt, murmeln wir: „u !“
 
Es scheint nachweisbar, dass sich die Stimmungs-Charak­tere dieser 6 altgerm.-runi­schen Urlaute bis in unsere Tage kaum wesentlich verändert haben; wir Heutigen ver­spüren offensichtlich noch die gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Gefühle beim Klang der Urlaute wie unsere germ. Vorfahren. Eine ernstzunehmende, umfas­sende Sprach­unter­suchung mit dem Ziel, eine germ.-indogerm. Urlaut-Wortstam­mlehre darzustellen, liegt noch nicht vor. Es muss eingeräumt werden, dass es schier unmöglich er­scheint, Sicherheit zu gewinnen, angesichts des uns verfügbaren man­gelhaften Wort­schatzes. Doch einstiges Urlaut-Verständ­nis blieb überliefert und ist erfahrbar zu machen aus den bereits genannten Identifizierungskriterien der ODING-Runen.
 
- O-Rune.JPG -
 
Der erste Urlaut, das „o“ = O-Rune.JPG galt der Antike als Laut, mit dem die „kleine“, die menschliche Seele die „große“, die göttliche Weltseele um Anhörung oder Hilfe an­ruft. Das „o“, so heißt es in der Musiktherapie, lässt den Bauch vom Nabel bis zum Brustbein und nach hinten zur Wirbelsäule zum Schwingen kommen. Ein „o“ erklingt als Ruf des Erstaunens, der Überraschung oder des Erschreckens, wenn unsere Se­ele durch Betroffenheit in Wallung gerät. Im Germanischen ist das „o“ der Zentrallaut des Wortes für god = „Gott“. So ist es nur allzu verständlich, dass die „o“-Rune sowohl die erste Rune im ODING überhaupt und mithin der erste Selbstlaut des germ. Buch­stabensystems sein muss. Im kosmischen Jahresbeginn zur Wintersonnwende-Müt­ternacht, befindet sich ihr Kalenderplatz. Sie ist in den Schwarz- bzw. Neumond ge­legt, der nach Vorstellungen des Sympathiezaubers mit dem Gewinn eigener Fülle seine vermeh­rende Wirkung auf alles, was über der Erde wächst, auslöst. Das dazu passende Sternbild ist der kraftstrotzende „Stein­bock“, das aufwärtsstrebende Klet­tertier. Der zugehörige Ru­nenbegriff lautet oðala = „Heimaterde-Artbesitz“. Aus gott­gegebener Heimaterde erwuchs und erhält sich die gottesteilhaftige Mutterseele des Volkes, aus der jedem Einzelnen Heil und Halt zuströmen mag - so war es Gewissheit der Ahnen. Noch heute, wenn uns ein bewun­dern­des, frohes, hochschätzendes „o“ entfährt, loben wir gefühls­mäßig richtig das Vollendete, Wohlgeratene, Großartige. Das „o“ als Laut für das ethisch und ästhetisch Obere und den Beginn, vermag sich zu zeigen in Worten wie: lat. origo = „Ursprung, Abstammung, Herkunft“; altn. oddr = Spitze, óðr = „Geist“, önd = „Atem, Anfang, Ursprung“, óss = „Flussmündung“, orðigr = „hoch / aufrecht“; altsächs. u. aengl. ord und ahd. ort  = „Spitze, Quelle, Anfang“; aind. oštha = „Lippe“.
 
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Der zweite Urlaut ist das „e“ = , das an 6. ODING-Runen-Stelle postiert ist, also durch die „vollkommene Sechszahl“ geadelt wurde. In der Musiktherapie heißt es, das „e“ öffne den Brustraum an den Flanken seitlich zur Welt hin. Der dazuge­hö­rende Runenbegriff heißt ehwaz = „Gottesross“. Sein Kalenderort befindet sich im Vollmond­stand Februarende-Märzanfang zum antiken heliakischen Aufgang des Sternenpferdes „Pegasos“ und ebenso der Festzeit des indoarischen Rossopfers. Der Hengst war den Alten ein mehrschichtiges, heiliges Sinnbild, u.a. auch für den Volks­könig bzw. das Gottesstellvertretertum auf Erden, also für die gottgegebene Welt­ordnung. Es scheint, als ob wir die „e“-Begrif­fe altind. ēvas = „Gang / Sitte“. altsächs. êo, ahd. die êwa = „Ge­setz / Recht“ (êwart, êsago = Gesetzeswart und -sprecher) für die göttlichen Regeln, ebenso darzustellen dür­fen wie das Perso­nal­pronomen germ. ek = „ich“, als Begriff für das menschliche Selbst, das in diese sinnreichen Fügungen hineingestellt und eingebunden ist, ebenso wie era („Ehre“) und eht („Besitz“). Wenn wir uns ungerecht, unehrenhaft, unehrlich behandelt fühlen und dann zuweilen aus seelischem Urer­innern „e“ sagen, wollen wir dann nicht an Recht und Redlichkeit gemahnen, so etwa: „eh, he - nimm dich zusam­men, das ist zu wild, zu wüst, so geht es nicht!“?
 
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Der dritte Urlaut „ë“ war ein Laut zwischen „e“ und „i“, dem „ei“ na­hestehend. Die stellvertretende Rune trägt den Begriff eih­waz = „Eibe“, der immergrüne Lebens-, Todes- und Welten­baum; dieses Sinnbild wird von der Zahl 12 vielsagend ergänzt. Die 12 galt als die volle Rundzahl auch des Himmelskreises mit seinen 12 Sternbild­feldern, in welche der symbolisch gedachte Weltenbaum hineinragt. Zur 12 gelangt man aber auch über die Multiplikation 3 x 4 bzw. Feuer x Wasser (Männliches x Weib­­liches). Die geglückte Verbindung von Gegensätzen wird hier demonstriert; da­für wirbt auch das Sternbild „Zwilling“ der „un­gleichen Brüder“. So ist es nicht ver­wunderlich, dass insbeson­dere der „ei“-Laut manchen Widerspruch in sich birgt. Die Eibenbaum-Chiffre nimmt im ODING-Runenkalender den Zeitraum Mai-Ende/Juni-An­fang ein (zum vollen Mond), in dem es noch heute Volksbrauch ist, den Maibaum als Lebensbaum­gleichnis zu errichten; handelt es sich doch um die Jahres­spanne, in der Sonnenlicht und Naturleben wieder voll erblüht sind - wahrlich heitere, von Dunkel­heit befreite, gereinigte, heilvolle, feierliche Mondläufe, in denen Freudenrufe wie: „ei wie fein“, „hei“, „heißa“, „juchhei“, „bin frei“, „einerlei“ menschlicher Brust entfahren möchten.
 
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Der vierte Urlaut ist das  „i“ = imit dem dazugehörenden Begriff isaz = „Eis“, bei dem uns Begleitgedanken wie „kaltmachen“, „eisiges Schweigen“, „Eisesnot und Kältetod“ in den Sinn kom­men. Die Runenzahl 14 ist sicherlich mit Bedacht gewählt, denn es sind nach altem Mythos 2 x 7 = 14 unholde Geister aus Luft und Meerestiefen, wel­che weder Gnade noch Mitleid kennen und die Weltübel verursachen. Im Juni-Ende droht dieser Ru­nenlaut, zu Beginn der wieder abnehmenden Tageslängen. Der Jahr­es­gott scheint einen halben Mondlauf nach Jahreshöhe­punkt und -wende verwundet; das Licht geht seinen Abwärts­gang ins Wintergrab hinunter. Die dem „i“ gehörende Mond­gestalt ist der Vollmond, welcher - gemeinsam mit dem Stern­zeichen „Krebs“ - Schwund und Rückwärtsgang ankündigt. Das Singen von reinen Vokalen hat in der Musiktherapie folgende öffnende Wirkung: Das „i“ öffnet den Kopf. Das „i“, im Zeit­raum des höchsten Jahres­standes, ist auch der höch­ste, spitzeste Laut, der den stärk­sten Gegensatz zum breiten, lebenerhaltenden Atemlaut „a“ bildet. Die Lippen werden zu­rückgezogen und liegen dicht an den Zähnen, der Luftstrom schießt ziel­strebig und nachdrücklich hinaus. Es ist der einzige Laut, bei dem wir der Welt die „Zähne zeigen“, ebenso wie beim Gefühl des Ekels und der Feindseligkeit. Die Stiche von des Igels Pieken oder der Biss einer Spinne können uns zu Schmer­zens­rufen wie „pfui“, „igitt“, „fies“, „so ein Biest!“ veranlassen. Es scheint, dass die „i“-Rune kaum treffsicherer in die runische Be­griffs-, Zahlen- und Kalenderfolge hätte eingeordnet werden können.
 
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Der fünfte Urlaut ist das „a“ = des Runenwortes „anse / ase. Es handelt sich um den Kultnamen des germ. Seelen- und Geistgottes Wodan-Wodin-Odin. Das „a“ gilt in der Musiktherapie als der „umfassende Ganzraum, dessen Zentrum in der „Mitte" entsteht und als tiefgreifende Kraft erfahren wird. Im Osten gilt A als Urlaut göttlicher Natur, d.h. als Urlaut, der Leben erschafft. Der Ase ist Schicksalsherr einer höheren Gerechtigkeit, er hält das Sternbild „Waage“ über seine Zeit (aber als Totengott ragt er schon hinein in den nachfol­gen­den „Skorpion“-Aspekt). Er ist es, der das „Auf und Ab“ der Waagschalen bestimmt. Die dazugehörige Zahl 21 mit Quer­summe 3 gilt als die „Meisterzahl“ und geistige Weltallzahl (3 x 7), d.h. der „vergeistigten Welt“ oder der „Welt der Geister“. Auf Mitte Oktober fällt dieses Sinnbild, in die Zeit der Ahnen­geister- und Seelenfeste, wenn die äußeren, stofflichen Lebenskräfte abnehmen und in gleichem Maße die unsichtbaren Wirkkräfte an Macht gewinnen. Der aus engster Mundstellung entstehende spitze, feindselig anmutende „i“-Laut steht der vollmun­digen „a“-Lautung am deutlichsten entgegen. Der Ase, der Atemwindgott Wodin, will die Weltbeatmung bewirken; dies vermag er nur mit der weitesten Mundöffnung des Urlautes „a“. Mit diesem geöffneten Beatmungsmund ist der Ase Wodin-Odin auch auf den Goldbrakteatenbildchen des germ. Mittelalters portraitiert. So ist das „a“ als Mundaufmacher der einzige Laut, welcher befähigt ist, die Ver­lebendigung in Gestalt des ersten und aller weiteren mensch­lichen Atemzüge zu symbolisieren. Die Begriffe altind. asu = „Lebenshauch / -kraft'“ und atman = „At­em / Selbst / Seele“, griech. atmós = „Dampf, Dunst“ (Atmosphäre = Dunstkreis der Erde), lat. -anima = „Lufthauch, Atem, Seele“, got. ana = „Atem“ und ansts = „Gunst“, altsächs. aðom, ahd. atum = „Seele / Hauch / Geist“; bieten sich an, in den Zusam­menhang mit der Lebens­hauch­rune „a“ und dem Asen Wodin-Odin gestellt zu wer­den.
 
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Der sechste Urlaut ist das „u“ = , dem das Wort uruz = „Ur­stier“ zugeordnet wurde, das alte, weithin verstandene Sinnbild der Himmelsgottheit/Naturkraft. Die Runen­hieroglyphe zeigt das Stierhaupt mit nach unten gewendeten Hörnerspitzen. Was damit versinnbildlicht wird, ist das Taurobolium, das Gottesopfer im November, dem Opfer- und Todesmonat im alten Jahres­verständnis. Die zugehörige Runenzahl 23, mit Quersumme 5, wurde in der Antike auch als Opferzahl begriffen. Dies Gottes-/ Naturopfer soll ja kommendes Wachstum, frisches Gedeihen bewirken; ihm entquillt künftiger Jahressegen. Aus dem „Zu-Grunde-Gehen“ entsteht das Neue, so lautet irdische Erfah­rungsweisheit. In die Tiefe des Jahres ist die „u“-Rune und ihr Symbo­lismus gestellt - sie weist den Weg in die Wurzelbereiche des Seins, zu den Brunnen in die Urgründe der Mütternächte. In der Musiktherapie wird gelehrt, das „u“ aktiviert die Schwingung des Beckens und lässt Ruhe und basale Tragkraft wachsen. So wie der „u“-Buchstabe die Mundhöhle zum Schlund verengt, in dessen Grube drunten die Lautungen gemurmelt, gemurrt, gesummt, geraunt, getuschelt werden, so spielt sich im Grunde des verengten, lichtarmen Jahres das unheimliche, ungreifbare, dustere Grauen des Gottesopfers im Naturgeschehen ab. Wir erkennen, dass der dunkle Ur­laut, das runische „u“, in seinem Verständnis-Gesamtumfang sowohl das Unten, das „Un-“ der Verneinung, das Unglückliche, Unholde, Ungeheure, das Unheil des Unter­ganges - aber auch die Ursache für den Umschwung und die Umlenkung zur neuen, vom Zeitkreis bedingten kosmo­logischen Ordnung des Runen-„o“ am Ort ( = „an der Spitze“), dem Obigen, der runischen Gottes-Offenbarung, bedeutet. Und da „Ru­ne“ nichts anderes als „Geheimnis“ heißt, erzeigt sich dieser „u“-vokalige Begriff selbst als das heilige Geheimnis aus den Urtiefen der Zeit. Und noch der erst aus dem späten Hoch­mittelalter auf uns gekommene heidnische Mythos der Runen­(er)­fin­dung durch den germanischen Geist-Seelengott Odin-Wo­din führt ein ur- und „u“-runisches Geschehen vor unser geisti­ges Auge. In den Edda-Strophen von der Selbst­­opferung Odins (Havamál 130, 139, 141) werden der Gottheit selbst die hoch­be­rühmten Worte in den Mund gelegt:
 
„Ich weiß, dass ich hing am himmlischen Baum 2
neun ganze Nächte,
gerverwundet und dem Odin geschenkt,
ich selbst mir selbst,
am Weltenbaum, von dem keiner weiß,
aus welchen Wurzeln er wurde.
 
Nicht Brot beglückte mich, auch kein Trinkhorn,
nieder spähte ich,
nahm auf die Runen, nahm sie schreiend,
rückwärts fiel ich von dort.
 
Trost und Kenntnisreichtum gewann mein Dasein,
auch Wachstum und wohlgeratene Ordnung,
Wort mich von Wort zu Wort wies,
Werk mich von Werk zu Werk wies.“
 
Wodan-Odin muss 9 „Nächte“ (Monde/Monate) hängen, bis zur Todesreife, um die Frü­chte seiner Initiation zu realisieren. Dazu schreibt ein bedeutender Kenner: „Odin, der  göttliche Myste einer Initiation, erlebte seinen ,Tod’ und seine ,Wiedergeburt' zu­gleich als makrokosmisches Sterben und Werden, dessen sichtbare Gestalt der ver­änderliche Mond ist.“ (Heinz Klingenberg, Festschrift Siegfried Gutenbrunner zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1972, S. 135) Aber halten wir das schaurig-erhabene Bild des Havamál-Dichters fest, es sagt noch mehr: So wie der lebenbewirkende Tau aus dem Monde fällt, so fielen aus Wodins Brust die Blutstropfen seiner Speerver­wun­dung um „niederfallend“ (auch in den Köpfen seiner Menschenkinder) als geis­tle­ben­schaffende Runen zu erblühen.
 
Der „u“-Runenlaut udes Gottesopfers steht in einer Schwarz­mondphase des Nov­ember. Am Sternenhimmel droht der Todesstachel des erstarkten „Skorpion“. Die zeitweisenden Gestirne, Sonne und Mond, befinden sich also im kraftlosen Grunde ihrer Lichtmacht, aus der im Fortschreiten nur wieder ein Wachsen und Gedeihen zu erhoffen ist. Wodin-Odins Gotteswesenheit spiegelte sich gemäß den altgerm. Natur­religiös-begrifflichen Anschauungen sicherlich nicht nur in den beiden großen Him­melslichtern, vielmehr wurde sie als Wirkkraft verstanden, welche unsichtbar hinter der Gesamtheit der Erscheinungswelten pulsiert. Wir erkennen, wie eng die Selbst­lautfolge im Buchstabensystem des ODING-FUÞARK mit dem germanischen Jah­resgott-Mythos vom „Vergehen und Wie­dererstehen“ verwoben ist. Der verwun­dete Gott schaut hin­unter aus seiner Weltenbaumhöhe und sucht bei den Wur­zeln des Seins die Runen, die Ur-ldeenmuster der Urschöp­fung, welche den Bausteinen gleich sind, die für jede neue Jahreserschaffung gesucht und genutzt werden müs­sen. Von „Wort zu Wort“ seiner Gedankenfolge findet der göttliche Baumeister zum „Werk um  Werk“ seiner schöpferischen Tatenfolge. Über das Opfer der „Selbster­niedrigung“, dem Eingehen in die stoffliche Welt, schafft Wodan-Odin die neuen Struk­turen materieller Dinge. Nach Aufnahme der Plangedanken - der Runen - „fällt“ er in die Schöpfung, sich selbst wiederum erste Urlaut-Rune der Welt- und Jahres­werdung ein Schlingen- und Seelen­zeichen sein: = o.
                                                                  
                                
Vereinfachtes (idealisiertes) Schema des urgermanischen Sonnen-Mondjahres mit den 12 Mondläufen bzw. 24 Schwarz- und Vollmondstellungen innerhalb eines Sonnenlaufes. - So wie die Runen-Systemzahl 6 ist, denn 24 (2+4=6) reduziert sich zur QS 6, so gelangt man bei der Systemzahlen-Addition der 6 runischen Urlaute ebenfals auf die Zahl 6: 1+6+12+14+21+23=77>7+7=14>1+4=5>Aufsummierung von 5>1+2+3+4+5=15>1+5=6.
 
Als Hauptergebnis dieser Untersuchung erscheint jene Erkenntnis, dass die 6 Urlaute geradeso wie ein zusammengehörendes einheitliches „Kerngehäuse“ dieselbe jah­resmythologische Aussage abgeben wie die gesamte große geistige „Runenfrucht“ von 24 Zeichen (mit QS 6). Bei Addition der Urlaut-Zahlen (o 1, e 6, ei 12, i 14, a 21, u 23) ergibt sich QS 5 bzw. die Vollkommenheitszahl 5/6 (vgl.Tür 2, „die 5“). Die 6 Urlaute sind so über den Jahreskreis hingeordnet, dass ihr lautlich-mythischer Charakter mit der Zeitspanne, die sie vertre­ten, bestens harmoniert: 1. Urlaut (O-Rune.JPG) „o“ im natürlichen Jahresbeginn der Wintersonnenwende; 2. Urlaut () „e“ im Frühlingsbeginn (Anfang der Wachstumsphase); 3. Urlaut () „ë“ im Lichthöhe­punkt, einen halben Mondlauf vor der SSW; 4. Urlaut () „i“ im Lichthöhepunkt, einen hal­ben Mond­lauf nach der Sommersonnenwende (Lichtab­stiegs­beginn); 5. Urlaut () „a“ im Jah­res­­bereich der Ahnen­seelen­feste; 6. Urlaut () „u“ im Beginn des tiefsten Sonnen­standes, also des kleinsten Sonnenlaufbogens.
 
So unglaublich diese stimmigen Urlaut-Einfügungen in die runi­sche Buchstaben- und Kalenderreihe auch sein mögen, durch einen „Meister Zufall“ sind sie ebensowenig zu erklären wie die Gesetzmäßigkeit, dass die hellen Laute „e“, „ë“, „i“ auf Vollmon­den zu liegen kommen und die drei dunklen „a“, „u“, „o“ auf Dunkelmondzeiten. Mit vor­stehender Zusammenschau ist ein weiterer Beweis erbracht für die ODINGsche Er­kenntnistheorie, die altgerm. Runenreihe als planvolles mythisch-kosmologisches und letztlich kos­motheistisches Netzwerk zu begreifen. Der gleichlautende An­spruch wird auch von Erklärern anderer Buchstabensysteme erhoben, doch fällt es denen schwer, auch nur annähernd eine derart vollkommene innere Geschlossenheit des Aufbaus nach­zuweisen, wie es das germ. ODING-FUÞARK offenbart.
 
2   (In Anmerkungsverzeichnis) altn. „vindgameiði“ = „dem Winde ausgesetzter Baum“; sinnvoller: altn. meiðr = Weltenbaum und altn. vind = „Wind / Sturm“, aber auch in Zusammensetzungen „Himmel“. Deshalb vindmeiðr = „Himmelsbaum“ (!); vindgameiði = „himmlischer Baum“
 
3.6- Weltwerdung - die Urstoff-Folge
 
Wenn es richtig ist, dass das Runen-ODING ein antikes (theosophisch-gnostisches) gottesweisheitliches Erkenntnissystem darstellt, dann müssten aus seiner Kreis­ge­stalt die verschlüsselten Grundgedanken der Weltentstehung, des Weltbaues und des Welt­geschehens so gut herauslesbar sein, wie sie hineingeschrieben wurden. Die alten Weisheitslehrer versuchten die Werdung der vielgestaltig-wechselhaften Er­schei­nungsgesamtheit aus einem Urstoff (oder mehreren) zu begreifen, denn wenn etwas entstehen soll, so müssen als Ursprung der Dinge gewisse Baumaterialien, Ur-Sachen (griech. Elemente) vorausgesetzt werden. Diese nannten die Griechen (De­mo­krit, 460-370 v.0) bereits „Buchstaben des Alls". Elemente und Buchstaben aber wurden durch dasselbe Wort „Stoicheion“ bezeichnet.
 
Schon die thrakisch-griech. Orphiker des 6. Jh.v.0, später auch die Stoiker, hatten die Götterpaare der Theogonien in Naturkräfte und Elemente umgedeutet, von denen immer eines aus dem anderen hervorgeht. Insbesondere Empedokles von Agrigent (490-430 v.0) lehrte, dass alles Materielle aus 4 Elementen, den „Wurzeln der Din­ge", erwachsen sei und diese gewissen Gotteskräften/Gottheiten zuzurechnen wär­en. Der Pythagoreer Philolaos (Ende 5. Jh. v.0) unterschied schon 5 Elemente: Erde, Wasser, Luft, Feuer, Äther. Er versuchte ihre Unterschiede als rein geome­trische zu begreifen, indem er das Körperliche als ein Gewebe aus unsichtbar kleinen Parti­kelchen (Polyedern) auffasste. Aus Kuben bestünde die Erde, aus lkosaedern das Wasser, aus Oktaedern die Luft und aus Dodekaedern der Äther. Platon (427-347 v.0) folgte dieser Elemententheorie, insbesondere griff er die Idee vom 5. Urstoff auf dem Äther (belebender göttl. Welt-Seelenstoff). Dass er aber die wahre Ursache der Welt in der Vernunft und den Ideen der Gottheit erkannte, steht außer Zweifel. Besonders stolz war er darauf, sich für den ersten halten zu dürfen, der den Gedan­ken verfolgte, die Elemente seien nur Erscheinungsformen, also Aggregat­zustände eines einzigen Ur-Grundstoffes (Tim. 48b) Aber schon die altindische Kosmogonie besagte etwas ganz ähnliches: Am Beginn der Weltschöpfung sowie zur Weltauf­lösung, jeweils am Ende eines Zeitalters, würde die Materie eine stufenweise Evo­lution und Absorption erfahren. Aus dem göttlichen Ur-Es Brahman komme Akaca (energiegeladener Ätherraum), daraus entstünde Luft, daraus Feuer, daraus Wasser, daraus Erde (Chand. 4.3,1). Solcher Auffassung liegt wohl die umgekehrte Beobach­tung zu Grunde, wie Festes sich in Wasser auflöst, Wasser in der Feuerhitze ver­dampft, Feuer mit seinen Flammen in der Luft verflackert, Luft nach der Höhe zu sich mehr und mehr zum leeren Raum verdünnt. Diese Vedantalehre, von der periodi­schen Resorption und Neuschaffung der Welt durch Brahman, findet sich wieder in den Konzepten Anaximanders, Anaximenes, Diogenes, der Stoiker bis hin zur spät­germ. Edda (Völ. 59-66).

Kosmologische Reihenfolge
 
Über die richtige Reihenfolge der Elemente vermochten sich die griech. hellen­is­ti­schen Denker nie zu einigen. In Platons Werken sind zwei Versionen enthalten, und sein Schüler Aristoteles (384-322 v.0) blieb ebenso unsicher; er fand, wie seine Schriften ausweisen (De Generatione, Meteorologie), keine widerspruchsfreie Lö­sung. Zu beachten ist, dass bei den Indern zwischen Wasser und Luft das Feuer steht: Die fünf grobstofflichen tanmatra-Elemente sind: Äther>Luft>Feu­er>Was­ser>Erde und die aus ihnen gemischten sichtbaren Dinge; z.B. Taittirîya-Up. 2.1: Atman/Brah­man>Ak­a­ca/Ät­her/Raum>Wind/Luft/Va­yu>Feu­er/Tejas>Was­ser/Ap­as>Er­de/Prithivi>Pflan­zen>Nah­rung>Sperma>Mensch -, bei den Griechen steht hingegen zwischen Wasser und Feuer die Luft. Den Pythagoreern zufolge, deren Lehre eng mit derjenigen der Orphiker zusammenhing, war Feuer das erste aller Elemente. In der gnosti­sch­en Schrift, iran. ge­prägt, aus Nag-Hammadi NHC VIII,1 (ca. Anfang 2. Jh. n.0) die „Himmelsreise des Zostrianos“ findet sich diese Elemente-Liste: Erde>Wasser>Luft>Licht>Feuer.
 
Der urgerm. ODING-Werkmeister folgte weder der einen noch der anderen Richtung, seine Konstruktion ist logisch aber ohne direktes (bekanntes) Vorbild. Ob er sich aber eigengesetzlichen heimischen Traditionen verpflichtet fühlte, oder ob er ein per­sön­liches Denkmodell entwickelte, bleibt ungewiss. Unzweifelhaft dagegen ist, dass er mit den ersten 5 Runen eine Ur­stoffregel und -folge aufzustellen beabsichtigte, denn wer in damaliger Zeit eine ernst­zunehmende Schöpfungsgeschichte niederlegen wollte, kam nicht umhin, mit der Urstoffentstehung zu beginnen. Er entwarf eine sinnvolle Zusammenschau der unterschiedlichen Elemententheorien und schuf die aus viel­er­lei Betrachtungs­ebe­nen - insbesondere auch der zahlenmythologischen - stimmige und folge­richtige Urstoff­reihung, die bei hinreichender Kenntnis der antiken Götter­lehren, Glau­­bens­formen und Philosophien sehr gut nachvollziehbar ist.
 
1. Rune O / O-Rune.JPG Runenname: oðalan (ae. oeðel, „Heimatland") = Erbgrund, ERDE; 2. Ru­ne D/ Runenname: dagaz = Tagvater/Urgott mit der Doppelaxt = LUFT; 3. Rune Ng-Ing /  Runenname: ingwaz = Sonnen-/Fruchtbarkeitsgottheit = FEUER; 4. Rune L / Runenname: laguz = WASSER; 5. Rune M/ Runenname mannaz: Urmensch = ÄTHER.
 
  ERDE  
Die Menschenheimat Erde, „Mutter Erde", „die Urkuh", mithin auch das Element ERDE, an den Beginn zu stellen, entsprach allgemeinen Einsichten und mythischen Denkgewohnheiten, denn das gebärende mütterliche Prinzip wurde mit dem irdi­schen Lebensraum des Menschen gleichgesetzt. In ind. Mythologie gilt die Göttin Prakriti als Urmaterie. Auch der Grieche Hesiod verkündete in seiner Theogonie: „Erst wurde Chaos, später Gaia [Erde]“. Sie, die Erdmutter, gebiert in griech. Sa­genwelt erst den Himmelsgott Uranos. Der Tuisto, der zwie­fache Urschöpfergott der Germa­nen, galt nach Tacitus Bericht als „erdentsprossen“.
 
Natürlich haben sich die in naturwissenschaftlichen Kategorien spekulierenden Philosophen bei dem Begriff „Element Erde", als dem ersten Seienden, keine grobe Erdscholle gedacht, sondern das feinste Partikel­chen, aus dem eine Erdscholle aufgebaut ist, also eine Art Ur­materie-Atom, welches sich die Pythagoreer und Platon als Sechs­flächner/Würfel vorstellten. Noch in den mittelalterlichen Lehren der Alchi­mie gilt die ERDE, geradeso wie schon bei Anaxi­menes und Xenophanes (griech. Philosophen 6./5. Jh.v.0), als das Symbol des Ur­stofflichen und erste Grundlage aller körperlichen Erscheinungen.
 
  LUFT
Dem indoarischen Mythos entsprechend, gebiert das weiblich-irdisch-geistige göt­tliche Ur-Es die männliche, spannungsgeladene Gotteskraft, den Demi­urg, den Wel­tenbaumeister/Schöpfergott („Zimmermann“/„Schmied“). Da Werdung ganz allein aus dem Spannungsfeld polar gegliederter Energien denkbar ist, musste dieser Urgott als Zweiwesiger (Tuisto) begriffen werden, dem das sinnfällige Attri­but Dop­pelaxt/Doppelhammer (der Zeugung und Vernichtung), beigegeben wurde. Die so verschieden erscheinenden Namen, die der indogerm. Himmelsgott bei den ver­zweigten Teilvölkerschaften trug - Dyaus-pita, Theos, Zeus, Jupiter/Diespiter, Ziu/Tiu/Tyr -, haben etwas mit dem Licht zu tun. Ihre Verwandtschaft mit lat. dies = „Tag", ist sprachwissenschaftlich erwiesen. Der ursprüngliche Inhalt des Namens muss nach seiner sprachlichen Beschaffenheit „der Aufleuchtende" sein, der das Auf­leuchten der Himmelsluft, des Tages und schließlich das glückliche Aufleuchten des Lebens überhaupt bewirkt.
 
Die Verknüpfung dieses Vatergottes mit dem Element LUFT dürfte sehr alt sein, denn Gott wurde zum einen vornehmlich in luftiger Himmelshöhe gedacht, und zum anderen ist die Atemluft leicht als Prinzip des Lebens, der Seele und des Geistes zu begreifen. Griechische Philosophen und Naturforscher des 6./5. Jh.v.0, wie Anaxi­menes, ldäus und Diogenes von Apollonia, lehrten, dass das Element LUFT der Schöpfergottheit zuzuordnen sei; Anaximenes sagte: „Die Luft steht dem Unkörper­lichen nahe". Diogenes identifizierte die LUFT unzweideutig mit dem Himmelsvater Zeus. Anaxagoras (500-428 v.0) stellte die Luft als männlich befruchtendes Prinzip der Erde, dem Weiblich-Aufnehmenden-Ernährenden, gegenüber. Von dem röm. Dichter Ennius (239-169 v.0) ist der Ausspruch erhalten: „Jupiter, den die Griechen Luft nennen. Er ist Wind und Wolken, dann Regen und aus Regen wird Kälte, dann Wind und aufs neue Luft". Doch selbst nach dem Aufkommen der Äther-Lehre, als man begann, diesen fünften Urstoff dem Zeus beizulegen, hatte sich im Grunde nicht viel geändert, war doch auch Platon der Meinung, Äther, das göttliche Belebungs­ele­ment, sei lediglich die reinste Form von LUFT (Tim. 58 d).
 
Aber schon die indoarischen Götterlehren des Veda setzten die LUFT - bzw. den Wind/ Weltatem Vayu - mit Gott Brahma in eins. Bei den Ägyptern war es Amon (Zeus), der die „Luft des Lebens" schenkte; man betete zu ihm: „Gib uns Luft". Der Gotteshauch, der Lebenswind, den der Mensch atmet, ist nach weit verbreiteter Ansicht „Wind", der „aus dem Munde Gottes" kommt. Diesem Gedanken folgend, kann das Element LUFT nicht anders als an zweiter Position placiert werden; denn erst nach der göttlichen Belebungshauch-Spende kann im mythischen Sinne die weitere Schöpfung erfolgen. Auch Aetius (6.Jh. n.0), ein Mediziner, der die alten Philosophen kommentierte, meinte (II 7,1), die Luft sei eine Ausdünstung der Erde ( >), indem deren gewaltsamere Zusammenziehung verdunstet. Die Annahme, dass die Luftatome in Oktaederform, also der Gestalt regulärer Acht­flächner gebildet seien, könnte mit der Bedeutung der Acht als Zahl des Him­mels­got­tes zusammenhängen.
 
   FEUER
Dass „Feuer aus Luft und Erde" entsteht, lehrt der natürliche Anschau­ungsunterricht, und ebenso spekulierte Aristoteles in seinen Schriften (z.B. De Gen. 331 b 24-26). Wer wie er (De Gen. 331 b 2-4) und sein Lehrer Platon (Tim. 49 b-c) in natur­wissen­schaftlicher Absicht die Elemente in Ringform anordnet, um einen wand­lungsfähigen Kreislauf der elementischen Aggregatzustände darlegen zu können, der muss das FEUER zwischen Luft und Erde stellen; wer hingegen nichts als eine Wer­de­stufung schildern will, vermag schwerlich einer anderen Ordnung zu folgen als je­ner des Runenschöpfers.
 
Auch die Stoiker lehrten, wie vor ihnen schon Anaximenes, aus der Luft würde sich bei weiterer Verdünnung derselben das elementare FEUER entzünden ( > ). Wer das Bild vor Augen hat, wie der Sturm in Brände schlägt, um die Flammen rasend anzu­fach­en, der versteht die Auffassung, dass Feuer ein Abkömmling der Luft sei.
 
Bereits in den Gestirnstheorien der Vorsokratiker spielte das Feuerelement die zen­trale Rolle. Geradeso verstand die Stoische Schule die Gestirne als Feuer­massen. Anaxagoras vermutete, Felsmassive könnten durch den Umschwung, einstmals von der Erde losgerissen, dabei in Glut versetzt und zu Sternen geworden sein. Ebenso meinte Xenophanes, Gestirne seien Ausdünstungen der Erde. Sonne und Sterne müs­sten aus Feueratomen bestehen, wie alles was Licht und Wärme ausstrahlt, so lautete die zwangsläufige Vermutung. So auch Aetius (II 7,1) mit der Ansicht, dass die Sonne und die Milchstraße Ausatmungen des Feuers seien. Aus beiden, Luft und Feuer ( > ), sei der Mond (L) gemischt. Naheliegend ist, dass die Sonne als Kind/Sohn (Sonne und Sohn gehören gleichem Wortstamm an) des Himmels-/Luft­gottes (und der Erdmutter) begriffen wurde. Ohne Himmelsfeuer/Son­nenlicht und -wärme entsteht keine irdische Fruchtbarkeit; deshalb ist die runo­logische Einordnung des germanischen Sonnenfeuer-/Vegetationsgottes Ingo-Frō auf 3. Werdestufe als personifiziertes Feuer-Element, im Rahmen der natürlichen und naturmythologischen Denkgesetze, absolut richtig. Die Plazierung des FEUERS darf in einer derartigen Elementenreihung nicht anders erfolgen. So beschrieb schon Anaximander (griech. Naturforscher/Philosoph 610-546 v.0) den Abtrennungsverlauf aus dem „bewegten Urstoff" des „unendlichen Prinzips": „Es sonderte sich die Erde, die Luft und der Feuer­kreis ab" ( > > ). Zur runischen Ursachen-Folge, dass dem Tag/Luft-Kom­plex der Sonnen/Feuer-Komplex nachgeordnet ist, erscheint auch ein Satz des Pythagoreers Em­pedokles (492-430 n.0) sehr bezeichnend: „Die Sonne bewirkt nicht den Tag, sondern der Tag bewirkt die Sonne" ( > ). Da in allen indogerm. Ge­stirnsentstehungsfolgen die Sonne dem Mond vorangestellt wird und die Sonne dem Feuer, der Mond aber dem Wasser entspricht, ist auch die runische Folge festgelegt: Schon Rigveda-Vers 10.190,3 sagt: „der Schöpfer schuf Sonne und Mond“; die Völuspa 5,1 bestätigt: „Die Sonne von Süden, gesellt sich dem Monde [...] nicht wusste die Sonne wo sie Woh­nung hatte, der Mond wusste nicht welche Macht er hatte“ ( > ).
Die pythagoreische und platonische Schule meinte, das Feueratom müsse die Ge­stalt des Tetraeders, also einer dreiwandigen Pyramide haben. Die ideale 3-Zahl harmoniert in besonderem Maße mit dem Feuerelement, dem noch in der mittel­alterlichen Alchimie nachgesagt wurde, es repräsentiere das Reich des Geistigen und des Lebens.
 
  WASSER
Dem Feuer folgt in runischer Elementenfolge das WASSER. Dies ist wenig ver­wun­derlich, sagt doch schon der Veda (Chāndogya-Up. 6. 2,3) von der Werdegeschichte: „Da erschuf es die Glut [...] Da erschuf sie die Wasser. Wenn daher irgendein Mensch irgendwo Schmerz empfindet oder schwitzt, ent­stehen da gerade aus der Glut heraus Wasser [-tropfen von Schweiß oder Tränen].“ Auch der Grieche Anaxi­menes gab die Stufen, welche der Stoff bei seiner Verwand­lung durchlaufe, so an: Durch Verdünnung werde die Luft zu Feuer, durch Verdich­tung zuerst zu Wind, wie­ter zu Gewölk, hierauf zu Wasser. Heraklit (griech. Philo­soph um 500 v.0) beschrieb seine Theorie, das Weltleben bestehe aus fortwäh­renden Wandlungsprozessen der Stoffe nach unten in die Verdichtung und wieder nach oben in die Verfeinerung. Un­ter dem „Weg nach unten" verstand er Übergänge der Feuersubstanzen zu Wasser, schließlich Wasser zu Erde. Beide Prozesse - jener der Erstarrung des Feuers zu Was­ser und Erde und jener der rückläufigen Wieder­entfachung - würden überall auf der Welt in ewigem Wandel auftreten. Die Stoiker verstanden es in ihren Betrach­tungen über die Urstoffwandlungen nicht anders, näm­lich dass Feuer zu Wasser und dieses wieder zu Feuer werden könne. „Alle können ineinander übergehen", glaubte Aristoteles (De Gen. 332 b 14-30). Empe­dokles for­mulierte ganz konkret: „Das Meer ist eine durch Sonnenhitze hervorgerufene Aus­schwitzung der Erde". Hieraus wird ersicht­lich, dass die Urstoff-Folge „Feuer-Was­ser" im Denken der Alten ihren festen Platz besaß.
 
Wo sich Urmaterieteilchen zur lkosaederform, also regelmäßigen Zwanzigflächnern, zusammenstellten, ist Wasserzustand vorhanden, so spekulierte Platon. Noch in der Alchimie des Mittelalters galt WASSER als Symbol des Bindegliedes zwischen Stoff und Geist.
 
  ÄTHER
Die Elemententheorie der antiken Philosophen ging seit Platon davon aus, dass den vier irdisch-stofflichen Elementen Erde, Wasser, Luft, Feuer eine fünfte, rein geistige Substanz, der Lichtäther, „das fünfte Seiende" (quinta essentia), gegenüber­zustellen sei. Der ÄTHER galt dem Aristoteles und seiner Schule als Stoff der Welt­seele; er wurde als „das Wirkende", von den 4 Elementen als „den Erleidenden" ab­gegrenzt. Aristoteles behauptete, dass der ÄTHER von der Gottheit selbst „berührt" wird, so wie die in einem Samen schlummernde Keimkraft von der Frühlingssonne; in sol­chem Sinne reagiere der ÄTHER auf die göttliche Notwendigkeit; er sei der alleini­ge Ursprung aller Bewegung (Met. Kap. 2). Diejenigen, die in ihm das Element des Zeus sahen, für sie war es die kosmische Belebungs- und Wirkkraft, der göttlicher Geist, die Weltvernunft und schließlich die Summe aller Seelen, die Weltseele.
 
Die pythagoreischen sowie die neuplatonischen Schulen des 3./4. Jh.n.0 lehrten, die Ätheratome hätten die Gestalt eines Dodekaeders, den Jamblichos „Kugel aus zwölf Fünfecken" nannte. Folgerichtig mutet der Gedanke an, die gesamte Welt in kugel­för­­miger Dodekaedergestalt (mit 60 Ecken) derart zu begreifen: Gott konstruierte das Dodekaeder und beschrieb nachher die kosmische Kugel darum.
 
Eine gottähnliche oder gottgleiche Seele rechnete man allein dem Menschen zu, er nur galt der rein theoretischen Betrachtung fähig, seine geistigen Aktivitäten gleichen qualitativ dem göttlichen „Denken des Denkens" - so meinte Aristoteles. Der Mensch wurde als Herr und Meister über die 4 Elemente erkannt. Er ist aber nach allge­mein­er Einsicht, doppelten Ursprungs und somit zwiefacher Natur; seinen Leib hat er aus der weniger guten sterblichen Materie, und seine ewige Seele mit der Geisteskraft ist vom „Guten Gott". Aus dieser Sicht gleicht der „Mikrokosmos" Mensch der Gesamt­welt, dem „Makrokosmos". Der Mensch ist gemischt aus den stofflichen Elementen Erde, Luft, Feuer, Wasser - aber ihm ist das geistige Wesen der Ätherseele dazuge­geben. Der eine Teil seiner Beschaffenheit (sein „höheres Ich") zieht ihn hinauf, sei­ne materiellen Anteile aber ziehen ihn hinab. Insbesondere die iranisch geprägte Gno­sis identifizierte die Weltseele mit der Idee des Urmenschen. Die Schulen des Valentinos (Theosoph 1./2. Jh. n.0) der Manichäer, der Mandäer u.a. lehrten, die Weltseele bzw. der Ur­mensch sei freiwillig in die Materie hinabgestiegen und versuche sich nun wieder von der Last des Fleisches zu befreien. Er ist im Persischen der Erneuerer der Welt, Trä­ger der Gottesbotschaft und Gotteskraft, der Erlöser für das ganze Menschen­ge­schlecht und zugleich der Erlöste selbst. Er ist Gott und zugleich der ideelle Ver­treter aller Seelen; er ist die große Seele, die Weltseele. Diese Grundan­schau­ung, dass der Urmensch die Seelengesamtheit repräsentiert, die er erlösen soll, ist für den Gnos­tizismus im allgemeinen typisch und von prinzipieller Bedeutung, denn der gan­ze Er­löserglaube (auch der christliche) wurde darauf aufgebaut.
 
Es zeigen sich schlüssige Beweise dafür, dass das ODING als Zeugnis einer germa­ni­schen Gnosis angesehen werden darf. Sein Schöpfer erwählte den Begriff „man­naz/mannus", und die damit verbundene Idee des Urmenschen (der Weltseele) an einzig richtiger Runenstelle. Wer auf fünfter Werdestufe den Urmenschen folgen lassen will, richtiger gesagt, muss (!), da 5 die Menschenzahl ist, der musste ebenso zwanghaft auf vorausgegangener Position das Wasserelement erscheinen lassen. Der Satz des Thales (griech. Philosoph um 600 v.0): „Das Meer ist die Mutter und Wiege alles Lebendigen", behielt bis heute uneingeschränkt seine Gültigkeit. Auch Anaximander lehrte ausdrücklich den Meeresursprung aller Organismen; der Mensch ist dabei eingeschlossen. Die altarioindische Weisheit drückte diese Erkenntnis nicht viel anders aus als die spätheidnisch-germanische. Der Veda sagt: „Das Universum [brahman] war anfangs Geist [atman] in Gestalt eines Menschen; dieser zog aus den Wassern den Urmenschen [purusha]." Und die Edda (Völ. 17) sagt: „Es kamen zum Meeresstrand drei Asen [Gottheiten in menschlicher Gestalt], da fanden sie kraftlos Askr und Embla [das Urmenschenpaar]."
 
Die leibliche Wesenheit des Menschen ist aus dem Wasser, seine geistige aber aus dem ÄTHER, der Weltseele. Einen Fingerzeig auf das eigentliche Verständnis des germanischen Urmenschennamens mannaz/mannus schenkt uns die Wurzelbe­deutung des Wortes „man" (ahd. mano u. manin, also Mensch/Mann u. Menschin/­Frau), welche in allen indogerm. Sprachen auf „denken / geistig erregt sein" bezogen ist. Ihr darüber hinausgehender, auf die Weltseele bezogener Tiefsinn ver­mittelt die eranische bzw. manichäische Religion, in ihnen wurde von dem „mana" d.h. der „Se­ele" und „manuahmed" d.h. „Weltgeist/Weltseele", gesprochen. Im Ario­indischen ist die Seele, „atman" mit „brahman", der Gottheit, identisch.
 
Es ist mit diesen Darlegungen deutlich geworden, dass jener Geist, der das ODING erklügelte, eine aussagestarke Urstoffreihung, unter Berücksichtigung der mit ihr har­monierenden Zahlenmystik, schuf. Wie unbedingt richtig ihm diese Regel erschei­nen musste, geht noch einmal verstärkt aus dem folgenden hervor: Die 5-Zahl galt der An­tike auch als „Ehezahl", also der ermöglichten Verbindung von Geist und Stoff. Zum Zahlenwert des Urmenschen/Mannaz (der 5) addieren sich die „hinabzieh­en­den" Ur­stoffe: ( Erde 1) + ( Wasser 4) = ( Urmensch 5, als fleischlich-stoffliches Wesen), ebenso wie die „hinaufziehenden" Urstoffe: ( Luft 2) + ( Feuer 3) = ( Ur-mensch 5, als Seelen-/Ätherwesen); denn dem allgemeinem Verständnis zufolge galt ÄTHER als eine Art Feuer-Luft; Cicero drückte es so aus: „Die Seele ist ein feu­riger Hauch". (Disput. Tuscul. I 42)
 
Die pythagoreischen sowie platonisch-aristotelischen Schulen lehrten, die Ät­her­ato­me hätten die Gestalt eines Dodekaeders, den Jamlichos (Neuplatoniker ca. 250-325 n.0) „Kugel aus 12 Fünfecken" nannte. Einleuchtend ist der platonische Gedanke, auch dem gesamten Kosmos Dodekaedergestalt zuzumessen, ihn also als Hohlkugel mit 60 Winkeln zu verbildlichen. In gleichem zahlenmystischen Sinne verbindet die Man­naz-/Äther-/Weltseelen-Rune (als unverkennbares Hexagramm-Bildkürzel) die Se­elenzahl 5 mit dem Sechsstern, dem Mikro-/Makrokosmos-Symbol.
 
Der ODING-Schöp­fer stellte also eine ganz vernünftige Elementenreihe auf, die sich im Rahmen der Schulen seiner Zeit bewegte: Die Folge Erde-Luft findet sich bei Okkelos, Alex­ander, Xenokrates und Philolaos, die Folge Luft-Feuer bei Jamblichos, die Folge Feuer-Was­­ser wieder bei Okkelos, Alexander, Xenokrates, Philolaos und die Folge Wasser-Äther bei Aetios. Der neuplatonische Interpret Simplikios (1. Hälf­te 6. Jh.n.0) schreibt in seinem Physikkommentar (157, 25ff), eine der wichtigsten Quellen zur frühgriech. Wissenschaft: „Einmal wächst alles zusammen, um ein allei­niges Eines zu sein aus Mehreren, das andere Mal entwickelt es sich zu Verschie­denem, dass Mehreres ist aus Einem: Feuer und Wasser und Erde und Luft uner­messliche Höhe...“ Die beiden Gegensatzpaare sind so auch in runischen Folgen genannt: > und  > . Doch die kosmogonische Runenfolge könnte noch wei­ter­ge­hend unschwer aus gnostisch-hermetischen Zeugnissen herausgelesen werden. Der griech. Zauberpapyros P-XIII (aus 346 n.0) enthält eine Schöpfungs­ge­schichte, die sich im Runenreihenbeginn erkennbar wie­derfindet: „Gott lachte siebenmal, beim ersten Lachen entstand Phos [Glanz] und schied das All. Und er ward Gott über das Weltall und das Feuer. Er lachte zum zweitenmal: da war alles Wasser. [...] Doch als er zum drittenmal lachen wollte, erschien durch Grimm des Gottes der Geist, der ein Herz hielt. Er wurde genannt Hermes durch den alles verdolmetscht ward. Er steht über dem Verstand; durch ihn wurde das All ver­waltet. Zum viertenmal lachte der Gott, und die Zeugung erschien, welche die Aus­saat von allem hielt, durch die alles gezeugt ward. Er lachte zum fünftenmal und wurde traurig beim Lachen, und die Moira erschien, die eine Waage hielt und so andeutete, in ihr sei die Gerechtigkeit. Hermes aber wetteiferte mir ihr und sprach: ,In mir ist die Gerechtigkeit‘ Und als sie stritten, sprach der Gott: ,Aus beiden wird die Gerechtigkeit erscheinen, aber alles in der Welt wird unter dir [Moira] stehn!‘ Und als erste erhielt sie das Zepter der Welt. [...] Er lachte zum sechstenmal und freute sich sehr. Da erschien Kairos, ein Szepter haltend, Herrschaft andeutend; und er gab dem erstschaffenden Gott das Szepter, und der nahm‘s und sprach: ,Du sollst, umgeben von der Glorie des Lichtgottes, nächst mir sein, [...] Und als er sich die Glorie des Lichtgottes umgetan, zeigte sich die Sonnenscheibe [...]. Da sprach der Gott zur Königin: ,Du sollst, umgeben mit dem Schimmer des Lichtgottes, nächst ihm sein, das All umfassend. Wachsen wirst du durch den Lichtgott, von ihmempfan­gend, und wirst wieder abnehmen durch ihn. Mit dir wird alles wachsen und ab­nehmen.‘ Aber der große wunderbare Namen lautet, 36 Buchstaben. Er lachte zum siebtenmal, schwer aufatmend, und da entstand Psyche, und alles kam in Bewe­gung. Der Gott aber sprach: ,Alles wirst du bewegen, und alles wird sich freuen, wenn Hermes dich geleitet..' Als der Gott das gesprochen, wurde al­les bewegt und mit Lebenshauch erfüllt, unaufhaltsam. Als der Gott das sah, schnal­zte er, und alles erschrak; denn durch das Schnalzen erschien der gewappnete Schrecken....“
 
Dieses mythische, auf uns dunkel und streckenweise albern wirkende hermetische Traktat, führt recht genau die Genesis der Runefolge auf: Urgöttliche Wesenheit (O-Rune.JPG) - Tagesglanz () - Feuer () - Wasser () - Urmensch/Hermes/Logos () - Lebens­aussaat () - Schicksals­mutter (O-Rune.JPG) - Licht­gott () - Sonne () - Königin (), am Ende erscheint der Schrecken (). Damit zeigt sich, dass über bestimmt viele unterschied­liche Betrachtungen der einzelnen Schulen hinweg, ein neupythagoreischer oder hermetischer Grundkonsens anzunehmen ist, den wir in der Runenreihung vor uns haben.
 
 1. Erde O-Rune.JPG - 2. Luft - 3. Feuer - 4. Wasser -  5. Äther
 
 
Verwendete Literatur
2  Eduard Zeller, Grundriss der Geschichte der griech. Philosophie, 1886
3  Eva Sachs, Die fünf platonischen Körper, 1917
4  Paul Gohlke, Die Entstehung der aristotelischen Prinzipienlehre, 1954
5  Gustav Adolf Seeck, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles, 1964
6  Kurt Rudolph (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus, 1975
 
Lat. paganus, ahd. heidano, mhd. heide/heiden, altn. heiðingjar, engl. heath/heathen.