MERKE: DIE IRMINSUL IST/WAR EINE SÄULE, KEIN BAUM !
Der ca. 3.000 Jahre alte, bronzezeitliche Felsritzbildstein vom Bezirk Kasen (s. Abb. 1) bei Tanumshede im südwestschwedischen Bohuslän (nach L. Baltzer, Pl. 45/46 Nr.) zeigt mehrere Bildelemente, welche - deutlich zusammengehörend - eine wichtige geistesgeschichtliche Aussage machen (s. Abb. 1, Konturenzeichnung vom Originalabrieb).
In unverkennbar zentraler Position findet sich hier ein interessantes Gebilde, dessen beide an ihrem unteren Ende miteinander verbundenen Säulen die Sonnenlaufbahn in Form der Doppelspirale tragen. Darüber, in „himmlischer“ Region, verläuft eine Zweierreihe sogenannter „Näpfchen“, kreisrund herausgeschliffene Vertiefungen. Darüber befindet sich ein Schiff mit 13 Bemannungs-Symbolen und die „Fußspur Gottes“, wie sie von vielen nordischen Felsbildern, aber auch aus anderen Weltkulturen bekannt ist. Fünf bemannte Schiffe zeigt die Gesamtkomposition, vier davon steuern auf die zentrale Sonnen-Säule zu, was als Hinweis auf die hochheilige Bedeutung derselben zu werten ist. Vor der Kultstätte wird ein Stieropfer vollzogen. Die nach außen geschwungenen Hornspitzen des Tieres sind als ein typisches Merkmal des Auerochsen vielfach noch heute an Bohusläner Rindviehrassen zu beobachten. Eine solche Hornart ist als Helmzier durch Felsbilder (s. Abb. 2: Österöd/Kville) sowie aus dem Fundmaterial (Abb. 3: bronzezeitliche Statuette, Museum Kopenhagen) gut belegt.
Das Opfertier liegt bereits flach mit offensichtlich hochgezogenem Hinterleib entweder auf einer Opferplattform oder hängt mit den Hinterbeinen in einem Opferkessel. Die breiter herausgearbeiteten Hinterläufe lassen sich bei genauer Untersuchung von der dünner weiterlaufenden Linienführung des Opfergerätes deutlich unterscheiden. Man vergleiche in diesem Zusammenhang das Bild des Opfergefäßes auf dem Kessel von Gundestrup/Dänemark (s. Abb. 4). Die Bedeutung der diversen kreisrunden Ausschliffe - beispielsweise im Bereich der Analregion des Stieres bzw. Kesselöffnung sowie zwischen den Säulenköpfen unterhalb der Sonnenlaufbahn könnten Zentren sakraler Wichtigkeit andeuten. Fachleute gehen davon aus, dass mittels dieser Näpfchenschliffe einstmals Gesteinsmehl für sakral-medizinische Handlungen entnommen worden sei.
Die Spirale und Doppelspirale gilt, wie es nicht nur die altschwedische Felsbildkunst eindrucksvoll demonstriert, im Rahmen des bronzezeitlichen Sonnenkultes als die Wiedergabe des jährlichen sich am Himmel abzeichnenden Sonnenweges. Durch ihn ist das kosmische Raum- und Zeitordnungsgefüge gleich einer der Offenbarungen des göttlichen Weltengeistes verstanden worden. In Kombination mit dieser säulenartigen Stützvorrichtung muss es sich um eine der frühesten nordischen Darstellungen der Weltensäule-Sonnenstütze handeln, die im Sinnbildfundus der alten Religionen einen recht bedeutenden Platz einnahm. Die aus dem Mittelalter überlieferte altgläubige, mittelgermanische Bezeichnung für diesen Weltpfeiler war Irminsul/Irmensul. Rudolf v. Fulda berichtet in den „Annales regni Francorum“ aus dem 9. Jahrhundert über das von Kaiser Karl im Jahre 772 zerstörte Heiligtum der Sachsen: „Sie nannten sie in ihrer Muttersprache Irmensul, die All-Säule, die sinnbildlich das All trägt“ Ein Vers in der „Poeta Saxo“ lautet: „Irminsul benannte das Volk und verehrte als heilig ein in Säulengestalt gen Himmel ragendes Bauwerk.“ *1 Noch in deutschen Predigten des 12. Jahrhunderts wurden hervorragende Mitarbeiter der Christenkirche als „boume und irmesule der Christenheit“ bezeichnet.*² Ich weise deshalb ausdrücklich darauf hin, dass bei dieser Aufzählung Bäume und Irminsäulen unterschieden wurden, weil von heutigen Autoren in aller Regel zwischen dem baumartigen Gebilde im Externsteinrelief und der altsächsischen Irmin-Weltsäule keine Unterscheidung vorgenommen wird. Diesen Umstand sehe ich als Hauptverursacher an, für mehrere daraus resultierende Trugschlüsse.
Gibt es doch keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass die Irmensul, die „Tragesäule“, als ein pflanzliches Gebilde aufgefasst wurde. Trotz möglicher durch Künstlerhand verursachter Mischformen ist es zunächst absolut unzulässig, die Irminsäule aus dem Kultkomplex des Lebensbaumes heraus erklären zu wollen. Lebensbaum und Allsäule sind zunächst säuberlich zu trennende Begriffe aus zwei völlig verschiedenen Gedankenkreisen. Schon Sophokles (497-406 v.0) spricht von der Himmelssäule als der Achse des Gestirnumschwunges und dem Ruheplatz der Sonne (Strabo 7,7,2.).
Auch die Verbindung der Vorstellung einer Welt- oder Sonnensäule mit dem Stieropfer, wie es das hier vorgelegte Felsbild zeigt, ist keineswegs überraschend. So, wie die Allsäule allein unter dem Patronat der höchsten Gottheit stehen konnte, so musste der Stier - als Symbol- und Opfertier der himmelsväterlichen Zeugungskraft - Bestandteil des Weltsäulenkultes werden. Im Atlantisbericht Platos heißt es, dass im Heiligtum des welterhaltenden Gottes eine Säule stand, an der zum feierlichen Anlass ein geweihter Stier geschlachtet wurde. Im Norden lässt sich bis in die Neuzeit hinein eine derartige Kulttradition nachweisen. Jens Kildal berichtet 1730 von den Gebräuchen der Lappen, denen vielfältige Übereinstimmungen mit der nordgermanischen Volksreligion zugrunde lagen. Ihrem Hochgotte Maylmen (der dem germanischen Freyr entspricht) zu Ehren, errichteten sie am Opferaltar eine Stütze mit einer Gabelung am Ende, Maylmenstytto genannt, mit der er die Welt aufrecht erhalten sollte. Diese Stütze wurde mit dem Blut des Opferochsen eingerieben. Darüber hinaus verdient der Bericht eine besondere Beachtung, in dem es heißt, die Genitalien des Opfertieres hätten mancherorts eine dominierende Rolle gespielt.*3 Daraus würde sich zwanglos eine Erklärung dafür ableiten lassen, warum der Opferstier des besprochenen Felsbildes mit dem Hinterleib im Opferkessel hängt.
Auch über die jahreszeitliche Einordnung des Opferzeremoniells lässt sich eine Vermutung anstellen: Das Felsbild von Kasen liegt auf 58,38° nördlicher Breite. 1.000 v.0 stand hier der Sonnenaufgang der Sommer-Sonnwende (Sonnenhöchststand) bei 141,8° und der Sonnenaufgang der Winter- Sonnwende (Sonnentiefststand) bei 42,6°, wenn die Azimute vom Südpunkt beginnend nach Osten herum gerechnet werden. Die den Sonnen-Aufgangspunkten entsprechenden Untergangsazimute ergeben sich durch Bildung des Winkels vom Südpunkt nach Westen herum.
Die Felsgravur der Sonnensäule mit Stieropfer-Zeremoniell ist gerichtet auf 135° und weicht mithin von der Aufgangspeilung des Sonnenhöchststandes lediglich um 7° ab, was bei einem Gebilde der Gesamtlänge von 33 cm und einer geographischen Lage mit kurzem hügeligem Horizont als minimal bezeichnet werden darf. Die beiden Radkreuzräder sollen wohl die Ost-West-Achse anzeigen, denn sie weichen von dieser nur um 10° nach Süden bzw. nach Norden ab, was durch die wellige Landschaftsformation bedingt sein dürfte. Eine exakte Ost-West-Peilung in Zeiten der Tag-Nacht-Gleichen ist in diesem Gelände unmöglich. Von der Sonnen-Kultsäule eilt ein Reiter hinweg in Richtung 42,6°, dem Aufgangspunkt des tiefsten Sonnenstandes entgegen. Ob es sich um den in späterer Zeit gut belegten „berittenen Todesdämon“ handeln könnte, ist für die Bronzezeit bislang noch ungeklärt.
Vom Untergangspunkt des tiefsten Sonnenstandes dagegen kommt die Fußspur des göttlichen Licht- und Fruchtbarkeitsspenders in das Bildzentrum hineingeschritten.
Die der Doppelstütze aufliegende Sonnenspiralbahn verläuft in der Richtung zwischen dem Aufgangspunkt des tiefsten Sonnenlichtes (42,5°) und dem Untergangspunkt des höchsten Sonnenlichts (218°). Auch diese Anordnung lässt auf eine symbolcharakterliche Aussage schließen.
Die ikonographische Verbindung der Weltenstütze mit der spiraligen Sonnenlaufbahn lässt sich bis in die Denkmäler des spätheidnischen/frühchristlichen Synkretismus hinein verfolgen. Aus der Fülle des Materials seien hier einige Beispiele vorgestellt:
Abb. 5: Reliefverzierter Topf, Boden - ø 9 cm, Fund- und Aufbewahrungsort unbekannt; evtl. aus Umkreis der Kura-Araxes-Kultur, 3. Jahrtausend v.0. (?)
Abb. 6: Scheibenförmiger goldener Anhänger, Museum Stockholm; aus Birger Nerman „Die Völkerwanderungszeit Gotlands“, Stockholm 1935
Abb. 7: Scheibenfibel aus einem Grab nördl. des Walles von Haithabu, ca. 8. Jh. n.0.; Wikingermuseum Haithabu/Schleswig
Abb. 8: Schmuckanhänger v. Vennebo, Roasjo, Westgotland, Mus. Stockholm
Abb. 9: Altfränkischer Grabstein, Trier, St. Matthias, Abteibesitz
Abb. 10: Taufsockel von Rieseby/Schl.-Holst.; Import aus Gotland 12. Jh.
Abb. 11: Langobardischer Fibelkopf aus Pannonien, 5.16. Jh.
Abb. 12: Taufsockel-Relief von Karby/Schl.-Holst., Import aus Gotland 12.Jh.
Sonnenspirale und Sonnenspiral-Säule sind in reichhaltigen Formgebungen in der heidnisch-germanischen Kleinkunst anzutreffen und finden sich in ununterbrochener Kontinuität vom Zierdekor der beginnenden germanischen Baukunst des Frühmittelalters bis hin zur Spätzeit lebendiger bäuerlicher Volkskunst des germanischen Siedlungsraumes. So findet sich der Sonnenspiral-Baum auf Taufsteinen und Tympani, wie beispielsweise im Bogenfeld der Kirche zu Grebehna/Sachsen (Abb. 13) und dem Türsturz des alten Würzburger Domes (Abb. 14)*4
Im christlichen Kreuzeskult wurde schließlich die vormalige Sonnen-, Säulen- und Baumverehrung aufgefangen und paralysiert. Sonnenrad-Kreuze, Baumkreuze und Weltenstützenkreuze fanden ihre künstlerischen Ausgestaltungen. Das Kreuz vom Stein bei der St. Brigids-Quelle (Cliffony, Country Sligo, Irland, Abb. 15) wurde mit der Sonnenlaufbahn bekrönt und durfte so auch als Weltensäule verstanden werden. Auf dem Stein von Killoran/Schottland ist das Querholz des Kreuzes zu Spiralarmen stilisiert als ein tiefsinniges Anschauungsbild für den Jahrgang des welterhaltenden Gottes. (Abb.16)*5
Der bronzezeitliche Künstler, welcher das Bild von Kasen in die Bohusläner Granitfelsplatte hinein schliff, hat der religionsgeschichtlichen Forschung einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Er schuf die bisher älteste bekannte Darstellung im frühgermanischen Norden der insbesondere von schriftlichen Zeugnissen her bekannten heidnisch-sächsischen Irminsul - der Welt- und Sonnensäule.
Quellenweisung:
(*1) F.H. Hamkens, "Der Externstein", 1971, S. 214
(*2) E. Kuhn, "Die Bauornamentik des St. Kiliansdomes in Würzburg um die Zeit des heiligen Bruno", in "Würzburger Diözesan.Geschichtsblätter", 46. Bd., 1984, 5. 134
(*3) E. Manker, "Die lappischen Zaubertrommeln", Stockholm 1950. 5. 80 u. 89
(*4) siehe *2 (war vermauert im Erdgeschoß Wohlfahrtsgasse 8, Würzburg; am 16.3.1945 zerstört)
(*5) F. A. van Scheltema, "Die Kunst unserer Vorzeit", 1936, Tafel LXVI