Die Nibelungen
DAS NIBELUNGENLIED
Das Nibelungenlied gilt als das Meisterwerk der deutschen Heldendichtung und wird als das germanische Nationalepos schlechthin verstanden. Seine drei wichtigsten Handschriften sind jeweils in 39 Abschnitte („Aventiuren“, d.h. Abenteuer) gegliedert. Es handelt sich um die Ausführungen A und C aus Hohenems, jetzt München und Donaueschingen, mit 2312 bzw. 2442 Strophen (QS 8 bzw. 12); B in St.-Gallen ist die volkstümlichste und der Urschrift am nächsten stehende; sie führt mit 2379 Strophen, über die Quersummenbildung, die Meisterzahl 21 des Allgeistes vor.
Das Werk ist ersichtlich das Produkt eines deutschen Dichters des 12. Jh., das aus verschiedenen Einzelzügen, heidnischen Mythen, Heldenliedern und Sagenkreisen der Völkerwanderungszeit, umgearbeitet wurde, um ursprünglich nicht Zusammengehörendes miteinander zu verschmelzen und dem literarischen Zeitgeschmack anzupassen; so beginnt es: „Uns ist in alten maeren wunders vil geseit“. Zu diesem Zweck schuf der Autor ein spannungsgeladenes Epos das die altbekannten Erzählungen in den Rahmen des Zeitlichen und konkreter bekannter Örtlichkeiten stellte. Im Kern aber handelt es sich um nichts anderes, als den altreligiösen Zentralmythos. Auch der Geist des neu geschaffenen Dramas blieb der Tradition heidnischen Weltverständnisses treu, kein christlicher Gott greift ins Geschehen ein, der Mensch gerät in gewaltige Konflikte und ausweglose Verstrickungen, in die ihn unbekannte, unkontrollierbare Mächte - Seelenmächte - führen. Es gibt keine Gnade, keine Erlösung, keine Hoffnung; im ewigen unauflösbaren Zyklus von Macht, Demütigung und Rache verläuft die Handlung bis zum tragischen Ende. Hier findet jene heroische heidnische Grundhaltung Ausdruck, die sich keiner Täuschung darüber hingibt, dass kraft eines geradezu kosmischen Gesetzes alles, was besteht, wieder zugrunde gehen muss, das Edle Hochgeborene und Erhabe nicht weniger als das Gemeine und Niedere. Der uralte Jahreszeitenmythos musste dafür die Hauptvorlage abgegeben haben. Er spricht vom ewig kreisenden Ablauf der Natur, von Werden, Wandlung, Vergehen, Wiederauferstehen und Wiedervergehen. In Siegfrieds Gestalt verkörpert sich, nur allzu ersichtlich, der solare Heilbringer, der Sonnensohn als Überwinder des dämonischen Winterdrachens -, während sich sein dioskurischer Gegenspieler in der Kontrastfigur des Hagen offenbart. Der Zankapfel zwischen dem Hellen und dem Dunklen, zwischen „Gut“ und „Böse“, ist die Erdenfrau mit der Süßigkeit ihrer Frucht im weitesten Sinne, den irdisch-materiellen Gütern, eben dem „Schatz“.
Geradezu exemplarisch beginnt die altn. Völsungensaga mit der bruchstückhaften Erinnerung an diesen ganz urtümlichen Einzelzug, dem der zwei Gegenkräfte des Urjahres-Pendelmythos: Es wird erzählt von einem Mann der Sigi hieß, von dem gesagt worden sei, er wäre Odins Sohn. Ein anderer Mann wird in der Geschichte erwähnt, der Skadi hieß, mächtig stark und tüchtig war. Sigi war aber der Vornehmere, „wie die Menschen in jener Zeit sagten“. Sigi („Sieger“) und Skadi („Schädiger“) werden einander gegenübergestellt. In diesen Beiden spiegeln sich letztlich alle Gegenspieler der dann abrollenden Saga, und darüber hinaus aller andern Geschichten, wie die Helgi-Lieder oder das Nibelungenepos, die den Urmythos in ein neuzeitliches wikingerhaftes oder fränkisch-höfisches Gepräge kleiden.
Nibelungenhort
Um den „Schatz der Nibelungen“ kreist das Epos vom Anfang bis zum Schluss. Mit ihm ist die Möglichkeit der Weltherrschaft verbunden. Im Lied heißt es (19. Av.): „Es war darin nichts andres als Edelgestein und Gold; Und hätte man die Welt gekauft mit diesem Sold, Er wäre nicht gemindert um eine Mark an Wert. Wahrlich, nicht ohne Grund hatte Hagen ihn begehrt. - Und da lag unter allem, von Gold ein Wünschelrütlein; Wer dieses hätt’ erkundet, vermochte Meister sein Auf ganzer weiter Erde, wohl über jeden Mann...“ (vgl. Das Nibelungenlied, Karl Simrock, Herausg. Georg Holz, 1909, S. 160) Gold gilt auch im Älteren Atli-Liede als die Kraft, die alles bewegt, die alles tötet; dort (Strophe 27) wird der Hort „valbaugar“, also „Totenringe“, genannt, Gering übersetzte „Unheilsringe“. Schon der sterbende Fafnir-Drache weissagte seinem Töter Sigurd den Untergang durch das „klingende Gold und die glutroten Ringe“ (Fafnir-Lied 9 + 20). Ja, schon im ältesten Eddalied, der Völuspa (21), wird gesagt, dass durch das Gold das Böse in die Welt gekommen sei: „Þat man hon fólkvíg fyrst í heimi, er Gullveig geirom studdi...“ - „Da wurde erstmals Volkskrieg in der Welt, als Goldgier [eigentl. Goldrausch] sich auf Speere stützte...“. (studdi, von stuðill „Stütze“, kann gleichzeitig „stechen“ bedeuten).
Die Erinnerung an jene Zeit des Umbruchs als erstmals Geld unter die Menschen kam, mag für die Germanen dauerhaft lebendig geblieben sein -, als Anfang allen Übels, wodurch Habgier, Neid und blutige Zwietracht erwuchsen. In Tacitus Germania, Kap. 5 heißt es von unseren Vorfahren, dass ihnen das röm. Geldwesen bekannt war und sie auch im Grenzverkehr davon Gebrauch machten, doch „Silber und Gold haben ihnen die Götter - ich weiß nicht, ob aus Huld oder Zorn - versagt. [...] Besitz und Verwendung dieser Metalle reizt sie nicht sonderlich. Man kann beobachten, dass bei ihnen Gefäße aus Silber, Geschenke, die ihre Gesandten und Fürsten erhalten haben, ebenso gering geachtet werden wie Tonkrüge...“ Das wird sich mit Zunahme des röm. Geldumlaufs geändert haben. Im Golde waltet der böse Geist, ein verhängnisvoller Fluch, der nicht endende unheilige, mörderische Besitz- und Machtgier auslöst. Für den Weisen, den Schauenden ist das Gold-Geld im Grunde nur der Ausdruck für den ungeläuterten Menschen -, seines Ehrgeizes, Machtgelüstes, seiner Genussucht und Missgunst, all seines inneren Elends. Und dieses fluchbeladene Gold ist elbischen Herkommens, ist Produkt der unterirdischen, sonnen- und himmelsfernen dämonischen Mächte. Nur dieser Umstand vermochte seine verderbenbringende Wirkung zu erklären. Siegfried, der strahlende, sonnen-heldische Drachentöter, hatte ihn im Berg hausenden Unterweltmächten, dämonischen Zwergenbrüdern, den Söhnen des alten Nibelung, abgenommen. Er machte sich Land und Volk der Nibelungen untertan; zu dem sowohl zauberische Zwerge wie Riesen zählten, auch der zwergenhafte Alberich, von dem er die Tarnkappe oder Tarnhaut empfing. Im 11. Av. heißt es: „Den allergrößten Goldhort, den je ein Held gewann außer den früheren Eignern, besaß der kühne Mann, den vor einem Berge seine Hand gewann im Streit...“ Nach nordischer Tradition stammt der Schatz ursprünglich aus dem Reiche des Wasserdämons Andvari. Nach Siegfrieds Tod erbt ihn zunächst seine Witwe Kriemhild, doch Siegfrieds Mörder Hagen raubt ihn und versenkt ihn schließlich im Rhein, womit er der Unterwelt zurückgegeben wäre; doch Hagen hofft, sich seiner später wieder bedienen zu können. Mit der sinnbildlichen Wiederversenkung im Strom hätte sich der Kreislauf geschlossen. Aufs neue werden die Unterirdischen die Schätze der Erde zusammentragen, den Hort bilden, aufs neue kann im kommenden Frühling ein frischer Sonnen-Siegfried auferstehen, den dunklen Dämon besiegen und den Hort und die Braut gewinnen. Die Epos-Handschrift C gibt den Umfang des Schatzes an, von 432 Lastwagen Goldes wird gesprochen. Diese Zahl - Resultat aus 12x36 - bestätigt, dass mit dem „Schatz“ für die Wissenden ursprünglich die gesamte stoffliche Welt gemeint war; es handelt sich um eine Metapher für „irdischen Besitz“ schlechthin -, ist doch 12 die Allzahl, die runische Weltbaumziffer, und 36 die Kreiszahl, auch des Erdenrunds.
Die Quellen
Der Stoff des Liedes wanderte vom weiten Germanien über den Niederrhein nach Skandinavien, verband sich auch dort mit den ihm urverwandten heidnischen Göttermythen und wurde in veränderten, weiterentwickelten Werken des 13. Jh. nacherzählt: der poetischen Edda, der Völsungensaga, einer Kurzfassung in Snorri Sturlusons Skaldenbuch (Prosaedda); auch in die Thidrekssaga und nordische Balladendichtungen fand er Eingang. In altnordischen Quellen werden die Namensform Sigurd / Sivard anstatt Sifrid / Sigfrid / Seyfried Siegfried gebraucht, während aus dem Hagen / Hagin ein Hogne / Högni wurde. Die nordischen Liedersammler und Verfasser bekunden deutlich, dass es sich ursprünglich um „Erzählungen deutscher Männer“ handelte; so wird Sigurd im Kurzen Sigurd-Lied als „des Südens Held“ bezeichnet. Im Verzeichnis der Reisestationen des isländische Abt Nikulas von Thvera aus dem Jahre 1154 wird auf einen Ort zwischen Paderborn und Mainz hingewiesen: „und da liegt die Gnitaheide, auf der Sigurd den Fafnir tötete“. Man nimmt an, dass die Knetterheide bei Schötmar in Westfalen gemeint sein könnte.
Das Urlied erzählte offensichtlich, wie auch die Thidreksaga, dass Siegfried als Findelkind von einer Hindin gesäugt wurde, dann bei einem Schmiede im Walde aufwuchs, große Stärke gewann und deshalb von seinem Pflegevater in trügerischer Absicht zu einem Drachen gesandt wurde; diesen aber brachte der junge Held zur Strecke und erlangte durch das Drachenblut übernatürliche Fähigkeiten sowie Unverwundbarkeit. Ein Lied vom „Hürnen Seyfrid“ blieb in der Nürnberger Ausgabe vom Jahre 1530 unvollkommen erhalten. Der junge Held tötet den Lindwurm, rottet sogar eine ganze Drachenbrut aus, findet später des „Nyblings schatze“ und befreit nach neuerlichem Drachenkampf die Jungfrau aus der Gewalt des Ungeheuers.
In der Liederedda findet sich nach den Liedern mit vorwiegend mythologischem Inhalt eine Reihe von Heldengedichten, die mit den Helgi-Liedern beginnt und die Sigurd-Lieder folgen lässt. Die Themengruppen sind genealogisch verknüpft, indem Helgi und Sigurd zu Halbbrüdern erklärt werden. Die Sigurd-Lieder beginnen mit dem „Lied von Regin“. Sigurds Erzieher ist der kunstreiche, zwergenhafte Schmied Regin. Das Götterdreigestirn Odin, Hönir und Loki - welches nach der Völuspa auch das erste Menschenpaar erschuf - wandelten wieder auf Erden und gelangten zu einem Wasserfall, wo am Uferrand einer von Regins Brüdern, der in Fischottergestalt lebte, einen Lachs verzehrte. Loki warf ihn zu Tode und als seine Tat dem Vater des Getöteten, dem alten Zauberer Hreidmar, offenkundig wurde, musste er zur Buße den Otterbalg mit Gold ausfüllen und bedecken. Der nie verlegene Truggott schaffte es herbei, indem er den in Gestalt eines Lachses im Wasserfall hausenden Zwerg Andvari fing und zu zwingen vermochte, als Lösegeld all seine Schätze, dazu einen besonders kostbaren Ring, herauszugeben. Dieser Goldschatz wird im Regins-Lied (1) „Feuer der Flut“ geheißen. Schatz, mitsamt Ring, wurden aber vom zornigen unfreiwilligen Spender mit einem schweren Fluch belegt, dessen Macht sofort zu wirken begann: Die maßlose Gier, den gesamten Hort für sich allein behalten zu wollen, veranlasste Fafnir, Regins Bruder, den Vater zu töten. Um aber vor Regin und jeglicher Rache sicher zu sein, bewachte er von da ab in Gestalt eines Drachens seinen Schatz auf besagter Gnitaheide. Regin erhoffte in seinem kraftvollen Zögling Sigurd den Rächer und schmiedete zu diesem Zweck ein wunderbares Schwert für ihn. Im folgenden Fafnir-Lied wird dann die Tat der Drachentötung geschildert. Fafnir heißt „Umspanner“, daran ist schon erkennbar, dass es sich bei dem Drachen in der urmythischen Vorlage um ein kosmisches Ungeheuer, ähnlich der Mitgardschlange, handelte.
Drachenkampf und Jungfrauenerlösung
Schon in den ältesten Siegfriedsagen, dem „Hürnen Syfrid“, wie auch in der Thidrekssaga sind die beiden Schwerpunkte, Kampf mit dem Wurm und Erlösung der Jungfrau, eng verknüpft. Der Drachenbesiegung reiht sich folgerichtig die Befreiung der „Erdenfrau“ an. In der nordischen Erzählung wird sie als Walküre Sigrdrifa (Siegtreiberin) eingeführt, die - ähnlich wie im Dornröschenmärchen - mit dem Schlafdorn gestochen, auf dem Hindarfjall (Hirschkuhfelsen) liegt. Das gleiche Grundmotiv findet sich im eddischen Skirnir-Lied, wo der Sonnengott Freyr die schöne Erdenriesin Gerda erblickt, in unstillbare Liebe verfällt und sie in Gestalt seines Boten Skirnir („Strahlender“) umwirbt. Der Gottes Sehnsucht, wie auch die zu überwindenden Hindernisse bekundet der 7./8. Vers: „Inniger hat niemals seit Urzeit Tagen ein Mann ein Mädchen geliebt, doch von Asen und Alfen kein einziger will es, dass wir beide beisammen sei’n“. Sie liegt von einem Gehege und „zauberischer Lohe“ umschlossen; nur das sonnengöttliche Ross vermag das „rasende Feuer“ zu durchdringen und nur des Lichtgottes Schwert - „wenn ein furchtloser Held er führt“ - die feindlichen „kraftstrotzenden Thursen“ überwinden.
Im eddischen Sigrdrifa-Lied reitet nun Held Sigurd von der Gnitaheide nach Süden dem Frankenlande zu, als er auf dem Berge einen Feuerschein wahrnimmt, dort findet er die schlafende Frau innerhalb eines Schutzringes. Einige Quellen sprechen, wie im Skirnir-Lied, von einer Waberlohe, die rings um die Schlafende lodert; erst dem Mann, dem es gelänge, durch das brennende Feuer zu reiten, wolle und solle sie angehören. Diese kultische Örtlichkeit ist lokalisierbar: Im Nibelungenlied wie in der Völsungensaga heißt die auf dem Hirschkuhfelsen erweckte Walküre Brünhild bzw. Brynhild. Auf dem höchsten Taunusgipfel befindet sich ein bettähnlicher Felsen, der in einer Schrift des Jahres 1043 als „qui vulgo dicitur lectulus Brunihildae“ („der vom Volk Bett der Brunhild genannt wird“) bezeichnet wurde; aber auch schon 812 urkundlich nachweisbar ist und 1221 als Grenzmarke „Brünhildenstein“ bezeichnet wurde. Nachdem die Schlafende erwacht ist, dankt sie ihrem Erwecker durch Belehrungen in Form von runologischen und mythischen Weisheiten. Auch dieser Mythenzug folgt alten Anschauungsbildern: Die Frau ist es, die die Muttersprache vermittelt und den Mann in die Geheimnisse menschlichen Seins einweiht. Im eddischen Gripir-Lied 16/17 heißt es: „das wonnige Weib, erwacht vom Schlafe [...] Sie wird dich Recken Runen lehren, die sämtliche Menschen besitzen möchten [...] und die Gabe der Heilkunst - sei glücklich, Herrscher!“ Im Völsungenlied sagt Sigurd nach der Belehrung durch Brynhild: „Nimmer findet sich eine weisere Frau in der Welt, als du bist, lehre mich noch mehr klugen Rat! [...] Und das schwöre ich, dass ich dich zur Frau haben will, du bist nach meinem Herzen !“ Im gegenseitigen Einverständnis schwuren sich beide heilige Eide, sie geloben sich Liebe und Treue.
Siegfrieds Tod
Doch Siegfried / Sigurd gelangt auf seiner weiteren Südfahrt zu den Burgundern / Gjukungen und heiratet dort Kriemhild / Gudrun, nach Einnahme eines Vergessenheitstrankes. Aus seinem Wortbruch und der damit verbundenen Kränkung Brünhilds, erwächst alle folgende Not. Es bahn sich ein Eifersuchtsdrama an. Das beginnt mit der durch die rachedürstende Brünhild gewünschten Ermordung Siegfrieds, und endet mit dem Untergang derer die seine Tötung guthießen und ausführten. „Südlich vom Rheine war Sigurd gefallen“, heißt es im Bruchstück eines eddischen Sigurd-Liedes. Im Nibelungenlied ist Hagen der unholde Siegfriedmörder, in der Thidrekssaga wird ein anderer zum Täter, aber Högni sagt: „Wir haben ihn erschlagen“. Im Nibelungenlied wurde der arglose Siegfried waffenlos beim Trinken am Quell überrascht und von hinten zu Tode gespeert; den Sigurd meuchelten die Täter ebenso ahnungslos schlafend im Bette -, und von der nächsten nordischen Heldengestalt heißt es: „Helgi wurde nicht alt“, ihn ermordete Högnis Sohn mit Odins Ger vor dem Fesselhain, was wie die Erinnerung an ein rituelles Kultopfer klingt. Es heißt: „Er durchstach Helgi mit dem Ger“, und: „Es fiel heute morgen beim Fesselhain der Fürst, der war der Beste der Welt...“. (3. Helgi-Lied). Diese Todesarten erinnern an jene der eddischen Sonnengötter: Gott Ingwi-Freyr fällt im Kampf gegen den Feuerdämon Surtr (Vsp 53; Gylf 50) weil er ohne sein Schwert ist, und Balder wird das Opfer eines vermeintlich harmlosen Schießspieles (Vsp 31-33). Er setzt sich den Wurfgeschossen aus, weil er sich unverwundbar glauben darf, aber er wird waffenlos und vertrauensselig niedergestreckt vom Mistelpfeil des Hödur-Loki. Dass dieser Anschlag zur Sommersonnenwende gedacht war, also in kosmischer Lichtabstiegsphase, ist vielfach belegt. Selbst das späte Nibelungenlied hält diese heidnische Vorstellung in Erinnerung. Der Zeitpunkt jener Einladung, in deren Verlauf Siegfrieds Tötung geschieht, wird in 12. Av. genannt: „Sobald erst der Winter ein Ende hat genommen um diese Sonnenwende wollen sie Euch sehn“. Als er dann von Hagen gemeuchelt, sich in Schmerzen windet, legt ihm der Dichter Worte in den Mund, aus denen die ganz unzeitgemäß-unchristliche altheidnische Überzeugung hervorbricht (Av. 12): „Nimmer ward auf Erden ein schlimmerer Mord erdacht“, und weiter: „Der mörderische Tod mag euch wohl gereuen noch nach diesen Tagen. Glaubt mir das in Treuen, dass ihr euch selber habt erschlagen !“ Das Rad der kosmischen Kausalitäten wird sich weiterdrehen, der Tat folgt unweigerlich die Rache, und so fort. Nach dem alten Glauben wird das erbitterte Ringen zwischen den beiden grundgesetzten Mächten, zwischen Ober- und Unterwelt, zwischen Hell und Dunkel, Sommer und Winter niemals enden.
Das Eber-Motiv
Während der großen sommersonnwendlichen Jagd im Odenwald, unmittelbar vor Siegfrieds Ermordung, hebt das Epos hervor (Av. 16): „Einen großen Eber fand der Spürhund [...] Von dem zorn’gen Schweine ward der Held da angerannt [...] Da schlug es mit dem Schwerte Krimhildes Mann; es hätt’ ein anderer Jäger so leicht es nicht getan...“ Jener, den Sonnenhelden anrennende starke Eber ist ein bekanntes Motiv aus dem heidnischen Jahreskreislaufgötter- bzw. Adonis-Mythos. Griech.-röm. Sagen erzählten (Ovids Metamorphosen 10, 502-559; 708-739) von zwei Göttinnen die sich um die Gunst des schönen Jünglings Adonis (Ursprünglich Tammuz / Adonis oriental. Vegetationsgott, Sinnbild des Werdens und Vergehens in der Natur), dessen solare Züge unverkennbar sind, stritten. Da war einmal Aphrodite, die göttliche Patronin der Liebe, Schönheit und des Frühlings, ihre Gegenspielerin war Persephone, die Herrin der Schatten, Unterwelt und des Winters. Nach dem Schiedsspruch des Zeus sollte jede der beiden ein halbes Jahr das Recht auf Adonis bekommen. Dieser liebte die Freuden der Jagd, und während er durch den Wald streifte, wurde er durch den Angriff eines Ebers tödlich verwundet. Unter dieser Gestalt soll sich aber ein eifersüchtiger Gott verborgen haben, ob es Ares / Mars war? Auch im irischen Mythos wird der Held Diarmuid von seinem in einen Eber verwandelten Widersacher Finn mac Cool getötet. Das Klosterstift Kremsmünster in Oberösterreich, eine Gründung des letzten Agilolfingers Tassilo III. mit Weihedatum 777, soll der Legende nach an der Stelle stehen, an der ein wilder Keiler den Herzogssohn Gunther tötete. Es wird sich um eine bajuwarische bzw. allgemein kelt.-germ. Erzählung gehandelt haben, die in die Klostergründungslegende einbezogen wurde.
In der keltischen Welt war die Eberjagd nicht nur ein Hauptvergnügen der Kriegergesellschaft, die Tötung des Keilers galt „als heroisches Bravourstück, das zur Herrschaft legitimierte", sogar der röm. Kaiser Diokletian soll sich von einer Druidin weissagen haben lassen, dass er nur durch Tötung eines Ebers (nämlich, wie sich herausstellen sollte, des Prätorianerpräfekten Aper) die Herrschaft erringen werde. Für diese Haltung besitzen wir im gesamten keltischen Raum, auch boischen Siedlungsgebiet im Wiener Becken, das einstmals unter norisch-keltischem Einfluss stand, numismatische und archäologische Beweisstücke. Da wäre der kelto-iberische Bronzewagen von Merida in hallstattzeitlicher Tradition, der einen Reiter bei der Eberjagd zeigt. (nach H. Birkhan, Kelten. Bilder ihrer Kultur [1999] 330 Abb. 586) Um 45 v. 0 prägte der Boierfürst Biatec eine Didrachme mit gespeerten Keiler auf der Rückseite (Numismatisches Institut der Universität Wien); etwa ein Jahrhundert später ließ sich der boische Ritter Aptomar(us), Sohn des Ilo, an der südöstliche Stadtgrenze Wiens einen Grabstein setzen, dessen Relief ihn als großen Reiter auf der Eberjagd zeigt. Es scheint erschließbar, dass der zu überwindende Eber für die Kelten das Synonym für einen gegnerischen - also „bösen“ - Fürsten darstellte, dessen Überwindung zur Herrschaft legitimierte. (Helmut Birkhan, Kelten, 1997, S.739-744) Noch Cesare Ripa empfahl in seinem 1593 erschienenen Emblembuch „Iconologia" als Sinnbild des Winters die trauernde Liebesgöttin Venus (griech. Aphrodite / germ. Freija), die im Winter ihren in der Unterwelt bei Proserpina (griech. Persephone / germ. Hel) weilenden Geliebten Adonis vermisst: „Winter - Inverno [...] Man male eine Frau, mit langem (schwarzem) Mantel bekleidet, das Haupt bedeckt, traurig anzusehen; [...] in den Augen habe sie Tränen. [...] Man füge ihr zu Füssen ein Wildschwein hinzu." (Ausgabe von 1630, Teil II, 350/51), denn Adonis wurde durch den unholden Eber getötet. Im besagten Sinne träfen die keltische und griech.-röm. Kernvorstellung der Eberjagd zusammen und es könnte somit ein noch älterer, sozusagen gemein-indogermanischer Mythenkern sichtbar werden; auch die bronzezeitlichen Felsbilder Schwedens zeigen die Eberjagd, so die Felder Håltane/Kville/Bohuslän/Schweden (bogentragender Jäger mit Hunden) und Svinhällen/Himmelstalund/Norrköping (Speerträger hinter Saurudel).
Niblung Hagen
Hagen ist in der Urfassung die Kontrastfigur zu Siegfried. Im Nibelungenlied wird er „Aldrians Sohn“ genannt. Im 28. Abenteuer beschreibt ihn der Dichter: „der Held war wohlgewachsen [...] und schrecklich von Antlitz“, übersetzte Simrock, doch im Original liest man: „eislich sin geshine“, was wörtlich bedeutet: „eiskalt sein Blick“. Mit gutem Grund lässt Friedrich Hebbel im Schlussakt seiner Trilogie „Die Nibelungen“ Kriemhild von den Burgunden sagen: „Das ist’s was mich empört: Heut sind sie untreu, morgen wieder treu; das Blut der Edelsten vergießen sie wie schmutziges Wasser, und den Höllengischt, der in den Adern dieses Teufels [Hagen] kocht, bewachen sie bis auf den letzten Tropfen.“ Die Thidrekssaga erzählt, Hagens Vater sei Alberich gewesen, der sich nächtens der schlafenden Mutter zugesellte; ihr gemeinsames Kind war demnach nur halb Mensch, war ein Schwarzalbenabkömmling. Die Saga berichtet über Hagens Aussehen: Er hatte ein langes aschfahles Gesicht und nur ein einziges Auge, das scharf blitzte. Sein Antlitz war furchtbar und grauenerregend, dazu trug er langes schwarzes Haar, überhaupt war er dunkelfarben, er trug „rabenschwarzes Kleid“. Der norweg. Skalde Bragi der Alte sagte in einem Gedicht von den Niflungen: „Sie waren alle schwarz wie Raben an Haar“. Dass der Name der Nibelungen (Nebel-inge / Nebelsöhne) im Epos auf die Burgunder übertragen wurde, können wir außer acht lassen, fest steht, sie entstammen ursprünglich einer nichtgeschichtlichen Sphäre in deren albisch-dunkles und totenblutschlürfendes Reich einst auch das Urbild jenes Hagen gehörte, den eine Epos-Handschrift (B 1726) „Trost der Nibelunge“ nennt. Niflheim, Niflhel sind altnordische Bezeichnungen für die Tiefe der Unterwelt, für die finstere Hölle (aengl. Nifol „dunkel“; ahd. nibul, lat. nebula „Nebel“). Hagen ist der eigentliche Führer der Nebelsöhne, er ist die düstere zentrale Macht des ganzen Nibelungen-Epos, in ihm findet der Herrschaftsanspruch über die Welt und den Hort seinen personifizierten Ausdruck. Er selbst ist der dämonische Geist des Goldes und alle die auf seinen Rat hören, sich ihm hingeben, sich an ihn verlieren, führt er unentrinnbar auf seine Bahn zum Tode. Das Gold bedeutet geheime Macht, erweckte Gier, Habsucht, Weltherrschaft; daraus resultieren neben dem Seelentod die meisten Verbrechen und Tragödien der Menschheitsgeschichte. (vgl.: O.S. Reuter, Gestalten und Gedanken im Nibelungenliede, Mannus-Bibliothek, N.F., Bd. 12, 1978/79) So hat auch Richard Wagner mit seinem - wie es genannt wurde - „antikapitalistischen“ Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“ den ursprünglichsten Geist des Mythos treffsicher erfasst und erneut ins zeitgemäße Bild gesetzt.
Sonnen-Siegfried
Durch das Christentum wurden Wesenszüge Siegfrieds auf den Hl.-Georg übertragen, ja dieser, der von der heutigen Kirche nicht mehr als Heiliger anerkannt wird, geradezu identifiziert. Da Georg nach der Legende einen Drachen oder Lindwurm getötet haben soll, der ein Mädchen zu verschlingen drohte, lag die Verbindung mit dem Drachentöter Siegfried nahe. So musste der siegfriedgleiche Georg zum Lieblingsheiligen der Deutschen werden; in ihm lebte die altheidnische Lichtrittergestalt in verchristlichtem Gewande fort. Sein Feiertag ist der 24. April; in diesem Kalenderzeitraum ist auch der altheidnisch-mythische, und womöglich rituelle Drachenkampf, zu vermuten. Doch auch sein Vorläufer Siegfried ist ja lediglich die mittelalterliche Schichtung einer älteren Sagengestalt, die ihren Ursprung im heidnischen Sonnenhelden und Sohn des Himmelsgottes hat. Für die mittelalterlichen Dichter waren diese Ursprünge ersichtlich nicht unbekannt, sie mussten aber in Zeiten christlicher Dominanz verschwiegen oder getarnt werden. Der Norden hat sich dieser Tabuisierung - bedingt durch die spätere Christianisierung - weniger gefügt, so wird vom Enkel Sigurds des Drachentöters in der Saga von Ragnar Lodbrok gesagt: „Sigurd heiße der Knabe! [...] gleicht auch seinem glänzenden Vater. Der von Odin abstammt ...“ Im Regins-Lied (14) gilt Sigurd als der „unerschrockenen Enkel Ingwis, der [...] unterm Himmel der herrlichste Fürst“ sein wird; „seines Schicksals Fäden umschlingen den Erdkreis.“ Im kürzeren Sigurd-Lied (24) wird er „Freys Liebling“ genannt. Allein einer aus religiöser Sphäre entstammenden, mythisch-kosmischen Gestalt, ist es gegeben, mit ihrem Schicksal auf den Erdkreis einzuwirken. Ähnliches wie von Sigurd wird von Helgi im Ersten Helgi-Lied (56) gesagt: „Heil dir Fürst, [...] Nachfahr Ingwis ! Den fluchtträgen [kampfstarken] Fürsten erschlugst du, [...] Du erwarbst dir ein Recht, gewaltiger Recke, auf die funkelnden Ringe und die fürstliche Maid [...] Das Reich ist errungen, es ruht der Streit !“ An jenem urmythischen Lichtritter, der nach dem Winterdrachenkampf den sommerlichen Siegfrieden schafft, haftete zäh auch das uralte Motiv des Sonnenhirschen: Siegfried wird von einer Hirschkuh gesäugt; im Fafnir-Lied (2) sagt Sigurd: „Der stolze Hirsch heiße ich“; und die ihm zugedachte ebenbürtige Jungfrau erwartet ihn auf dem Hirschkuhfelsen. Es lüftet sich das Rätsel: Ob jener Siegfried aus deutscher Dichtung und Ritter Georg der christlichen Legenden, ob Sigurd oder Helgi in den altn. Liedersagas -, sie haben ihr direktes Vorbild im altheidn. Ingwi-Freyr, dem göttlichen Sonnenheros, der mit einem Hirschgeweih (Gylf. 36) den dämonischen Riesen Beli niederhieb -; dessen Sowilo-/Sonnen-Rune, das 9. ODING-Kalenderzeichen ist.
Helgi, der Siegfrieden schafft
Wenn wir in den Frühlingstage die Natur bewusst beschauen, erleben wir die grandiose Zunahme von Licht, Wärme, Farbe und das Wohlbefinden auch in unseren Herzen wächst zusehends. Der Lenzo zieht durch das Land und wandert mit Riesenschritten nach Norden und auf alle Höhen, um auch dort die letzten Schneereste zu tilgen. Er ist ein Kämpfer, allerorten ficht er seinen mythischen Kampf gegen die Dunkelheitsmächte, er ringt die Drachen des Winters und die albischen Unholde der Düsternis nieder. Auf allen Höhen küsst er die Erdenjungfrau wach und verspricht ihr ewige Liebe und Treue, doch er muss weiter, er muss sein herrliches neues Sonnenland aus den Händen der Niflungen, der letzten Nebelmächte befreien; - erst zum Sommerbeginn wird er Hochzeit feiern mit seiner ihm versprochenen Braut. So etwa lautetet der Frühlingsmythos unserer Ahnen. Er hat in vielen unterschiedlichen Sagen und Mären seinen Niederschlag gefunden. Dieser Lenzo, der die längeren Lichtphasen erzwingt, spiegelt sich in den bekannten Heldengestalten der alten Lieder, dem Siegfried, dem Helgi, natürlich letztlich auch den Göttergestalten der Edda, wie dem Ingwi-Freyr oder dem Baldur.
Berichte von der mythischen Gestalt des altheidnischen Heilbringers haben sich in einigen bruchstückhaften literarischen Quellen erhalten. Man merkt es ihnen an, dass sie altheidnisch-mythische Sinn- und sogar Strophenteile in hochmittelalterliche zeitgemäß angepasste Werke eingliederten. So verhält es sich beim deutschen Hyrnen-Seyfrid, dem Nibelungenlied, den altnordischen Sigurdsagen, besonders deutlich aber beim Helgi-Liederzyklus, wo aus dem altreligiösen Stoff des wiedergeborenen Helgi-Hundingsbana (dem Heiligen-Hundesohn-/Schurkentöter), eine profane abenteuerliche Wikingersaga umgedichtet wurde. Insbesondere der Beginn der 1. Liedes atmet aber noch ganz die mythisch-verklärte Stimmung des einstigen heidnischen Preisliedes auf den hehren heldischen Sonnensohn:
„Anfang der Zeiten war’s, da Adler gellend schrieen, heilige Wasser rannen von Himmelsbergen. Da hatte den Helgi, den Hochgemuten, Borghild geboren im Strahlenhain. Nacht ward im Hause, Nornen kamen, sie, die dem Edling des Daseins Kreise schufen. Ihn hießen sie als Führer den Ruhmvollsten werden und als der Fürsten Besten gelten. Sie schnürten aus Kraft des Schicksals Bande, damit er Burgen bräche im Strahlenhain. Sie ordneten darüber die goldenen Fäden und unter Mondsaales Mitte knüpften sie’ fest. Nach Ost und West festigten sie die Enden; des Fürsten Eigentum lag inmitten. Es warf Neris Schwester auf die Nordwege das eine Seil, diesem einen verhieß sie ewige Dauer. [...] Er steht in Rüstung, der Sohn des Sigmund, einen Tageslauf erst alt, - nun ist der Tag gekommen ! Scharfblitzende Augen wie Kämpfer sie haben! [...] Ein Volksherr schien dieser Fürst zu sein. Man sagte bei den Menschen, Götterjahre seine gekommen. [Sein Vater brachte ihm zur Geburt Edellauch] Er gab ihm den Namen Helgi und [schenkte ihm die Bezirke] Ringsstadt, Sonnenberge, Schneeberge und Sigarfelden, Ringstätte, Hochflur und Himmelsaue, [dazu die] Blutschlange [das Schwert]. [...] Dann, als der Fürst fünfzehn Winter alt war, ließ er den harten Hundesohn im Feld [tötete ihn].In Strophe 55 wird er als Nachkomme des Ingwi-Freyr bezeichnet: „Heil sollst du, Fürst, der Würden walten, [du] Sippenpfeiler [Erbträger des Gottes] Ingwis. Das Lied endet: „Und dir Fürst geziemt beides recht, rotes Ring-Gold und die mächtige Maid. Heil sei dir Fürst, beides zur Freude, Högnis Tochter und Ringstätten, Sieg und die Lande! Dann ist dem Streit ein Ende !“
Im 2. Helgi-Lied (20) erschlägt Helgi - von dem es am Ende heißt, er sei ein Wiedergeborener - den Riesen / Thursen Hati („Hasser / Gehässiger / Feind“) der auf einem Berge saß. Es ist der gleiche Name wie ihn einer der wölfischen Söhne des Fenriswolfes trägt, der im Weltuntergang der Sonne zum Verhängnis wird. Gleich dem 1. bewegt sich auch das 3. Helgi-Lied im thematischen Rahmen des Helgi-Hundingstöters. Altheidnische Mythenstücke und Namen versuchte der Dichter in eine Neudichtung einzuweben -, vielleicht um sie verweltlicht und entstellt in christlicher Zeit überdauern zu lassen. Schon in 1. Str. wird erklärt, dass einer namens Hagall, dessen Sohn Hamall ist, den Helgi als Ziehsohn angenommen hätte. Dann wird Helgis Kampf gegen Hunding besprochen. Hundings Männer suchen Helgi bei Hagall, er entkommt und tötet Hunding: „Vor Helgi musste König Hunding sich neigen ins Feld!“, meldet Str. 9. Im 2. Helgi-Lied (20) wird Helgi als Isung-Töter (Isungs bana) bezeichnet; er hat einen Schrecker namens Isung (altn. isarn „eisern“) getötet. Dieser Isung ist der in 36. Str. genannte Höðbrodd („Kampfspeer“), dessen Name an Höðr, den mythischen Gegner Baldurs erinnert. Hödr heißt „Kämpfer“ und die altn. Zweitsilbe -brodd meint „Wurfspeer / Pfeil / Eisenspitze / Spitze / vorderster Teil einer Schar“.Helgi entschleiert sich somit immer deutlicher als eine säkularisierte Hypostase des heidnischen Sonnenheros. Stilistisch wird er nicht anders gepriesen als Siegfried im Nibelungenlied: „So überragte Helgi die Helden, wie die edel geschaffene Esche den Dornbusch oder das Hirschkalb, frühnebelumwallt, das höher schreitet als alle Rehe, und das Gehörn glüht gegen den Himmel selbst.“
Solche Lieder erscheinen wegen der Nennung von heidn. Göttern altertümlich und urheidnisch, bei genauerer Betrachtung erweisen sie sich jedoch als stückweise wirre Zusammenfügungen aus der wirklichen, damals schon lange zurückliegenden Heidenzeit. So war der angebliche Ziehvater namens Hagall - ähnlich wie Siegfrieds Ziehvater Regin (den Siegfried ja auch erschlägt) - ursprüngliche der dioskurische Gegenspieler, also mythische Feind des Helgi. So wie dem Baldur der Hödur und dem Siegfried der Hagen entgegenstand, so war Helgis Gegenpart der Hunding-Hati-Hödbrodd-Hagall. Die eddischen Lieder vermögen uns wirklich in mache altheidn. Zusammenhänge einführen, doch ohne eine gute Wegweisung wird dies in Wahrheit nicht gelingen. Dieser Wegweiser aus ältester Heidenzeit ist allein das ODING. Auch die skandinavische Helgi-Gestalt wäre ohne dieses Schlüsseldokument letztlich nicht in das urheidnische Mythenschema einzuordnen.
Haddinge-Alken
Im eddischen Hyndlolióð, Hündla-Lied (20-23), bittet der edle Jüngling Ottar die Göttin Freyja um Beistand, sie möge ihm helfen nachzuweisen, dass er aus altem hohen Geschlecht entstamme. Seine Vorfahren werden genannt; sagenhafte historische Namen, die den mittelalterlichen isländischen Zuhörern noch geläufig waren, werden in Aufzählung gebracht: „mehr Ahnen noch kenn’ ich der alten Sippe“; „auch Nanna nenn’ ich, Nokkwis Tochter“; Nanna war bekanntlich die Gemahlin Balders. Die zwölf Söhne von Arngrim und Eyfura finden Benennung, u.a.: „oc tveir Haddiningiar“ („und die beiden Haddinge“). Aus einigen Fornaldarsögur finden sich ebenfalls die Nahmen der zwölf Berserkersöhne o.a. Paares erwähnt. In der Erzählung „Hervarar saga ok Heiðreks konungs“ heißt der älteste der Brüder Angantýr, am Reihenende werden die Zwillinge, die beiden Haddingr, erwähnt. Auch in der Fornaldarsaga „Örvar-Odds saga“ wird vom Kampf Odds gegen die zwölf, von Angantýr geführten Berserker berichtet und ihre Namen aufgeführt, u.a.: „tveir Haddingjar“; in sämtlichen derartigen Quellen sind nur diese drei Namensübereinstimmungen festzustellen, die anderen Namen schwanken. Als Vater der zwölf gilt Arngrim, was „Adlermaske“ bedeutet; Arnhöfði („Adlerköpfige“) ist ein Odinsname in den Thulur. Der Muttername Eyfura („Inselfichte / -före“ von altn. ey ahd,. ouwa „Eiland / Aue / Werder / von Wasser umflossenes Land“) könnte nicht weniger gut eine Umschreibung der Odinsgattin Frigg/Frea sein, deren Wohnort Fensalir (Gylf. 34) ist, was „Sumpfraum / -halle“ heißt. Dies noch treffender, wenn die zweite Silbe von Ey-fura aus ags. furh, ahd. furuh „Fuche / Graben“, altn. for „Schlamm / Morast / Wassergraben / Ackerfurche“ gedeutet wird.
Auch in der „Gesta Danorum“ des Saxo Grammaticus (um 1150-1220) werden die Arngrim-Zwillingssöhne erwähnt: „duo Haddingi“. Doch ebenso wird im 1. Buch von einem sagenhaften dänischen Heldenkönig Haddingus berichtet, der sein angestammtes Dänenreich zurückerobert. Sein Beschützer ist Odin selbst, der ja häufig einzelne, hervorgehobene Helden unterstützt (Sigurd, Starkadr, Helgi). Im Nachsatz zum 3. Helgi-Lied der Edda wird der Heroe als Wiedergeborener Haddingiaskaði („Haddingen-Schädiger“) geheißen; doch die meisten Übersetzer gehen von einem Schreibfehler bzw. der Urform Haddingiaskati (Haddingen-Krieger/-Held) aus; dann wäre auch der berühmte Helgi eine Hypostase des Hadding. Auch schon die „Gotengeschichte“ (22) des Jordanis (Mitte 6. Jh.) nennt ein wandalisches Geschlecht namens Asdinge(r), welches höchst kriegerisch sei und eine glänzende Stellung einnehmen würde.Diesen Zusammenhang berücksichtigt Bernhard Kummer in „Die Dichtung von Helgi und der Walküre“, 1959, S. 144) mit einer kurzen Notiz vom „Zwillingspaar der gotischen Hazdiggjos (bei Jordanes Asdinge = „die mit langem Haar versehenen“) [...] deren göttliche Ahnherren lt. Tacitus von den Nahanarvali als Alces versehrt wurden“. Diese Worterklärung ist gewiss zutreffend, denn: aengl. had, hæd „Haar“; altn. haddr „Frauenhaar“. Die Haddingis wären damit sprachlich zu erkennen als „jene mit dem langen Frauenhaar“. Tatsächlich beschreibt ja Tacitus (Germania 43) einen germanischen Kult, in dem solche Gottheiten Erwähnung zu finden scheinen: „Im Lande der Nahanavalen liegt ein Hain mit uraltem Gottesdienst, dem eine Priester in weiblicher Tracht vorsteht. Die Gottheiten aber, nach römischer Auslegung Castor und Polux, denen sie auch im Wesen gleich, tragen den einheimischen Namen Alken. Es ist zwar kein Bildnis vorhanden, auch keine Spur fremden Einflusses, doch werden sie als Brüder, als Jünglinge verehrt.“ Die Worterklärung für Alken wäre bekanntlich „Elchbrüder“, vgl.: ags. eoh, alts. ehu „Pferd“ (ags. éoh, éow „Eibe“); éola, eolh; neuengl. elk „Elch“.
Der Schuss liegt nahe, dass in den späten hochmittelalterlichen Liedern des Nordens Heldennamen Eingang fanden, die aus echt alter heidnischer Mythologie in Erinnerung blieben. Die wikingerzeitlichen Haddinge-Zwillinge werden aus den uralten mythischen Erzählungen von den göttlichen frauenmäßig-langhaarigen Alces-Zwillingen herrühren. Dann wäre „Haddinge“ als ein weiterer Kult- oder Zusatznamen der Alces zu verstehen. Umso besser, weil dann auch die „H“-Rune, als Sinnzeichen für die göttlichen Zwillinge noch verständlicher würde. Zum anderen, weil dann auch plausibel wäre warum nur einer der Haddinge-Alces als strahlender heldischer Sieger (Balder, Helgi, Siegfried) von den mythosgespeisten Preisliedern gefeiert wird, während der andere, der dunkle Bruder (Hödur, Hunding, Hagen) im Schatten steht.
Sommersonnwend-Drama
Zur Sommersonnenwende, zwischen Aufstieg und Abstieg, im Zwielicht der Zeit vollzieht sich das Mythendrama der Verletzung oder des Mordes am Lichtgott.Siegfrieds Tötung (12. Av.) geschieht im Nibelungenlied: „Sobald erst der Winter ein Ende hat genommen um diese Sonnenwende...“. Der Winter nahm, nach Vorstellungen der Alten, sein Ende mit Sommerbeginn Anfang Mai. Im folgenden Monat Brachet (Juni), in dem des Jahres Lichtphase umgebrochen, also umgekehrt wurde, musste der strahlende Siegfried sterben -, musste auch sein Weg abwärts führen. Ebenso der keltische Sonnenheld Llew - der wohl dem irischen Lichtgott Lugh entspricht - kann nicht im Haus, noch außerhalb – also nicht im geschützten noch ungeschützten Bezirk - , sondern nur auf der Schwelle umgebracht werden. Und an dem Speer, der ihn allein töten kann, muss ein Jahr lang geschnitzt worden sein, jeweils nur zu der Zeit, während der die Leute am Sonntag die Opfer bringen. Die Frau, die ihm diese Bedingungen entlockt, ihn verrät und so durch List zu Tode bringt, ist ein aus Pflanzen gemachtes Zauberwesen. Llew selbst beschreibt ihr die Lösung des unmöglich zu ratenden Rätsels: „Wenn einer ein Bad errichtet neben einem Fluss und fügt ein Dach über einen Kessel, und ich setze einen Fuß auf des Ziegenbocks Rücken und den anderen auf den Rand des Kessels, und es trifft mich jemand in diesem Augenblick und stößt zu ... dann werde ich sterben müssen." (F. Hetmann - Zaubermärchen aus Wales, Frankf. 1977, S. 84) Beschrieben ist der Augenblick einer Schwellensituation wie es die Sommersonnenwende ist. Von ihr heißt es in der Frithjofs-Saga im 13. Kapitel E. Tegners Nacherzählung: „Mitternachtsonn’ auf den Bergen lag, blutrot anzusehen, es war nicht Nacht, es war nicht Tag, zwischen beiden schien es zu stehen. Balders Holzstoß, der Sonne Bild, brennt auf geweihtem Herde, bald ist doch die Lohe verspillt, dann beherrscht Hödr die Erde.“ Und im vorausgegangenen Kapitel wird „Balders Mittsommerfest“ erwähnt (Die Frithjofs-Sage von Esaias Tegner - Aus dem Schwedischen von G. Berger, Stuttgart, 1843, S. 87f) Aus dem Gesagten geht hervor, dass man auch Balders Sterbefest zur Sommersonnenwende beging.
Wir sehen recht eindeutig - wenn wir die diversen Quellen zusammenschauen - dass im Nibelungenlied und den verwandten Texten, auf uns gekommene Erinnerungsreste des Mythoskerns vom altnordisch-kelto-germanischen Jahreszeitendrama erkennbar werden.
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