02.04.2025

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Edvard Munch (1863-1944), Das kranke Kind, 1885-86; Oslo, Nasjonalgalleriet

Die Saga von Egill Skalla-Grimsson ist eine der herausragendsten Isländersagas. Sie handelt vom Leben des Egill Skallagrímsson, einem isländischen Bauern, Wikinger und berühten Skalden, und seiner Familie, die im 10. Jh. lebte, einer Zeit des ungebrochenen völkischen Heidentums. Vermutlich ist sie zwischen den Jahren 1220 und 1240 verfasst worden. Sie wird dem Snorri Sturluson zugeschrieben, seine Autorschaft ist jedoch umstritten. Es besteht kein Grund anzunehmen, dass die isländische  Odin-Verehrung Egils den historischen Gegebenheiten nicht entsprochen hätte. Die Saga beginnt in Norwegen im Jahre 850 im Leben von Egils Großvater Úlfr/Kveldúlfr genannt (dt.: Abendwolf), und seiner beiden Söhne Þórólfr, einem großen Krieger, der eine komplizierte Beziehung zum König von Norwegen Haraldr I. (852-933) unterhält, und Egils Vater Skallagrímr Kveldúlfsson. Nach Þórólfrs Tod, aufgrund seiner unfreiwillig gebrochenen Untertanenpflicht gegenüber König Haraldr, fliehen Skallagrímr und Kveldúlfr aus Norwegen nach Island. Skallagrímur lässt sich als friedlicher Bauer und Schmied in Borg (wohl Borg á Mýrum bei Borgarnes) nieder, wo auch seine Söhne Egill und Þórólfr aufwachsen. Danach wird über Egils Reisen nach Skandinavien und England, seine Kämpfe und Freundschaften, die Beziehung zu seiner Familie (geprägt durch den Neid, sowie die Zuneigung zu seinem älteren Bruder Þórólfr), seine Jahre im Alter und Schicksal und Tod seines Sohnes Þorsteinn und seiner besorgten Tocher Þorgerd sowie deren Nachkommen berichtet. Die Saga endet ungefähr im Jahr 1000 und umfasst mehrere Generationen. Felix Niedner war der Hrsg./Übers.: „Die Geschichte vom Skalden Egil“ (Thule. Altnordische Dichtung und Prosa, Band 3). Eugen Diederichs, Jena 1911.

Thule Bd. III., Seite 214: „Als Egil und die Seinen sich gesetzt hatten und aßen, da sah Egil, dass ein Mädchen krank auf der Querbank lag. Egil frug Thorfinn, wer das Weib wäre, das dort so krank läge. Thorfinn meinte, sie hieße Helga und wäre seine Tochter - „sie hat schon lange krank gelegen. Sie litt an Auszehrung. Keine Nacht schlief sie und war wie wahnsinnig.“ „Habt ihr irgendwelche Mittel gegen ihre Krankheit angewandt?“ frug Egil. Thorfinn sprach: „Runen sind geritzt worden, und ein Bauernsohn ganz in der Nachbarschaft ist's, der dies  tat. Es steht aber seitdem viel schlimmer als vorher. Kannst du, Egil, etwas wider solches Unheilt tun?“

Egil meinte: „Möglich, daß es nicht schlechter wird, wenn ich mich dranmache“. Als Egil gegessen hatte, ging er dorthin, wo das Mädchern lag, und sprach zu ihr. Er bat sie von dem Platz zu heben und reines Zeug unter sie zu legen. Das geschah. Darauf durchsuchte er den Platz, auf dem sie gelegen hatte, und fand dort ein Fischbein, auf dem Runen geritzt waren. Egil las sie. Darauf schabte er die Runen ab und  warf sie ins Feuer. Er verbrannte das ganze Fischbein und ließ das Zeug, das das Mädchen gehabt hatte, in den Wind tragen. Dann sprach Egil:

Runen ritze keiner,

Rät er nicht, wie's steht drum!

Manches Sinn schon, mein ich,

Wirren Manns Stab irrte.

Zehn der Zauberrunen

Ziemten schlecht dem Riemen:

Leichtsinn leider machte

Lang des Mädchens Krankheit.

Egil ritzte Runen und legte sie unter das Polster des Lagers, auf dem das Mädchen ruhte. Ihr deuchte da, als ob sie aus dem Schlafe erwache, und sie sagte, sie wäre gesund, wenn auch noch schwach. Ihr Vater und ihre Mutter wurden sehr froh. Thorfinn bot Egil an, er solle alle Gastfreundschaft bei ihm genießen, deren er nur bedürfe. “

[Fußnoten-Erklärungen: Durch das Abschaben der mit Unkenntnis geritzen Liebesrunen wurde ihr schädlicher Zauber aufgehoben. Die neuen Runen, die Egil ritzt, sind Heilrunen. Der Riemen ist das Fischbein (aus Walfischkiemen). Die Stäbe des wirren Mannes sind die falschen Runenzeichen des verliebten Bauernsohnes, die das Mädchen fast blödsinnig machten.]

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Die Egil-Saga weiß von dem vertrauten Umgang Egils mit den Runen auch an anderer Stelle Thule Bd. III. S. 169: „Und da sie zum Aussegeln bereit waren, stieg Egil noch vorher die Insel aufwärts. Er nahm eine Haselstange in die Hand und ging auf eine Felsenspitze, die weit ins Land hinein schaute. Er nahm ein Pferdehaupt und steckte es oben auf die Stange. Dann tat er den Fehdespruch und sagte: „Hier stelle ich die Neidstange auf und wende diese Beschimpfung gegen den König Erich und die Königin Gunnhild“. Er richtete das Roßhaupt nach dem Innern der Landes zu. „Auch wende ich“, fuhr er fort, „diese Beschimpfung gegen die Landwichte, die in diesem Lande wohnen, daß sie alle in „der Irre fahren sollen, auch nirgends eine Ruhestätte finden nach sahen, ehe sie nicht König Erich und Gunnhild aus dem Lande vertrieben haben.“ Dann stieß er die Stange in eine Felsenspalte und ließ sie dort stecken. Er hatte aber das Roßhaupt gerade nach dem Lande hingewandt. Hier ritzte er noch Runen auf die Stange: die sollten seinen ganzen Fehdespruch künden. Darauf ging Egil aufs Schiff. Sie spannten die Segel auf und fuhren in die See hinaus. Die Brise nahm zu, und es wehte starker und günstiger Fahrtwind. Schnell fuhr das Schiff dahin“.

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Von den ursprünglichen Heiden-Sitten und -Gebräuchen kündet die Egil-Saga auch hinsichtlich des Disen-Festes in einer Schwarzmondphase (Thule Bd. III., Seite 113-117): „Bard hatte für sie ein Gelage veranstaltet. Es sollte ein Disenopfer stattfinden. Das Gastmahl war sehr gut und reichlicher Trank in der Stube. [...] Da ging Bard zur Königin und sagte, daß ein Mann da wäre, der ihnen Schmach bereite und nie so viel trinke, daß er nicht doch behaupten könne, er sei durstig.  Die Königin und Bard mischten da einen Trank mit Gift und  brachten ihn herein. Bard weihte den Becher mit dem Zeichen von Thors Hammer und händigte ihn dann der Schenkin ein. Sie brachte ihn Egil und forderte ihn auf, zu trinken. Egil aber zog ein Messer und stach sich in die Hand. er nahm das Horn, ritzte Runen hinein, bestrich sie mit Blut und sprach:

Runen ritzt ins Horn ich:

Rot wie Blut sie lohten.

Wählte kernigen Wahlspuch

Wisents Hauptschmuck, ihr Disen:

Gern gutlauniger Dirnen

Goldigen Trank ich schwinge!

Was du, Bard, hier weihtest:

Wir's bekommt, jetzt siehe!

Da sprag das Horn entzwei und der Trank floß wieder auf die Streu. Nun hatte Ölvir genug getrunken. Egil stand auf, führte ihn zur Tür hinaus und nahm das Schwert fest in die Hand. Da sie nun an die Tür kamen, kam Bard hinter ihnen her und bat Egil seinen Abschiedstrunk zu tun. Egil nahm das Horn, trank und sprach folgende Weise:

Ale gib mir, denn Ölvir

Elend ward vom Aletrunk.

Auerhorns sprühende Schauer,

Schwippt durch meine Lippen!

Speerregens Durchsteiger,

Schwer wirst du dich wehren:

Wilderen Regen wälzt dir,

Wicht, zu Egils Dichtung.

Dann warf er das Horn zu Boden, griff nach seinem Schwert und zückte es. In der Vorstube war es dunkel. Er stieß das Schwert mitten durch Bard, so daß die Spitze aus dem Rücken hervorragte. Tot stürzte er zu  Boden, und das Blut floß aus der Wunde. Auch es war dunkle mondlose Nacht draussen, da Egil vom Gehöft fortstürmte“.

[Fußnoten-Erklärungen: Die Disen waren gütige Schicksalsfeen, die den Menschen durch Leben geleiteten. Zauberrunen (Heil-, Liebesrunen und andere) kennt schon die Edda. Auch Bierrunen, wie sie Egil dem Bard in Wiesents Hauptschmuck (das Auerochsen-Trinkhorn) ritzt. Gemeint sind die Schenkinnen der Halle. Das Wortspiel mit Regen durchzieht die Stophe: Der Durchsteiger des Speeregens ist der Königsmann Bard, die Regenschauer aus dem Trinkhorn von dem Auerstier sind das Bier.]

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Völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar sind die sicher falschen Darlegungen von Prof. Dr. Bernhard Kummer in „Gott Odin, sein Chronist und sein Gefolge - Ein missionsgeschichtliches Problem und eine politische Gefahr“ (1952), dass der Odin-Glauben auf Island des 10. Jahrhunderts, in der sog. Landnahmezeit, keine Verankerung im Volk der Neusiedler gehabt hätte, sondern allein an den vorchristlichen Fürstenhöfen beachtet und besungen worden wäre. Der einerseits derbe Mann des Volkes, der Isländer Eigil Skalla-Grimsson, beweist mit seinen Skalden-Versen das genaue Gegenteil. Er hatte zeitlebens zur Königsmacht ein gespanntes und kritisches Verhältnis, wuchs auch im Schatten keines Königshofes auf, aber stand im brauchtumsbezogenen Odin- und Asen-Glauben fest, was seine zahlreichen Verse bezeugen können. Selbst bei Berücksichtigung einer erst nach seinem Abscheiden niedergeschriebenen Egil-Saga, bleibt es dabei, dass seine Verse, in der typisch isländischen Überlieferungstreue, in der ursprünglichen Form tradiert worden sind und keine signifikant odinisch-heidnischen Einschübe denkbar sein könnten.

Nach dem tragischen Unfall-Tod seines Sohnes Þorsteinn, liegt Egil sterbensmatt in seinem verschlossenen Zimmer, bis seine Tochter Þorgerd heraneilt und vorgibt, mit dem Vater zusammen im gemeinsamen Kummer sterben zu wollen. Sie kommt im Elternhaus an und wird gefragt, ob sie schon zu Abend gegessen hätte, sie erwiedert: „Ich habe nicht zu Abend gegessen. Ich werde es auch nicht, ehe ich bei Feyja bin. Ich weiß mir auch keinen besseren Rat als mein Vater Ich will meinen Vater und Bruder nicht überleben“. Sie ging zur Schlafkammer und rief: „Vater schließ die Tür auf! Ich will, daß wir beide denselben Weg fahren. “ [...] Später sagte Thorgerd: „Ich möchte doch, Vater, daß wir unser Leben verlängern, damit du ein Totenlied für Bödvar dichten kannst und ich es in Runen auf Holz ritze. Dann laß uns sterben, wenn es uns gut deucht...“.

Sie bringt ihn also dahin, ein Preisgedicht auf die toten Söhne zu verfassen. Das nennt Egil: „Der Söhne Verlust“. Der gesamte Kontext ist so erschütternd, echt und stark heidnisch, das kann keine Interpolation sein. In dem Gedicht tritt der gesamte Odin-Glauben zu Tage, mit seinen mythologischen Hintergründen, wie wir ihn aus eddischen Texten erfahren haben. Auch nach einem Raub seines Handelsschiffes durch den Sohn des Harald Schönhaar, den brutalen König Erich-Blutaxt (885-954), reimte er (Seite 162):

Götter, treibt den Trüber

Meines Rechts fort: rächt mich!

Odin, edle Asen:

Er [Erich] ja stahl mir alles!

Frey und Njörd, verfolgt den

Feind des Landes mit Schande:

Treffe den tollen Frevler

Thors Zorn hart und dornig!

Demnach kann von einem freiwilligen Nachlassen der Odin-Gläubigkeit auf Island, zur  Besiedelungszeit, keine  Rede sein. Auch die gewaltsamen Christinanisierungsversuche des rigorosen norwegischen Wikinger-Fürsten, die Färöer-Inseln christlich zu unterwerfen schlugen fehl. Olaf I. beauftragte damit ab 998 den Sigmundur Brestisson, den er vorher zum Alleinherrscher über die Inseln erhoben hatte. Über die Geschehnisse gibt der Thule-Band XIII Auskunft: „Altnordische Dichtung und Prosa, Grönländer und Färinger Geschichten.“ Hrsg. und übertr. von Felix Niedner. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf/Köln 1965. Darin heißt es: „Sigmund segelte nun, als er fertig war, und die Reise verlief gut für ihn. Als er zu den Färöern kam, versammelte er die Großbauern zum Ting auf Streymoy, und da kam eine große Menschenmenge zusammen“. Die versammelte Mannschaft war begeistert, als Sigmundur verkündete, dass der neue norwegische König ihn zum Chef des Landes ernannt hatte. Die Nachricht hingegen, dass sie nunmehr zum Christentum umgebogen werden sollten, stieß auf gewaltsamen Widerstand, so dass Sigmundur nur knapp dem Tod entkam, nachdem die Färöer, unter Führerschaft von Tróndur í Gøtu ihn lynchen wollte. Er musste schwören, diesen Versuch nicht zu wiederholen, so die Saga. Den Winter 998/99 verbrachte er auf seinem Hof in Skúvoy.  Im Frühjahr 999 startete Sigmundur nun zum erneuten Angriff. Sigmundur machte sich mit 30 Mann von Skúvoy auf nach Gøta, wo Tróndur seine Wohnung hatte. Tróndur wurde überwältigt, und Sigmundur stellte ihn vor die Wahl sich taufen zu lassen oder sofort erschlagen zu werden. Angesichts der Übermacht fügte sich Tróndur widerwillig. Tóri Beinirsson, Sigmundurs Vetter, schlug hingegen vor, Tróndur zu töten, da sein Bekenntnis unmöglich ernst genommen werden könne, und jener sich daher früher oder später blutig rächen würde. Der Mythos der Färingersaga will es jedoch so, dass Sigmundur das ablehnte, und vielmehr dafür sorgte, dass alle Gefolgsleute von Tróndur getauft wurden. Auf den Färöern bereitete nun Tróndur í Gøtu seine Rache vor, die, nach einer länger andauernden Jagd, zur die Köpfung von Sigmundur Brestisson im Jahr 1005 führte. Die formale Verchristlichung der Inseln galt erst nach dem Tod von Tróndur í Gøtu 1035 als abgeschlossen.