Viele Völker sprechen von einem Welten- oder Himmelsbaum, der tief in der Erde wurzelt und des­sen Krone bis in den Himmel hinaufreicht. Der Baum wurde zum Symbol des einheit­lichen und orga­nisch gewachsenen Weltalls. Als Weltachse verbindet er die drei kosmischen Bereiche: Himmel, Erde, Unterwelt (germ.: Asgard, Mitgard, Hel). Er ist Mittelpunkt der Welt und Stütze des Universums. 1) Schon die indogerm. aus dem Nordwesten nach Anatolien um 3.000 v. 0 eingewanderten Hethiter verehrten den immergrünen eya(n)-Baum, wohl eine Eibe, die das gesamte Heiltum des Königshauses versinnbildlichte und das Symbol des Fruchtbarkeitsgottes Telipinu war. 2)
 
Auch die spätheidnische, nordgermanische Edda (Völuspa 19, 1) erzählt von der heiligen, im­mer­grünen Esche, dem größten und herrlichsten aller Bäume, dessen Name „Yggdrasill“ ist. Da „Yggr“, von altnord. „ýgr“ = „grimmig“, als Beiname des Gottes Odin belegt ist, deutet man landläufig „Ygg-drasill“ = „0dins-Träger“ in Berücksichtigung des bekannten My­thos, nach dem sich Odin sel­ber speerverwundet in die Zweige der Weltesche hängte, um Runenwissen, also die Ideenmuster der Urzeugung, zu erlangen.
 
Nach tiefergehender, histori­scher und sprach­licher Untersuchung ist jedoch die Feststellung zu treffen, dass der germani­sche Weltenbaum sicher als Eibe und nicht als Esche ge­schaut wurde. Eine „immergrüne Esche“ ist ein Unding - die berühmte heilige, immergrüne Eibe war es, welche am heidni­schen Hof zu Uppsala wuchs. Darüber berichtete Adam v. Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte (Schol. l38 aus den Jahren 1075-8l). Und da der germanische Eibenbe­griff in manchen alten Formen einen Guttural aufweist (ahd. „ïgo“, schweiz. „ïge“), so konnte aus urgerm. „igwa-“ ein altnord. „yggwa-“ werden. Das zweite Wortglied „-drasill“ aus urgerm. „dra­silaz“ hat die Grundbedeu­tung „Träger“ und weiterhin „Säule“. Hinzu kommt, dass an hochbedeut­samer 12. Position in altgermanischer Buchstabenordnung des ODING ebenfalls die Eibenrune er­scheint, so dass mit Sicherheit gesagt werden darf: Die nordgermanische „Weltesche Yggdrasil“ war ursprünglich eine Eibe. Es mag sein, dass der urherkömmliche Welteibenbegriff in später isländisch-eddischer Zeit durch den Odinsbeina­men neu ausgedeutet wurde. „Yggdrasil“ wäre also die „Eiben­säule“, was mit der Vorstellung von dem das All tragenden Weltbaum in bestem Einklang steht. 3) In den hochmittelalterli­chen Runengedichten wird die Eibe in der Schwundform „yr“ genannt. Von ihr heißt es im norwegischen Runenlied: „Yr ist der wintergrünste Baum.“ Das „Abcdarium Nordmanni­cum“, eine Erläuterung der jüngeren Runenreihe, spricht sogar unverhohlen den Welten­baumsinn aus, wenn es sagt: „yr al bihabet“, wörtlich übersetzt: „Eibe enthält alles“.
 
Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die ur-runische ODING-Reihe den Buchsta­ben des germ. Himmelsvaters Tiwaz/Tyr (), also den höchsten Erhalter der Welt­ord­nung, an 8. Stelle führt. Nicht nur, dass 8 die erste Kubikzahl ist und deshalb der Raum­gottheit von rechts wegen zusteht, darüber hinaus beträgt ihre arithmetische Summe (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 =) 36, deren Bedeutung noch erklärt werden soll. Es dürfte aus diesen und anderen Gründen nicht völlig abwegig sein, die eddische Lebensbaum-Eibe „Yggdrasil“ mit der in fränkischen Annalen erwähnten „Irminsul“, dem altsächsischen All­säulen-Standbild, vorsichtig wägend zusammenzudenken. „Irmin“ = „der Erhabene, Mäch­tige“ war ein Beiname des Tiwaz; die „lrminsul“ demnach die Tragsäule Gottvaters. Der arge König Karl, dem die Christenkirche den zweifelhaften Ehrentitel „der Große“ beilegte, ließ die Irminsul, das Himmelssäulensinnbild, im Jahre 772 zerstören. Unzählige weitere Frevelta­ten christlich be(ver)kehrter Enthusiasten folgten. Insbesondere ihr frenetischer Hass gegen das schönste Sinnbild der gesunden, wohlge­fügten Naturkraft - den Baum - eröffnet er­schreckende tie­fenpsychologische Eindrücke in die abgründigen Winkel der judäo-christlichen Wüstenreligion mit ih­rer Wüstenseligkeit. Typisch dafür war die Hetze des Bischofs Burchard von Worms, der um das Jahr l000 in seinem Buß­buch anmerkte: „Man soll ausreißen und verbrennen die den Unholden geweihten Bäume, die das Volk anbetet und in solcher Vereh­rung hält, dass es keinen Ast abzureißen wagt.“
 
In der 24-typischen Ur-Runenreihe steht die Rune mit dem Namen „Eihwaz“ = „Eibe“ () nach linksläufiger ODING-Zählweise an 12. und nach rechtsläufiger FUÞARK-Zählweise an 13. Stelle. Da den universitären Runologen die ODING-Erkenntnis bislang verschlossen blieb, gehen diese von nur einer Möglichkeit, nämlich der Zusammengehörigkeit der gematrischen 13 und der Eiben-Rune aus.
 
Insbesondere der fleißige Auszähler Heinz Klingenberg 4) wurde Opfer des Trugschlusses, dass sich die - nicht nur im runischen Fundmaterial - oft erschei­nende gematrische Größe 13 ausschließlich auf den Eiben-Weltbaum beziehen würde. Völlig entgangen scheint ihm die sichere Nachweisbarkeit der ambi­valenten 13 als ein sehr altes Zeitsymbol. Schon die frühe­ste bekannte Menschendarstellung des ca. 30.000 Jahre alten elfenbeinernen Kalenderblätt­chens aus der Geißenklösterle-Höhle im schwäbi­schen Achtal demonstriert die Zeitzahl 13 ebenso wie die Kerbungen auf dem „Mondhorn“ der pa­läolithi­schen „Venus von Laussel“ in der französischen Dordogne. Schließlich geht aus manichäi­schen Schriften hervor, dass die 13 gera­dezu als Symbol des Zarvan, des Zeitgottes, galt. Nicht anders scheint der Runenschöpfer ge­dacht zu haben, der die Jahr-/Zeitrune () auf die l3. ODING-Position gab. Sind es doch 13 Mondläufe (Sternmonate) zu je 27 oder 28 Nächten, welche ein Sonnenjahr ergeben. Die mit­telalterlichen Volksrätsel über den Jahres­lauf kennen ebenso 13 Monate: „Ein Baum hat 13 Äst‘ - und jeglicher Ast hat 4 Nester - und in jeglichem Nest sind 7 Junge.“
 
Dem Weltenraum aber wurde die 12-Zahl zugeordnet, zumindest seit die Autorität Platos (427-347 v. 0) dafür warb. Er vermutete im Dodekaeder (Zwölfflächner) die Gestalt des Weltganzen. 12 Fünf­ecke (Pentagone) bilden nach dieser Theorie die Begrenzung der Raum­totalen - gebildet durch 12 x 5 = 60 Dreiecke, die sich zum regelmäßigen Körper des Welt­raumes aneinanderfü­gen (siehe Titelabbil­dung).
 
Zweifellos wurde der Weltenbaum () als ein Sinnbild für die Weltgesamtheit verstanden, wel­che sich nach der Begrifflichkeit germanischer Runenlogizität ebenso im Gesamtkörper der 24 Runenzeichen symbolhaft widerspiegelt. Wie könnte die Weltbaum-12 der 24 entspre­chen, aus welchem Betrach­tungswinkel ist sie ihr gleichgestellt ? Ein Grundbestandteil der alten godischen (urpriesterlichen) Weis­heit des runologischen Weltdeutungsvermögens bestand in einer Art Ma­thematik, welche nicht - wie die heutige - ausschließlich abstrakt, logisch, son­dern vorwiegend symbolisch orientiert war. Einer solchen Zahlenkunde musste sich die Er­kenntnis von der Gleich­artigkeit der 12 und der 24 geradezu aufdrängen. Denn mittels Quersummenziehung schrumpft die 12 zum Kernwert 3, und die 24 ver­kürzt sich zur 6, welche nichts anderes als die erste Er­weiterung bzw. so eine Art Frucht darstellt, deren Kern die 3 ist.
 
Unmissverständlich fußt ja die gesamte ODING‘sche Metaphysik auf der gematrischen 6, welche man auch als einen Tabernakel begreifen könnte, der in seinem Inneren die göttliche 3 für un­eingeweihte, profane Augen verhüllt. Nicht nur die 24 Runen verdichten sich zur Quersumme 6, darüber hinaus besteht das System aus 6 Urlauten und 3 x 6 Mitlauten. Von den Alten ist die 6 als „Vollkommene Zahl“ (griech. „arithmos teleios“) verstanden worden, weil ihr die Teilersummen gleich sind (ein­schließlich 1, ausschließlich der Zahl selbst). Diese Definition geht mindestens zurück auf den griechi­schen Mathematiker Euklid, der im 4. Jh. v. 0 die „Ele­mente“, sein berühmtes Lehrbuch der Geome­trie; verfasste. 6 hat die Teiler (Di­visoren) 1, 2, 3; die Summe von 1 + 2 + 3 und das Produkt von 1 x 2 x 3 ergeben wieder 6. Solche Zahlen besitzen gewissermaßen einen Inhalt, der ihrem äußeren größten Wert ent­spricht; bei ihnen deckt sich Äußeres und Inneres. Die Zahl 3 spielt, wie wir erken­nen, die esoterisch-versteckte, aber eigentlich zentrale Rolle im Runendenken bzw. im runischen Welt­verständnis. Bei Addition aller 24 Runenzahlen erhalten wir die Summe 300, also letztlich wieder 3. Anlass zur Verwun­derung kann dieser Umstand unverkennbarer Hochschätzung nicht sein; sind doch Raum und Zeit (und daraus mitresultierend auch Gott) selbst nie anders als durch diese Zahlenmeta­pher umschrieben worden, so dass noch unser Dichterfürst Fried­rich Schiller reimte:
 
              Dreifach ist des Raumes Maß, Dreifach ist der Schritt der Zeit:
             Rastlos fort ohn‘ Unterlass Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
              Strebt die Länge fort ins Weite, Pfeilschnell ist das letzt entflogen,
              Endlos gießet sich die Breite. Ewig still steht die Vergangenheit.
 
Die 12 ist in ihrer Funktion als Welteibenrepräsentant eine vielschichtig stimmige, faszinie­rende Zahl. Der Mythos lässt den Weltbaum in der Weltmaterie wurzeln, welcher durch die Zahl 4 definiert wurde. Er wächst aus 4-elementiger und 4-endiger Erde (Norden, Osten, Süden, We­sten) in jene Himmelswelt des Geistes, die wiederum durch die 3 ihre Versinnbild­lichung fand. Aus diesem Gleich­nisbild leitet sich die Multiplikation Materie x Geist (4x3 = 12) ab zur my­thischen Charakterisierung des Weltbaumes. Seine lichterbesteckte Krone strebt in die Fixstern­räume der 12-fachen Kräftestrah­lung des Tyr-/Gotteskreises (Zodiakus) hinauf. Welch eine tief­sinnige Betrachtung ergab sich daraus, dass die runische Eiben-12 als Verwe­bung einer Dreiheit mit einer Vierheit erlebt werden durfte !
 
Aber nicht nur in den Reigen der 12 Tier-/Tyrkreissternbilder strebte nach antikem Ver­ständnis der heilige Baum hinan, sondern darüber hinaus in den gesamten weiten Himmelszir­kel von 360°. Da jede der vermuteten 12 zodiakalen Kräftewirkungen sich wiederum in drei­facher Art kundgab. konnte aus ihnen allein ein Chor von 3x12 = 36 Kräftewirkungen wer­den. Die -Welteiben-Rune auf 12. Posi­tion im runischen Zeitkreis des ODING nimmt beim einfachen Wei­terzählen über 24 hinaus auch die 36. Stelle ein - erstaunlich und faszinierend, wie in dieses ODING‘sche Runenzahlen-Bauwerk jeder einzelne gematrische Wert so hinein­passt und hinein­gehört wie Stein für Stein ins Maßgefüge einer gotischen Kathedrale.
 
Wenn also der Runenschöpfer - dem altgläubigen Denken gemäß - die 12 mit der 36 zu­sam­men­schaute, dann müsste ganz selbstverständlich auch die 6 in diese Gemeinschaft hin­eingehö­ren - denn alle drei Zahlen sind (nicht nur runische) Gleichnisbilder für die Gesamt­heit. Die 6 steht ja mit 36 in allerinnigster Beziehung. Wenn die 6 eine multiplikative Verbin­dung mit sich selbst eingeht (6x6 = 36), dann muss das Ergebnis als Kraft- oder Wesensent­faltung dieser Zahl verstanden werden. Ein gleiches Grundverständnis lebt noch in heutiger mathematischer Spra­che, wenn wir die Produkte aus mehreren gleich großen Faktoren „Po­tenzen“ (Kräfte) nennen.
 
Dass die in das altheilige Zahlenwissen Eingeweihten wirklich weltweit kulturüberschneidend so dach­ten, das zeigt auch dieses aus dem 1. Jh. v. 0, aus der Zeit der Ptolemäer stammende Bild des astrolo­gischen Sternenhimmels an der Decke des gut erhaltenen ägyptischen Hathor-Tempels (in der Nähe des heutigen Dendera). Es stellt den Himmelskreis dar, welcher von 12 Sternbil­dern gefüllt und von 36 Bildgestalten umrundet wird. Und der mindestens l000 Jahre ältere berühmte frühgermanische Sonnenkultwagen aus dem Moor von Trund­holm/ Däne­mark führt auf den Diskusflächen in hervorge­hobenen mittleren Ornamentringen auf beiden Seiten zusam­men 36 Sonnenradkreischen. Seine ma­thematische Gesamtaussage demonstriert 360 als Cha­rakterzahl des Kreises bzw. als Tagesrundzahl der alten Sonnenjah­resrechnung. 5) 36 lässt sich zur Quersumme 9, der potenzierten 3 (3x3) verkür­zen.
 
Die oben gegebenen Hinweise machen die Annahme wahrscheinlich, dass der Runenschöpfer und sein germanischer Kultkreis ebenso wie die hellenistischen Ägypter das Himmelsrund nicht bloß in der Zahl 12, sondern auch in der Zahl 36 erlebten. Nachweislich wurden mit der 36 aber noch viel wei­terreichende Gedanken verknüpft. Der Apollopriester und Autor vielgelesener Bücher, Plutarch (46-125 n. 0), berichtet in „Iside et Osiride“ von der An­schauung der Pytha­goreer folgendes: „Die soge­nannte Tetraktys [Vierheit], die aus 36 be­steht, galt bekanntlich als der höchste Eidschwur und war Welt genannt, weil sie entsteht aus der Verbindung der ersten geraden und ungeraden Zahlen.“ Die 4 als Zahl der Weltelemente und mithin als eine Art Basis­zahl erschien den zahlenspekulierenden Pytha­goreern hochbe­deutsam. Sie addierten die ersten vier ungeraden Zahlenwerte (1+3+5+7) mit den ersten vier geraden Ziffern (2+4+6+8) und erhielten 36. Wir Heutigen gehen über solche Be­trach­tungsweisen einer Zahl rasch hinweg und messen ihr keinerlei Bedeutung mehr zu, ja lächeln wohl auch nachsichtig über derartige Spielereien. Doch die philosophierenden Ma­thematiker alter Zeiten liebten es, sinnend bei den in einer Zahl enthaltenen Prozessen zu verweilen und sich in dieselben auf meditative Art zu versenken. Ihren - insbesondere den pythagoreischen und runologischen - Zahlen­systemen lag aber im tiefsten das uralte Bedürfnis zugrunde, eine auf rationaler Basis aufbauende welterklä­rende Weltharmonie aufzuzeigen. In dieser bis in die Neuzeit lebendig gebliebenen Tradition stand schließlich noch der deutsche Astronom, Physiker und Mathematiker J. Kepler (1564-l630), der an die Ästhetik des Weltbaues glaubte und nicht von ungefähr sein Hauptwerk „Harmonices mundi“, „Die Har­monien der Welt“, betitelte. Und sein Zeitgenosse G. Galilei war überzeugt: „Das Buch der Natur ist in mathematischen Lettern geschrieben“
 
Aus dem Vergleich von 12 und 36 eröffnet sich der Zugang zur Erkenntnis von der Gleich­artig­keit und Zusammengehörigkeit beider Zahlen. Wir erfuhren, dass den Platonikern der Kosmos als 12-flä­chiger Körper erschien und die 3x12, die 36, von den Pythagoreern als „Welt“ bezeich­net wurde. So wird uns auch die runische Verbindung der Welteibe mit den Zahlen 12 und 36 immer verständli­cher. Dass die Welt (der Weltbaum) eine Synthese von Gegensätzen, von mate­riellen und spirituellen, von körperlichen und geistigen Gewichtungen darstellt, das galt den Al­ten so greifbar wie uns selbst. Und dieses Verständnis führt die 12 geradeso wie die 36 vor Au­gen, sind doch beide Zahlen Produkt bzw. Summe der Gegen­sätze des Ungeraden und Geraden, worin die Zahlenmystiker Versinnbild­lichungen des Trans­zendenten und Stofflich-Strukturellen erblickten. Jenes Gegensatzpaar der „unge­raden“ 3 und „geraden“ 4 sollte stellvertretend für jegliche welterhaltende Polarität gelten, gleich zweier Waagschalen, auf denen auch die anderen Offenbarungen der sich ergänzenden Weltgegen­sätze pendeln, wie: Sonne-Mond, männlich-weiblich, Himmelsvater-Erdmutter, Tag-Nacht, Hoch-Tief, Adler-Schlange, letztlich auch Le­ben-Tod.
 
Wir beschauen das Buchstabensymbol der Eibenrune () und erkennen, ohne dass viele Worte nötig wären, welch eine für sich selbst sprechende Hieroglyphe sie ist, ganz im Sinne unserer zahlenmytho­logischen Ergebnisse. Zwei einfache lineare Häkchen an Fuß und Haupt der stati­schen Himmel und Erde verbindenden Zentralsäule verständlichen die Kräfte des Hinaufstreben­den und jene des Hinab­wirkenden. Ja, auch in der Wahl der Eibe zum germani­schen Welten­baum drückt sich die notwendige Einheit von Lebensbaum und Todesbaum ganz realistisch aus. Julius Cäsar meldete, dass in seiner Zeit in den germanischen Wäldern die Eibe sehr zahlreich, damals also auch wohl von hervorragender Größe, vorgekommen sei. Eiben können bekanntlich riesenhafte Ausmaße annehmen und sehr alt werden. Sie wachsen all­mählich bis zu 12 und 17 Meter hohen und bis zu 4 Meter dicken Bäumen heran. Zu Braburn in der englischen Grafschaft Kent stand ein Exemplar, dessen Alter auf 3.000 Jahre geschätzt wurde; der Stammumfang be­trug 18 Meter. 6) Die an ein gültiges Weltbaumgleich­nis zu erhebende Forderung der Doppel­wertigkeit (Ambivalenz) erfüllt die Eibe - einmal durch ihre Zwei­häusigkeit (es existieren Bäume mit männlichen und weiblichen Blüten) zum anderen wegen ihrer Er­scheinung als Pflanze des Lebens und des Todes. Ihr negativer Aspekt war im Altertum allgemein be­kannt. Wegen ihres harten und elastischen Holzes wurden Ei­benbogen als Waffe sehr geschätzt. Die Ketten vergifte­ten ihre Lanzen- und Pfeilspitzen mit Eibenextrakt. Das sehr giftige Alkaloid Taxin wirkt lähmend auf Kreislauf und Atmung. Der Herzschlag verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt; mit Herz­still­stand und Atemlähmung tritt der Tod ein. Auch als Abtreibemittel bei ungewollter Schwanger­schaft fanden Eiben­ab­kochungen Verwendung. Andererseits wurden in der Homöopathie aus frischen Eiben­nadeln stark verdünnte Zubereitungen hergestellt, die sich bei Leberleiden, Herz­krankheiten, Gicht, Rheuma und Erkrankungen der Harnblase bewährten. Auch dies dürfte im Altertum nicht un­bekannt geblieben sein. In Angelrode (Thüringen) war es noch in den siebzi­ger Jahren des 19. Jahrhunderts Brauch, dass alt und jung alljährlich am Sonntag Trinitatis Ei­benzweige brachen, die dann in Keller, Küche, Stuben und Stall gesteckt wurden, ein Herkom­men, dem wohl ursprünglich der Gedanken der Hexenabwehr zugrunde lag. Heißt es doch an anderen Orten Thüringens, dass das Räuchern mit Eibenholz alle unreinen Geister vertreibe. In dem Waldmärchen „Das Wunder im Spessart“ fragt der Schüler die Elster um ein Mittel, die verzauberte Prinzessin zu befreien. „Oh schrie der Vogel, wenn ihr mich fragt, so gibt es das, Unser weiser Alter in der Kluft hat den Eibenbaum in Verwahr, wenn ihr davon einen Zweig bekommt und mit demselben die Stirn der Schönen dreimal berührt, so weichen alle Fesslungen von ihr -, denn vor Eiben die Zauber nicht bleiben !“ 7) (s. Abb. 2a = Eibenbaum)
In der ideal-jahreszeitlichen Abfolge der ODING‘schen Runenordnung nimmt das Welteiben­zeichen die Vollmondphase vor der Sommersonnenwende ein, also zum Ende des heutigen Monats Mai. Demnach besteht etwa Deckungsgleichheit mit noch heutiger brauchtumsmäßi­ger Sitte der Maibaum- bzw. Jahresbaumerrichtung, welche in den verschiedenen deutschen Gauen schwankend vom 1. Mai bis zur Sonnenwende erfolgen kann. Bei frisch geschlagenen Bäumen (Tannen, Fichten) bleibt der Wipfelboschen erhalten, oder es wird dem Maibaum ein Gipfel­schmuck aus frischen Ästen angeheftet. In altgermanischer, also frührunischer Zeit müssen dafür singrüne Eibenzweige verwendet worden sein.
 
Die älteste bisher bekannt gewordene schriftliche Nachricht über den Maibaum stammt aus dem Jahre l225, als in Aachen ein missgünstiger „Leutepriester“ unter den Protesten der Be­völkerung die be­kränzte Baumstange umhieb. Dem Fanatiker zum Schimpf ließ jedoch unmit­telbar darauf der Jurist Wilhelm einen noch höheren Maibaum aufrichten. Trotz solcher erst hochmittelalterli­chen Kunde dürfen wir sicher sein, dass dieser altheilige Brauch selbst weit über die Entstehungs­zeit der Runen hinaus in graue Vorzeit zurückreicht. In Gestalt schwedi­scher Felsritzbilder (Lilla Gerum, Ta­num/Bohuslän) ist er ebenso nachweisbar wie als realer Fund in den Mooren Europas von den Alpen bis England/lrland und Skandinavien - seit der frühen Bronzezeit. Teils sind es durch Schmuck ver­schönerte Zweige, mit Blumen ge­schmückte Stäbe bis zu 2 m Länge sowie große, schlanke, entrin­dete, aber mit Spitzen­schmuck versehene Bäume von über 15 m Höhe, die am Ende der Baumfeiern als Opfer­gaben im Moor niedergelegt wurden. 8) Die gedankliche Verknüpfung der Weltsäulenidee mit dem Gleichnis eines Erde und Himmel verbindenden - oder gar ausfüllenden - Weltbaumes kann nur auf der Beobachtung in nördlichen Breiten beru­hen, dass sich die Himmelsglocke um den Nord­stern herum über einer Weltachse zu drehen scheint - ein nordisch inspirierter Mythos also !
 
 
Abb. 2 a        +         b
 
Wie eng die altgermanische Lebensbaum-Eibe mit der höchsten Himmelsgottheit verbunden war, geht noch aus den Resten der altnord. Ullr-Mythe hervor. Der Gottesname „Ullr“ ent­spricht dem goti­schen Wort „wulðus“ = „Herrlichkeit“. Dem eddischen Grimnismál (5) zu­folge steht die Halle des Ullr in „Ydalir“, im „Eibental“. Daraus ist seine Beziehung zum im­mergrünen Wel­tenbaum und dessen Fruchtbarkeitaspekten ablesbar. Ein anderes der Ullr-At­tribute ist der Al­tar-Ring, ein Sinnbild auch der raumzeitlichen Unendlichkeit. Wenn Ullr nicht eine Erscheinungs­form oder nur ein Kultname des höchsten Himmelsherrschers (Ti­waz/Tiu/Tyr) selbst war, dann muss er neben diesem doch völlig gleichwertig gestanden ha­ben. Ein bedeutender Gelehrter meinte: „Im skandinavischen Norden wäre dann der ster­nenbesäte Nachthimmel im Winter der großartige Ausdruck seiner göttlichen Maje­stät“ 9)
 
Eine bronzezeitliche Felsgravur von Lövasen/Schweden (s. Abb. 2b) belegt die kultische Hoch­schät­zung der Eibe schon für die urgeschichtliche Epoche. Keine einzige ordentli­che Laub­baumdarstellung lässt sich in der Felsbilderwelt des Nordens auffinden, wohl aber dieses symbol­trächtige Nadelbaum­bild (Länge: 67,5 cm) mit der Wurzeltriade und der Dreispross­spitze. Wozu die Fichte nicht neigt, ist typisch für die Eibe: die tief unten am Hauptstamm entspringenden Tochterstämmchen.
 
Es war die ODING‘sche Runenerkenntnislehre, die uns ein Fenster aufstieß und einen Blick ge­währte in die Weiten urgermanischer Verständniswelten. Wir hörten von Zahlen- und Ide­enbil­dern, mit de­nen die alten Weisen ihre naturphilosophischen und naturtheo­sophischen Welterklä­rungssysteme stütz­ten. Wir Heutigen, naturwissenschaftlich soviel Klügeren können aber die Grundaussage des Pythago­ras - gerade aus unserer streng ra­tionalen Sichtweise - un­eingeschränkt gelten lassen: „Alles ist Zahl“ Und auch die These des Runenschöpfers, die er kundgab, indem er für Weltenbaum und Runenge­samtheit die Kernsumme 3 bestimmte, ge­winnt aus der Er­kenntnislage moderner Physik zunehmend Verständnis: „Alles ist Geist/Energie“
 
Quellenangaben:
1) Sibylle Selbmann: Der Baum, Symbol und Schicksal des Menschen, Karlsruhe 1984
2) Die Hethiter und ihr Reich - Das Volk der 1000 Götter, Ausstellungskatalog, Bonn, 2002
3) Franz Rolf Schröder, Ingunar Freyr, Unters. z. germ. u. vergleich. Rel.-gesch. 1941, S. l0ff
4) Heinz Klingenberg, Runenschrift - Schriftdenken, Heidelberg 1973
5) Gerhard Heß, Zahlenmythologische Deutungen des bronzezeitlichen Kultwagens von Trundholm, in: DGG 3/94
6) Eduard Mielck, Die Riesen der Pflanzenwelt, 1863, S. 106ff
7) Heinrich Marzell, Die Pflanzen im deutschen Volksleben, 1925, Eibe = S. 18f
8) Alfred Dieck, Dendrophori, Dendrobatai u. geschmückte Bäume i. Kult u. Brauch seit d. frühen Bronzezeit bis heute, in: Fund­berichte aus Hessen, 19./20. Jg. 1979/80, S. 849-929
9) Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, Berlin 1957, 5. 153ff