Copyright Ⓒ Gerhard Hess / 07.12.2013
DIE RUNEN VON RÜGEN
Reiseeindrücke und „wendisch-wandalische“ Rätselfrüchte einer Rügenfahrt
Ein unendlicher Himmel, blau wie Eisvogelgefieder, breitet sich über dem Vilter Bodden. Ich stehe am Bug der Schaproder Fähre, die mich von Rügen hinüber nach Hiddensee bringen soll - dorthin, wo nach Sturmfluten der Jahre 1871-73 im Ufersand der wunderbare vielteilige Wikinger-Goldschmuck aus dem 11. Jh. gefunden wurde. Schneidend kalt sind die Windböen die an diesem Märzmorgen an den Ohrenklappen meiner Fuchspelzmütze zerren. In der Fahrrinne dümpeln großflächige Eisschollen, dazwischen tummeln sich schwarzgrüne Kormorane, Blesshühnerschwärme schwirren durcheinander, und die Wildentenrotte flattert aufgeregt einen Strich weit dahin. Etwas großes Dunkles scheint jäh aus strahlender Höhe herabzufallen, wir schauen gebannt. Der Seeadler hat einen Erpel geschlagen und hebt sich mit seiner Beute im Fang wieder hinauf und davon. Unbeeindruckt scheinen die unzähligen Flotten der Singschwäne, die leuchtend weiß im Glanz der Ostseesonne schaukeln. Ich blinzele hinein in die grenzenlose Helligkeit und sinne weit zurück ins Vergangene. Bilder der lebendig gebliebenen germanisch-deutschen Geschichte stehen in meiner Seele auf und verschwimmen mit heutigem Erleben. Ich höre Schiffsborde aneinander schlagen, Eichenkiele über die Sandufer knirschen, Kommandorufe aus rauen Männerkehlen, ich sehe schimmernde Brünnen, breite Streitäxte und blankgeschliffene Eisenklingen blitzen. Kühne Herren streiten um holde Jungfrauen, um Länder und Schätze. Hiddensee (dän. Hidinsö, „Hedinsinsel“) gibt sich als jener legendäre Kampfplatz zu erkennen, von dem die Gudrunsage berichtet. Der wackere Rugierfürst Hagen schlug sich hier mit Hedin, dem Herrn des Hedelingenlandes und Vater der schönen, unbeirrbar treuen Gudrun, die dem Tugendideal der germanischen Frau ein unsterbliches Denkmal setzte. Und auch der Schwan, der alte nordische Götterbote, hat im Gudrunlied seinen Platz, er überbringt der Heldin die erlösende Kunde, dass ihre Zeit der Versuchungen und der Schmach ein baldiges Ende haben werde. 1)
Im ursprünglichsten germanischen Kernland befinden wir uns. Aus der ältesten mittelsteinzeitlichen Kultur des nordeuropäischen Tieflandes, der Maglemose-Kultur (um 9.000 bis 6.500 v.0) -, und den Küstenseejägern der Ertebølle-Kultur (um 5.100 bis 4.100 v.0) erwuchsen die Gemeinschaften der indogermanischen Mutterzivilisation der Trichterbecherleute 2), die für ihre Sippentoten die beeindruckenden Großsteingräber erbauten. Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts gab es etwa 300 dieser Anlagen auf Rügen; heute sind es nurmehr 54. Man wusste schon das Kupfer zu verhütten, aus dem feine Spiralen, Schmuckröllchen und schöne doppelschneidige Äxte geformt wurden. Als das Verständnis zur Verarbeitung der härteren Bronze gediehen war, schufen einheimische Handwerker und Künstler des südlichen Ostseeraumes auch aus diesem Material bewundernswerte Erzeugnisse. Zahlreiche frühbronzezeitliche Hügelgräber bezeugen eine unverändert dichte urgermanische Besiedelung. Das eindrucksvollste dieser Bauwerke ist der 10 Meter hohe, 40 Meter im Durchmesser und 150 Meter im Umfang betragende Dobberworth bei Sagard. Für den gesamten südskandinavischen und norddeutschen Lebensraum gilt die gleiche historische Feststellung: Aus der steinkupferzeitlichen Trichterbecherkultur und den bronzezeitlichen schnurkeramischen Bootsaxtleuten erwuchsen die autochthonen mittel-/nordeuropäischen germanischen Stammesverbände.
Ihre Verschiebungen und gegenseitigen Überlagerungen sind größtenteils archäologisch erfassbar oder blieben geschichtlich überliefert. Die frühgermanischen Ureinwohner Pommerns, Westpreußens, der Danziger Bucht, bis zum oberen Weichsellauf, dem westlichen Kleinpolen, dem Ostabhang der Karpaten bis zum Schwarzen Meer waren die Bastarner (die Gemischten) und ihre Waffengefährten, die Skiren (die Reinen). Sie kämpften im 2. sowie 1. Jh. v.0 gegen die Römer, wurden erst 280 n.0 von den anrückenden Goten bezwungen, so dass sich etliche in Thrakien ansiedeln ließen. Die als großleibig und hellhaarig beschriebenen Pruzzen (Pruzi / Prutheni / Borussi / Prussia / Borussia), nach der Eigenbezeichnung Prūsai, waren baltische Stämme die zwischen den Flüssen Weichsel und Memel lebten. Tacitus, beschreibt sie in seiner „Germania“ als Ästier (Aestii) und erwähnt ihren Bernsteinhandel. Der röm. Schriftsteller Cassidor berichtet, dass die Ästier dem gotischen König „Theoderich der Große“ (451-526) wertvolle Bernsteingeschenke gesandt hätten. Sie anerkannten ihn folglich noch immer als ihren befreundeten Schutzherren. Die indogerm. Sprache dieser Stämme war mit dem Germanischen urverwandt, so lauteten die Worte für „Vater, Mutter, Bruder“ z.B. auf pomesanisch tōwis, mōthe, brōte und auf samländisch tāws, mūti, brāti. Die Bezeichnung ihrer männlichen und weiblichen Priester war Waideler / Waidelotte / Waidelinnen / Waidelottinnen. Das altpruzzische Wort waidilis scheint „Weiser / Seher / Wissender“ gemeint zu haben. Nach den Berichten des altpreussischen Historikers Simon Grunau, sowie des Historikers Erasmus Stüler (Stella), der ein deutscher Arzt und Bürgermeister war, soll der erste König der Pruzzen ein Widowuto (germ. Waldgeist / -begeisterter) gewesen sein. Zahlreiche pruzzische Galinden sind mit den unternehmungslustigen Goten südostwärts bis in die Steppen des Pontischen Raumes gezogen. Teile der Goten verblieben im Ostseeküstenraum als Widivarier (Waldkrieger), und gingen auch unter dem Namen Gudden im 7. / 8. Jh. im befreundeten pruzzisch-baltischen Volk der Galinden auf. Die pruzzisch-germanischen Gemeinden wurden erst im 13. Jh. im Auftrag der Päpste durch den dt. Ritterorden - nach vielen vorausgegangenen ergebnislosen polnischen Eroberungsversuchen - gewaltsam christianisiert, unterworfen und mischten sich, nach Annahme der „Taufe“, harmonisch ins deutsche Volkstum ein.
Die aus dem südwestnorwegischen Rogaland stammenden Rugier (= Roggenesser) wohnten zum Beginn unserer Zeitrechnung vom Weichselmündungsgebiet bis Rügen. König Ermanarich leitete bis 375 - nahezu ein Menschenalter hindurch - die Geschicke der Ostgoten. Unter ihm nahm das gotisch beherrschte Gebiet gewaltige Ausdehnungen an, es reichte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Viele Völker wurden unterworfen, die Jordanes in seiner Gotengeschichte namentlich aufführte. Er schrieb von diesem Gotenreich: „ ... es behauptete unbestritten so gewaltige Landflächen, so viele Meeresbuchten, so viele Flussläufe; unter seiner Faust lag oft der Vandale am Boden, standen [versklavte] Markomannen zum Verkauf, wurden die Häuptlinge der Quaden geknechtet.“ „Auch das Volk der Esten, die das ferne Gestade des germanischen Ozeans [Ostsee] bewohnen, unterwarf derselbe König durch seine Klugheit und Tapferkeit und herrschte über sämtliche Völkerschaften Skythiens und Germaniens wie über sein Eigentum.“ (Getica XVI89 ff) Durch willensstarkes Durchgreifen - denn anders war in das Durcheinander des Ostraumes keine Ordnung zu bringen - schufen die Goten ihren Herrenstaat (Wie ebenso die späteren nordgermanischen Waräger bzw. Rus / Russen). Eine Zeit des inneren Ausgleiches und des Zusammenwachsens blieb ihm aber nicht, weshalb er unter dem Ansturm hunnischer Reiterhorden und dem „Verrat“ der Gepiden zerbrach. Aus allem, was wir wissen, geht aber hervor, dass die Hunnen schlau genug waren, das Gotenreich nicht einfach aufzulösen, um einen rechtsfreien Zustand zu schaffen, vielmehr schlossen sie Unterwerfungsverträge, um rechtmäßige Erbfolgen anzutreten. Aus den Sklavenvölkern der Goten wurden - unter Einschluss eines Teiles der Goten - solche der neuen asiatischen Herren. Deshalb begannen später, nach Attilas Tod (453) dessen Söhne die unterworfenen Völker wie Sklaven unter sich verteilen zu wollen. Jordanus schreibt (Get. 268-272): „Gothos quasi desertores dominationis suae“. Walamer bestieg den Thron der Ostgoten und nahm als Verbündeter / Föderat des röm. Reiches seinen Sitz beim Plattensee / Pannonien ein, als Hunnenheere unter dem Attilasohn Dintzig von der Donaumündung aus versuchten, die „Goten wie entlaufene Sklaven zurückzuholen“. Walamer gelang es aber 454 ihren Angriff abzuwehren. Nach gänzlicher Zerschlagung der Hunnenmacht und Verjagung der Attilasöhne noch im gleichen Jahre durch den von Gepiden zusammengebrachten Germanenbund wird sich zunächst wenig verändert haben: Die Geschwistervölker der Goten und Gepiden dominierten die Länder Südrusslands und des Nordbalkans. Zwar erlagen auch die Sarmaten (472) der gotischen Kraft, doch verließ (489) die Hauptgruppe dieser stabilisierenden Ordnungsmacht den Großraum, um Italien zu erobern. Schließlich zerstörten Langobarden, zusammen mit den von ihnen selbst herbeigerufenen Awaren, das Gepidenreich (568), überließen jedoch schon im Jahr darauf die ungarische Tiefebene (Pannonien) den Awaren und zogen - in die Fußstapfen der Ostgoten tretend - nach Italien ab. Zurück blieben die vielen kleineren oder größeren, zumeist germanischen sogenannten Sclavenen (d.h. tributpflichtige „Sklavenvölker“), die jetzt ohne bindende, verbindende Oberhoheit waren. Dazu zählten Bastarnen, Skiren, Wandalen / Veneter / Lugier, Spori, Keltenreste, aber auch steppeniranische Gruppen wie Alanen, Anten, Skythen / Sarmaten, mit denen Ostgermanen jahrhundertelang in enger Symbiose gelebt hatten. Die Menschenreserven dieses germanischen Großraumes schienen unerschöpflich, aus ihm wurden immer wieder Sklavenmassen in die südlichen Stadtkulturen verbracht, wo ein unstillbarer Durst nach Menschenmaterial für die großen Fabrikationsanlagen und als Ruderknechte für die Flotten bestand. Aus den ostgermanischen Ländern bezogen die antiken Staaten hauptsächlich ihre so notwendigen Arbeitssklaven. Auch dieser Umstand kann die Sklaveni-Slawen-Benennung mit verursacht haben. „Denn“, so schrieb der Langobarde Paulus Diaconus (720-799), „je weiter der nördliche Himmelsstrich von der Hitze der Sonne entfernt ist und von Eis und Schnee kalt, desto gesünder ist er für die Körper der Menschen und begünstigt die Volksvermehrung; wie umgekehrt alles mittägliche Land, je näher es der Glut der Sonne liegt, deshalb immer voll Krankheiten und für die Hervorbringung von Menschen weniger geeignet ist; daher kommt es, dass so große Völkermassen unter der nördlichen Achse geboren werden, dass nicht mit Unrecht jener ganze Landstrich vom Don bis Sonnenuntergang mit dem allgemeinen Namen Germanien bezeichnet wird, wenn auch einzelne Gegenden wieder ihre besonderen Benennungen haben. Aus diesem volkreichen Germanien nun werden oftmals zahllose Scharen Gefangener fortgeführt und an die südlichen Völker verkauft; öfter sind auch viele Völkerschaften von da ausgezogen, eben weil das Land so viel Menschen hervorbringt, wie es kaum ernähren kann, und haben zwar auch Asien, vorzugsweise aber das anstoßende Europa heimgesucht...“. Im Bericht des jüdischen Sklavenhändlers Ibrahim ibn Jakub aus Tortosa / Spanien (des Jahres 965) über die Slawenländer, der sich in mehreren Handabschriften des arabischen Geographen Bekri erhalten hat, heißt es von der Handelsstadt Prag: „Zu ihr kommen aus der Stadt Krakau die Rus und die Slawen mit Waren, und es kommen zu ihnen aus den Ländern der Türken Muhammedaner, Juden und Türken gleichfalls mit Waren und gangbaren Münzen und führen von ihnen Sklaven, Zinn und verschiedene Felle aus.“ Sklaven nennt er an erster Stelle !
Geradeso wie ihre hunnischen Vorläufer waren die Awaren / Ungarn bis zur gewaltsamen Beendigung ihres Terrorregimes (796) keine landbestellenden bäuerlichen Siedler, sondern erstarkten durch unaufhörliche Raubzüge. Sie verursachten zwangsläufig Ausweichbewegungen des germanischen und gemischten Landvolkes (Sclavenen / Wenden) aus der Südostregion in südlichere und nord-nordwestliche Richtungen. Ein eigenständiges Volk des Namens Sclavi / Sclavenen / Slawen ist weder archäologisch noch aus den Historien herauslesbar - es hat wahrscheinlich nie existiert.
Dem irrtumsreichen Halbwissen griechischer Geschichtsschreibung, insbesondere den vielen von einander abweichenden Schreibweisen von Völkernamen, verdanken wir letztlich die Wenden- bzw. Slavenlegende, d.h. den Trugschluss, Wenden / Sclavenen / Slawen seien keine Ostgermanen, sondern gehörten einem neuen, bis dahin unbekannt gebliebenem Volkstum an. Den Griechen gelang es nie, das völkische Gefüge ihrer nördlichen Nachbarn zu durchschauen. Sie hielten die Ostgermanen deshalb für Skythen / Sarmaten, weil sie aus dem alten südrussischen Skythenland in die Mittelmeerwelt eindrangen. So heißt es z.B.: „Die Skythen aber, d.h. ein Teil der Goten, verwüsteten Kleinasien.“ (Scriptores Historiae Augustae XXII 6,1f). Tacitus (1. Jh. n.0) gestand es freimütig ein; er war sich nicht sicher, ob er Veneder und Peukiner (anderer Name der germ. Bastarner) zu Germanen oder Sarmaten rechnen müsse. Verständlich wird diese Unsicherheit vielleicht durch seinen Hinweis auf die Mischehen zwischen Sarmaten und Bastarnern. Sarmatische Sitten hätten auch auf die Veneder abgefärbt, doch: „Indessen rechnet man sie lieber zu den Germanen, da sie Häuser bauen, Schilde benützen und Freude an Marsch und Schnelllauf haben. Alle diese Dinge sind den Sarmaten fremd, die nur auf Wagen und mit Pferden leben.“ (Germ. Kap. 46) Die Geographie des Ptolemäus (170 n.0) beschrieb das Gebiet östlich der Weichsel als Sarmatia (Sarmatenland) und führt dann die darin wohnenden germanischen Völker auf: Venedae (Wandalen), Gythones (Goten), Phrugundiones, Burguntes, Burgiones (Burgunder), Ombrones (Ambronen), Baesternae (Bastarner). Westlich der Weichsel nennt er Silingae, Lugi-Diduni, Lugi-Buri, Lugi-Omani, also ebenso Silingische Wandalen (nach archäologischen Erkenntnissen eine germanisch-keltische Mischkultur) und die wandalischen Lugier. Jordanus erwähnt Vandalen gesondert von Venethi, oder Wenden die er den Sclaveni gleichstellt. (Getica 109ff) Da jedoch Plinius der Ältere, Tacitus und Ptolemäusim baltisch-ostpreußischen Gebiet und der Danziger Bucht das große Volk der Veneder / Venedi / Venedae erwähnen, kann es sich nur um die ursprünglich aus dem nordjütländischen Vendsyssel ausgewanderten Vandalen / Wandalen bzw. die hochmittelalterlichen Wenden handeln. 4)
Interessant ist im besprochenen Zusammenhang die Sage von der südpolnischen Prinzessin Wanda, die im 12/13. Jh. Wincenty Kadlubek (Bischof von Krakau) aufschrieb. Sie soll ums Jahr 700 Tochter oder Enkelin von Herzog Krak gewesen sein und über weites Land beim Flusse Wandalus geherrscht haben, wo alle dort wohnenden Menschen Wandalen genannt worden seien. Krak tötete mittels einer List den Drachen der auf dem Wawel-Hügel hauste. Wahrscheinlich handelt es sich um eine altheidnische Kultstätte an der Weichsel. Der Slawist A. Brückner („Archiv für slavische Philologie“, 1901, S. 224 ff) meinte aber, da die Polen keinerlei Traditionen aufweisen konnten, habe der Bischof die Mär frei erfunden. Ganz so frei scheint die Geschichte aber nicht erfunden zu sein. Zu beachten ist, dass der Herzognamen auch in nordischen Sagas bekannt ist. Rolf Krake (Hrólfr Kraki) war ein Sagenkönig der dänischen Frühzeit (6. Jh.) und spielt in mehreren Heldensagen des 12./13. Jh. eine Rolle. Der Beiname dän. krage meint einen Baumstamm, als Anspielung auf eine kräftige Männergestalt. Entweder ist also Krak ein nordgermanisch-wandalisches Wort und es könnte sein Träger, der Drachensieger, ein Wandale gewesen sein -, oder der Krakauer Bischof orientierte sich an skandinavischen Erzählungen. Im 9. Jh. kamen die dort lebenden heidnischen Wislanen unter Großmährische Oberhoheit, als der „Slawenapostel“ Method dem Wislanenfürsten das Christentum aufdrängte. Nach kurzer Unabhängigkeit wurde das Gebiet im späten 10. Jh. von den Polanen erobert, die seit 966 Katholiken geworden waren. Fest steht jedenfalls, dass diese Volksgruppen, die man Sclavenen / Sclaveni / Sclavi, Slawen oder Wenden nannte, im allgemeinen äußeren Erscheinungsbild von dem der Germanen kaum abgewichen sind. Etliche „gemeinslawische“ Worte sind germanischen Ursprunges, sogar die für „Brot“, „Stall“, „Helm“ usw.. In den „altslawischen“ Gräbern (Körperbestattungen waren seit etwa dem 10 Jh. üblich), finden sich lupenreine germanische Skelette. Vom Elbe-Saale-Gebiet bis nach Weißrussland herrscht die nordeuropäische Menschengestalt vor. Selbst ein slawophiles Tendenzwerk aus der sowjetischen Besatzungszeit Mitteldeutschlands, welches die anstehenden Probleme mit keinem Wort anspricht, kann nicht umhin zuzugestehen: „Der am häufigsten vertretene robuste schmalgesichtige und langschädelige Typus von hoher Gestalt nähert sich am ehesten der klassischen Vorstellung des nordeuropäischen Typus.“ (S. 56) oder: „Unverkennbar ist, dass westslawische Gruppen in zahlreichen Merkmalen germanischen ähnlich waren.“ (S. 65) 5) Und auch zeitgenössische bildhafte Darstellungen kennen keine Unterscheidungsmerkmale zwischen slawischem, sächsischem oder fränkischem Volk. Diese osteuropäisch-indogermanischen Spori, zusammen mit dem verbliebenen Nord-/Ostgermanen und einem sehr geringen Anteil ostischen, tartarisch-awarisch-iranischen Mischvolkes, stellten in den folgenden Jahrhunderten die Masse der Bevölkerung zwischen Elbe, Oder und Weichsel, welche man in Folge der dargelegten Tradition seit dem ersten Jh. v.0 Wandalen / Wenden nannte.
Ein grundsätzlicher germanisch-„slawischer“ Gegensatz hätte sich unter diesen Voraussetzungen keinesfalls entwickeln dürfen, vielmehr wurde ein solcher erst künstlich geschaffen durch die von Rom und Byzanz betriebene Kirchenpolitik und deren willkürlichen bzw. rein zufälligen Grenzziehungen. Bis zur Elbe reichte das karolingische Reich, das sich in geistlichen Belangen unter die Oberhoheit Kirchenroms beugte und östlich davon versuchte, Kirchenbyzanz‘ Einfluss zu gewinnen. Ostrom entsandte im 9. Jh. zwei Mönche aus Saloniki namens Kyrill (geb. 826) und Method (geb. 815) nach Böhmen und Mähren, um die dortigen Völker zum oströmischen Christentum zu verführen. Sie verbreiteten eine Missions-Sprache und -Schrift, die künstlich geschaffene Glagoliza (nach einem Dialekt aus der Umgebung Salonikis) mit einem aus der griechischen Minuskel entwickelten kyrillischen Buchstabensystem. Jene kirchlichen Phantasieprodukte wurden Grundlage des mittel-/osteuropäischen Sprachwesens, welches die germanischen Idiome zu verdrängen begann. Auf diese Weise wurde weitgehend gleiches links- und rechtselbisches Volk unterschiedlich beeinflusst und letztlich sogar gegeneinander gehetzt - auch eines der vielen mörderischen Geschenke des kirchenchristlichen Wahnwirkens. 6)
In den lateinisch geschriebenen mittelalterlichen Urkunden des Frankenreiches werden die aus christlicher Sicht „heidnischen Bewohner“ ostwärts von Saale und Elbe, die Nachfahren der alteingesessenen germanischen Sueben, Semnonen, Burgunder, Heruler, Wandalen mit zugezogenen und eingegliederten Spori als „sclavi“ (Sklaven) bezeichnet. Einige Stammesnamen dieser „sclavi“, welche nach der später üblich gewordenen Fehldeutung als Slawen betrachtet wurden, lauteten: Obotriten (Wismarer Bucht bis südl. Schweriner Seen), Warnen / Warnawer (Mecklenburg), Sorben (südl. Saale, Elbe, Spree), Wagrier (Ostholstein), Wilzen / Lutizen (ostwärts von Elbe und Elde) und Wenden (als Oberbegriff für alle). Der oben erwähnte jüdische Händler Ibrahim Ibn Jakub rechnete den Obotriten Nakon (germ. „der Nackte“) zu den mächtigsten sclavischen / heidnischen Fürsten. Er residierte in der Burg Mecklenburg (germ. „Großburg“). Seine bedeutendsten Nachfolger waren Mitte des 11. Jh. Gottschalk, schließlich um und nach 1100 Heinrich von Lübeck. Die jahrhundertelangen Unterwerfungsversuche dieser germanischen Bevölkerungen und Gebiete, besonders energisch betrieben durch Heinrich I. (919 - 936) und Otto d. Grosse (936 - 973), verfolgten den Zweck zu christianisieren, oder besser gesagt, der romchristlichen Kaiserdoktrin und der Tiara des Papstes neue Untertanen zu schaffen. Ein Aufruf von 1108 zur Kreuzfahrt gegen die im alten Glauben verharrenden deutschen Nachbarn und Volksgeschwister lautete: „Die Heiden sind die schlechtesten Menschen, aber ihr Land ist gut an Fleisch, an Honig, an Mehl, an Vögeln. Wenn es gut bebaut wird, ist es mit solch einem Überfluss aller Erträge gesegnet, dass kein Land mit ihm verglichen werden kann.“ (Urkundenbuch Magdeburgs Nr. 193, S. 51) Auch 1147 wurde ein „Wenden-Kreuzzug“ durchgeführt. Die Chronisten berichten immer wieder von der Zerstörung „heidnischer Heiligtümer“, von der Niederwerfung eines fremden Volkstums mit fremder Sprache berichten sie nichts. Der Holsteiner Helmold von Bosau (1125 - 1179) beschrieb als Augenzeuge die 1156 erfolgte „Missionsreise“ des Oldenburger Bischofs durch die heidnischen Restgebiete Ostholsteins: „Als wir zu jenem Hain und Hort der Unheiligkeit kamen, rief uns der Bischof auf, tüchtig zuzupacken und das Heiligtum zu zerstören. Er sprang auch selbst vom Pferde und zerschlug mit seinem Stabe die prächtig verzierten Vorderseiten der Tore; wir drangen in den Hof ein, häuften alle Zäune desselben um jene heiligen Bäume herum auf, warfen Feuer in den Holzstapel und machten ihn zum Scheiterhaufen...“ (Helm. I/84) Dass es manchem Zeitgenossen sehr wohl möglich war, die mit Bereicherungsgier gepaarten weltanschaulich-religiösen Verblendungen zu erkennen, beweist ein besinnlicher Satz, den Helmold einem der Täter in den Mund legte: „Ist es nicht unser Land, das wir verheeren, und unser Volk, das wir bekämpfen ? Warum benehmen wir uns denn wie unsere eigenen Feinde und vernichten unsere eigenen Einkünfte ?“ (Helm. I/68) Die schlimme Fähigkeit der Germanen, dass sie zuweilen die fürchterlichsten Feinde ihres eigenen Blutes werden können, nutzten viele fremde Gewaltherrscher, von den römischen Kaisern und Päpsten bis zu Napoleon und den blinden Mächtigen des 20. Jahrhunderts.
Der Historiker Helmold stellt in seiner „Cronica Sclavorum“ die in seiner Zeit ringsum der Ostsee wohnenden Germanenstämme vor: Wandali, Winuli, Heneti, Waggrier, Heruler / Hevelder, Gothi, Suedi, Suenones (Schweden). Völker mit unstrittig germanischen Stammesnamen wurden also im 12. Jh. nur deshalb „Sclavi“ benannt, weil es sich um heidnische Gemeinschaften handelte - gleichgültig welcher Art Volk sie angehörten. Der Name bezog sich, dem dünkelhaften Bewusstsein christlicher Chronisten entsprechend, auf die nichtchristlichen „Götzen-Sklaven“. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bezeichnung „Sclavenen / Sklaven“ scheint von Prokop (Mitte 6. Jh.) sehr wohl als Volkstumsbegriff verstanden worden zu sein, er wurde im Hochmittelalter jedoch allgemein zur Benennung nichtromchristlicher Nord-, Mittel- und Osteuropäer verwendet und dann wieder in der norddeutschen Umlautungsform „Slawe“ („Lewer dot as Slaw“) seit Mitte des 18. Jh. zur Volksbezeichnung der verschiedenen germanisch-sporischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas herangezogen. Noch bis zum Beginn der Neuzeit blieben diese Zusammenhänge bekannt, schrieb doch Helmold von Bosau in Kap. 1,2 seiner „Chronica Sclavorum“: „Wo nun Polen endet, die große Provinz der Sclavi, gelangt man zu der sehr ausgedehnten Provinz der von altersher genannten Wandalen, jetzt aber Winithi oder Winuli genannten Sclavi.“ Der Historiker Albert(us) Krantz(ius), in seiner 1575 gedruckten „Vandalia od. Beschreibung Wendischer Geschichte“, erklärte noch bündiger: „Sclavoni [Slawen] sind heute die, welche vorher Vandalen hießen.“ Auch das Geschichtswerk von E.J. de Westphalen „Monumenta inedita“ (1739) zeigt im lateinische Urtext (von Marschalk, 1460 - 1525) das Wort „Vandali“, welches in der deutschen Übersetzung (von Schede, 1615 - 1641) zu „Wenden“ umgeformt wurde.
Für die ununterbrochene germanische Weiterbesiedelung des Elbe-Oder-Weichsel-Raumes spricht eine Fülle von Beweisen. Unstrittig ist, dass seit mindestens dem 1. Jh. diese Länder nach dem ostgermanischen Hauptvolk benannt wurden. Vom Begriff der Wandalen leiten sich die sclavischen bzw. heidnischen Wenden ebenso ab wie die Benennungen: Wendische Städte, für die mit Lübeck eng verbundenen Hansestädte (Lüneburg, Hamburg, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald) - das Wendland (ein Teil des Regierungsbezirks Lüneburg) - die wendische Sprache (eine angeblich sclavenische /slawische Mundart), die Windischen (Slowenen), die windische Sprache (slowenische Sprache), die Windische Mark usw. In den mittelalterlichen deutschen Städten wohnten zuweilen geschlossene wendische, also ostdeutsch-germanische Bevölkerungsteile, so kam es zu solchen Namensgebungen wie: Wendisches Viertel, Windische Gasse, Windisches Tor, Wendenfriedhof, oder Wendische Kirche -, nach Übertritt zum Katholizismus und eigener Sakralbauerrichtung.
Auf der Weltkarte des Ptolemäos (170 n.0) erscheint der Rugiername zweimal an der pommerschen Küste: „Rougikleia“ und „Rougion“. Noch der Historiker Beda Venerabilis nennt in der „Angelsächsischen Kirchengeschichte" um 703 die Rügenbewohner Rugini. Adam von Bremen, um 1075, und Helmold von Bosau, etwa 100 Jahre später, bezeichneten die sklavischen / heidnischen Bewohner Rügens nicht mehr Rugini / Rugier, aber lautlich nahestend als Ranen oder Runen. Ihre obersten Gottheiten seien Rugivit und Swantewit gewesen, welche insbesondere in der Tempelburg Arkon Verehrung fanden. Das heutige „Kap Arkona“, auf hoher Kreideküste an der Nordspitze Rügens gelegen, muss eine uralte germanische Weihestätte sein (gotisch airkna = „heilig, rein“). Rugivit ist sprachlich ohne weiteres als „Heilswesen der Rugier“ zu erkennen. Swantewit aber sei der höchste Gott aller Ostseewenden gewesen; wie ist sein Name zu deuten ? Es scheint sich offensichtlich um eine rein germanische Wortbildung zu handeln, heißt doch Gudruns Tochter in der Thidreksaga Swanwit. Wer wie ich auf der Überfahrt nach Hiddensee die Singschwäne und Höckerschwäne zu Tausenden auf den eisfreien Wasserflächen im Bodden versammelt sah, der ahnt - dem „schwant“, warum der oberste Gott Swantewit (= „Schwanenwesen / -geist“ aus germ. swan = „Schwan“ und wi[h]t / wet = „Wesen, Ding, Person“) heißen musste. Wie eng der Schwan mit der lichterfüllten nordischen Gottesidee verbunden ist, wird durch eine Menge Zeugnisse im Fundmaterial deutlich, von der bronzezeitlichen Schwanensymbolik (z.B. auf Kultgefäß von Ronninge, Amt Odense / Dänemark), insbesondere jener der Urnenfelder-Bewegung, bis hin zu den griechischen Mythen um den Lichtgott Apollon. Von ihm wurde erzählt, er führe jährlich zur Winterzeit in seine nordische Urheimat zurück - ins Hyperboräerland zu seinen Singschwänen. So wird verständlich, dass der Volksglauben auf Rügen die Neugeborenen nicht vom Storch, sondern vom Schwan den Müttern bringen lässt - sie werden „Schwanskinder“, also Kinder des Swantewit, des lichten Schwanengeistes, genannt.
Hätte ein wirklicher Bevölkerungsaustausch stattgefunden - also eine restlose oder überwiegende Abwanderung germanischer Bauern bei nachfolgender Einwanderung fremdvölkischer Menschen, fänden wir keine Erklärung für die dargelegten Namenskontinuitäten. Auch hätten diese neuen slawischen Gruppen, wären es Zuwanderer gewesen, Wandersagen mitbringen und im Gedächtnis behalten müssen; solche sind aber nicht vorhanden. Auch die Siedlungsforschung erbringt keine anderslautenden Aufschlüsse. Die angeblichen sklavischen / slawischen Rundlingsdörfer sind ebenso in Südschweden zu finden. Bei einigen handelt es sich nachweislich um mittelalterliche deutsche Gründungen. Demnach dürfen sie keinesfalls als Beweise für nichtgermanische Dorfbauweisen betrachtet werden. Auch die Flur- und Ortsnamensforschung vermag keine gegenteiligen Erkenntnisse vorzulegen. Die sogenannten typisch „slawischen“ Endungen wie -ow, -itz, -nitz, -witz erweisen sich als stehengebliebene germanische Formen, die die im fränkischen Reich einsetzende Sprachentwicklung zum Althochdeutschen nicht mitvollzogen: -owe, -awa, -aw, -ouw, -ow = „Wasser, Bach, Wiesengrund, Aue“ wurden zu -au; aus -itz, -itze, -witz wurden -isse, -esse, -wiss, -wiese; aus -lin wurde -lein usw. Ortsnamensendungen auf -itzsch, -ütz, -itz, -es, -eci, -witz, -zig sind ebenso urdeutsch-germanische Wortbildungen wie -ici, -isti, -ico, -ing, -ingen. Wie auch am Schreibweisenwechsel des Lübecker Flusses Wakenitz ersichtlich, sind Suffixvariationen möglich wie: -nitz, -nis, -ize, -es, -iß, selbst -neß und -näs (germ. näs = „Landzunge, -spitze). So war beispielsweise der Name der heutigen Gemeinde Schlotzau im Lkr. Fulda im Jahre 1174 noch Slacesowa / Schlatzowa, i.J. 1494 aber Slatzauw / Stotzauw. Der Chronist Helmhold v. Bosau erwähnte das Flüsschen Mitte 12. Jh. in seiner „Chronica Slavorum“ unter den Bezeichnungen wochniza oder wochenice. Denkbar wäre eine Begriffsentwicklung aus ahd. Adj. „wakar / wachar“ = „wach, wachsam, munter“, zu Substantiv wakarnissi mit Mundartabschliff wakenitz = „Wachheit“ -; möglicherweise auch aus einer Begriffsbildung für „Netzwache (am Fluss)“ aus ahd. nezzi = Netz. Leider ist die wandalische Sprache verloren gegangen -; wir können nur raten. Doch um solche Lautverformungen zu erklären, müssen nicht historisch unerklärbare fremdsprachliche Zuwanderer bemüht werden. Angelsächsisch heißt -wïć, -wik = „Wohnung, Haus, Dorf, Stadt“ bzw. „Bucht“; -wicu, -wice (ahd. wïsć) = „Wiese, Marschland“; gotisch wisan = „sein, bleiben, wohnen“ und wizon = „gut leben, sich‘s gut sein lassen“, könnten bei Endsilbenabschliff zu -wis, -wiz = „-bleibe“ (im Sinne von „gute Bleibe, Heimat“) werden; siehe auch ahd. wisr, wist-s = „Wesen, Aufenthalt, Dasein“. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Konsonantenschwankungen von k/c zu s/z und von t zu s möglich sind. Wenn sich noch im gefestigten Dänischen unserer Tage ohne ersichtlichen Grund die Aussprache von „Tivoli“ zu „Zivoli“ verschieben kann - was geschehen ist, um wie viel mehr vermochten sich im Mittelalter Lautgruppen in manchen Regionen aufgrund unerklärbarer Anstöße zu verändern. Da wir über Wortformen und Lautungen der wandalischen / wendischen Sprache ebenso wenig unterrichtet sind wie über das Idiom der Spori-Sclaveni vor Verbreitung der glagolitischen Kirchensprache durch byzantinische Mönche, müssen andere germanische Mundarten zu Vergleich und Erklärung herangezogen werden. 6)
Dass es zu keiner Zeit einen echten Bruch in der jahrtausendealten mittel-ostdeutschen Besiedlungsgeschichte gegeben haben kann, erweist sich beispielsweise für Brandenburg, südlich Potsdam, wo am Flüsschen Priegnitz bei Seddin ein mächtiges bronzezeitliches Fürstengrab liegt - umgeben von den Ortschaften Beelitz, Klaistow, Geltow, Niedow. Die Bevölkerung erzählte sich, unter dem 10 Meter hohen Grabhügel liege der alte König „Hinz“ in dreifachem Sarg, was sich während der Ausgrabung im Jahr 1889 aufs genaueste bestätigte. In der erdüberwölbten Steinkammer stand ein großes Tongefäß mit Deckel, dieses enthielt ein weiteres Bronzegefäß als „dritten Sarg“, in dem der eigentliche Leichenbrandrest lag. Über mindestens dreitausend Jahre hinweg muss diese Kunde von Generation zu Generation weitergetragen worden sein.
Nun befand ich mich also zum frostigen März 1996 im Land der germanischen Rugier, ihrer mittelalterlichen Nachfahren, der Rugini / Runen / Ranen, der heutigen Rüganer. Wir landeten an im Hafen von Neuendorf auf Hiddensee. „Dat söte Länneken“ - wie die Insel liebevoll von ihren Einwohnern genannt wird - lädt mit kleinen weißen, sauberen Häusern zum Verweilen ein. Ich wusste von den Hiddenseer Hausmarken aus Urväterzeiten - Zeichen, um das Eigentum zu markieren - an Häusern, Booten, Wagen, Werkzeugen und am Vieh. Jetzt sehe ich sie mit eigenen Augen; jeder kennt sie auf der Insel und beachtet ihre Bedeutung - die „Runen von Rügen“. Auch in Vitt/e, dem schönsten Ort Rügens, an der Tromper Wiek gelegen, finden sich an den alten eingeschossigen Zweifluchtbauten mit den Krüppelwalmdächern die runischen Hausmarken. Sie entsprechen in ihrer Art zuweilen so genau den altgermanischen Schriftzeichen, dass ihre Entstehung kaum anders als durch eine germanische Besiedelungskontinuität erklärt werden kann.
Abb. a) b)
Ein wandalischer Runenstein von Prillwitz (Ortsteil der Gemeinde Hohenzieritz im Lkr. Mecklenburgische Seenplatte) zeigt die Algiz-Rune, ebenso die kleine bronze- oder früheisenzeitliche Gussform von Dargun (Lkr. Mecklenburg. Seenplatte, grenzt im Norden an Lkr. Vorpommern-Rügen) welche die Rundform der Algiz-Rune führt (Abb. b). Beachtenswert ist der bronzezeitliche wandalisch-priesterliche Stirnreif von Roga (Gemeinde Datzetal, bei Friedland, östliches Mecklenburg) aus dünnem Bronzeblech (Abb. a), der in seinem Stil völlig den skandinavisch-bronzezeitlichen Rasiermessergravuren entspricht. Er zeigt allegorische Mythentiere, 8 Sonnenkreis-Darstellungen (mit Gesamtreif = 9) und 9 Reigentänzer. („Jahresbericht des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde…“, Hrsg. A. Bartsch, 7. Jg., 1842, S. 37 ff )
So wenig wie die Runen von Rügen durch eine angeblich erfolgte fremdvölkisch-slawische Einwanderung plausibel zu machen wären, so wenig würde damit das auf der Insel im bäuerlichen Bereich einstmals vorherrschende dreischiffige germanisch-altsächsische Ständerhaus seine Erklärung finden. Und woher sollten die Sagen vom Wilden Jäger, dem Wode, nach Rügen gelangt sein, wenn nicht durch unsere dortigen heidnisch-germanischen Vorfahren ?! Im Kreis Grevesmühlen und bei Demmin, südwestlich von Rügen - zwischen Wismar und Lübeck - liegen die Dörfer Wotenitz und Wotenick, die ihre Namen unzweifelhaft nach der germanischen Geist-Seelengottheit Wotan erhielten. Zu Wotenick (09.09.1171 urkundlich erwähnt als Wotencha) in der Mecklenburgischen Seenplatte, wurde 1859 der sog. „Wendenkirchhof“ aufgegraben. Es fand sich auf diesem Begräbnisplatzes eines der reichsten eisenzeitlichen Gräber, welche in Norddeutschland aufgedeckt wurden. In Dänemark hat man Funde gemacht, welche gleich gearbeitete Schmucksachen enthalten und mit röm. Altertümern zusammen lagen, welche in eine frühe Zeit zurückreichen. Hieraus schlossen dänische Forscher, wie Jens J. Asmussen Worsaae, dass sie noch aus der Zeit des frühen röm. Kaiserreiches stammen. Die Urne mit den aufstrebenden Algiz-Runen (Abb. c) bezeugt zur Genüge ihr wandalisch -„wendisches“ Herkommen. Alle diese germanischen Grabanlagen kommen aus Belegungszeiten von ca. 200 v.0 bis 200 n.0. Ebenso fanden sich beim mecklenburgischen Camin, nahe Wittenburg (erstmalig 1194 urkundlich erwähnt), auf dem sog. „Wendenkirchhof“ Geräte aus der älteren röm. Kaiserzeit, u.a. eine Urne mit -Runen und -Runen-Friese. (Abb. d)
Abb. c) d)
Die Rügen‘sche Fürstenburg mit Wallanlage, der jetzige Stadtberg der heutigen Kreisstadt Bergen, der Rugard (germ. Ru-gard, „Rugierheim/-hof“), kann seine germanische Herkunft sprachlich ebenfalls nicht verleugnen. Aber sprechen die alten germanischen Heilszeichen, die dem Mythos zufolge vom Geist- und Seelengott Wotan/Wodin/Odin erfundenen Runen, nicht selbst sehr deutlich für eine bruchlose germanische Besiedelung bis in die Neuzeit ?! In Ralswiek, im Süden der Insel, am Großen Jasmunder Bodden, wurde ein Knochenstück mit kurzer, wahrscheinlich wikingerzeitlichen Runeninschrift gefunden, die einen Eigennamen darstellen dürfte. (Abb. e)
Abb. e)
Ich hatte mich kundig gemacht und wusste, dass die einzigen noch vorhandenen romanischen Sakralgebäude aus den ersten Jahrzehnten nach der gewaltsamen Christianisierung Rügens (Ende 12. Jh.) die Backsteinkirchen von Bergen, Altenkirchen und Schaprode sind.
Abb. f
Sofort nach der Rückfahrt von Hiddenee besuchte und untersuchte ich diese Gebäude. Wie freudig erregt war ich, als ich die südöstliche äußere Chorwand des Schaproder Kirchleins umschritt und dort die uralten Backsteine übersät mit runischen Hausmarken fand (Abb. f). Darunter steht des öfteren ein Zeichen des gemeingermanischen Buchstabensystems () vom Beginn unserer Zeitrechnung, welches seit etwa dem 8. Jh. als Buchstabe, also zu Schreibzwecken, nicht mehr in Gebrauch war, aber in Brauchtum und Heraldik unter dem Namen „Wolfsangel“ im ganzen deutschen Volksraum weite Verbreitung fand. Auch auf der südlichen Außenwand des Chorraumes der Kirche zu Altenkirchen, die später den Anbau einer kleinen Waffenkammer erhielt, finden sich die germanischen Heilszeichen. Auf Anhieb sind neben vielen Kombinationen diese Grundbuchstaben sichtbar: , auch die jüngere k-Rune und die gestürzte z-Rune. Die Frage stellt sich: Warum ritzten die Familien ihre runischen Haus- und Sippenzeichen in die Kirchenwände hinein ? Wollten sie damit auch die Weihekraft der ihnen aufgezwungenen, neuen Religion auf ihre alten eingeborenen Symbole herabbitten ? Auffällig ist, dass die in die Kirchenwände eingeritzten Ideogramme bedeutend ursprünglicher, also runengleicher sind als die heute noch in Neuendorf und Vitte gebräuchlichen bzw. offiziell vorgestellten (Abb. g - Hausmarken von Hiddensee siehe Kasten).
Abb. g)
Der in der Altenkirchner Waffenkammer eingemauerte Reliefstein zeigt einen schnauzbärtigen Mann, der ein großes Trinkhorn hält. Er ist nach seiner Beschaffenheit eine schlichte Volkskunstarbeit. Der Stein wurde 1585 von dem aus Schwaben stammenden Rostocker Gelehrten David Kochhafe (Chytraeus) folgendermaßen erwähnt: „In Altenkirchen, einem sehr alten Dorfe, wurde mir in der Vorhalle zum Gotteshause ein in Stein gemeißeltes Bild des rügenschen Götzen Swantevit gezeigt, den die Rügener jetzt Witold nennen.“ Doch um den traditionell als mehrköpfige Gottesmetapher dargestellten Swantevit kann es sich hierbei nur schwerlich handeln. Auch der Bericht des gelehrten Johann Lübbeke aus Treptow an der Rega (1585) nannte ihn mit gleichem Wort, das in germanischen Sagen als Riesenname vorkommt: Witold („older Wit“). Die Wittower (Bewohner des Nordteiles Rügens) sahen in ihm ihren Schutzpatron. Während der Betrachtung des schnauzbärtigen Witold, fiel mir das Bogenfeld über dem Westportal der Altstadtkirche „St. Martin“ (12.Jh.) in Pforzheim ein, welche etwa zeitgleich mit der Rügener Kirche zu Altenkirchen erichtet wurde. Dort hatte ich eine Männerdarstellung mit dem gleichen langen Hängebart gesehen. Der „Heilige Martin“ war bekanntlich eine kirchenchristliche Austauschfigur für den germanischen Geistgott Wodan/Odin, der in altnordischen Schriften Langbarðr, Siðskeggr, Siðgrani, also „Langbart“ genannt und auf etlichen völkerwanderungszeitlichen germanischen Amuletten („Goldbrakteaten“) und auf allemannischen Goldblattkreuzen mit solchem weit herabhängenden Schnauzer dargestellt wurde.
Abb. h) i)
Lange stand ich gedankenverloren vor dem Witoldstein (siehe Abb. h) und dachte darüber nach, warum die Gestalt auf einem fischartigen Gebilde mit einer größeren und einer kleineren Rückenflosse zu stehen scheint -, bis mich meine kleine ungeduldige Tochter packte und aus der engen Kammer hinauszuziehen versuchte. Warum war das bisher keinem Betrachter aufgefallen ? Wenn er dem Landvolk wirklich als Schutzpatron gegolten hat, bedeuten dann Horn und Fisch, er möge allzeit für reichlichen Suff und Fraß sorgen ? Auch der sächsische Crodo stand auf einem Fisch, er soll, laut Konrad Bothos Sassenchronik („Cronecken der Sassen“) von 1492, als Gottesstandbild im Jahre 780 auf der Harzburg vom Frankenkönig Karl niedergeworfen worden sein. Die Chronik enthält eine Darstellung des Crodo (wahrscheinlich Name des zu „Crote / Kröte / bzw. Kröterich“ verunstalteten germ. Gottes „Od / Odo / Oto“) als Mann, der auf einem großen Fisch steht und in der Rechten ein Gefäß mit Blumen, in der Linken ein emporgerichtetes Rad hält. Auch der keltische Taranis, Gott des Himmels, des Wetters und des Donners, führte ein Rad-Attribut. Wie gering ist unser Wissen, wie gern würden wir mehr erfahren. Wie viele bleischwere Nächte der Trugschlüsse, der Täuschungen, der ideologisch bedingten bewussten klerikalen und politischen Lügen haben sich über die Vergangenheit unseres deutschgermanischen und unseres brüderlichen Urslaven-Volkes herabgesenkt ?! Ist es uns vergönnt, sie jemals wieder soweit aufzuhellen, damit wir eines Tages an unsere Kinder ein echteres Stücklein Wahrheit über unser Herkommen weiterreichen können ? --- Erst jetzt, im März 2014, fand ich die Bestätigung meiner damaligen Vermutung: Die perfekte Verbindung zum alten Od-Gott Wodan beweist der St. Oswald-Stein in der Oswaldkirche (Oswaldkirk) in England / Yorkshire (North). Oswald ist sogar dem Namen nach unverkennbar eine Ersatzfigur für den germanischen Asen Wodan/Odin (Abb. i). Die Behauptung, es handele sich beim Witold-Stein um ein (fremd-)slawisches Relikt ist damit widerlegt. Der angelsächische Oswald-Odin hat den gleichen erwähnten Hängebart, nur dass er nicht auf einem Fisch steht - als Sinnbild der Nahrungsspende - sondern einen Brotlaib unter dem Arm trägt.
Situation um 350 n.0 (Balten im Erscheinungsbild u. Sprache eng verwandt mit Germanen)
Quellenangaben:
1 Kudrun, Gudrun, 1958, Friedr. Neumann/Karl Simrock (Schwan als schöner, wilder, schwimmender Vogel umschrieben)
2 La culture des gobelets en entonnoir en Europe centrale, in: Études Indo-Eurogéennes 10/1991, Carl-Heinz Boettcher
3 Germanische Stammeskunde, 1956, Ernst Schwarz
4 Das alte Germanien, Nachrichten der Griechen und Römer Bd. I, 1929
5 Die Slawen in Deutschland, Herausgeber Joachim Herrmann, 1985
6 Slawentheorie und Kolonisationshypothese, 1964, Prof. Dr. Walther Steller