MOORA
 
Rom war ein Dorf ohne Mauer und Tor,
da starb ein Mädchen im Uchter Moor.
Es sank in den Sumpf ohne Kleidung, bloß,
ihr warfen die Nornen ein arges Loos.
 
Viele Freuden hatte sie nie gekannt,
in diesem armen germanischen Land -;
der Vater erschlagen, die Mutter tot,
sie kannte ihr Lebtag des Hungers Not.
 
Als Kind schon wurde sie Pferdemagd,
ohne Schonung hat’ sie sch abgeplagt,
sie schleppte die Eimer vom Wasserlauf,
so wuchs sie in dumpfester Mühsal auf.
 
Einmal, da war’s ihr vom Darben schlecht,
 sie stahl ein Brotstück vom Rinderknecht.
Der schlug ihr den Ziemer über den Zopf,
da sprang ihr Blut aus dem wunden Kopf.
 
Ihr zarter Leib war schmal und schwach,
wie ertrug sie nur all dieses Ungemach ?
Und in jedem Winter des Hungers Qual -,
so schien ihr das Sterben die richtige Wahl.
 
Sie wusste sich für das Leben zu krank,
da lief sie ins Moor als die Sonne sank,
und watete tiefer und tiefer hinein,
befreit von Verachtung, Hunger und Pein.
 
Leichten Herzens ließ sie die Welt zurück,
die schenkt kein Erbarmen, die gab kein Glück,
vielleicht, dass es drüben ein Besseres gibt ?
Es hat’ sie im Leben kein Mensch geliebt.
 
Keiner weiß ihren Namen, kennt ihr Geschick,
was ich schrieb, erdacht' ich im Augenblick,
keiner wird es jemals genau erfahren -,
es geschah vor zweitausendsechshundert Jahren.
 
Als im Herbst des Jahres 2000 beim Torfstechen im Uchter Moor, nahe Warmsen im Ldkr. Nienburg/Weser, eine zartgliedrige nahezu unversehrte Frauenhand gefunden wurde, war man anfangs geneigt, einen aktuellen Mordfall zu vermuten. Es stelle sich aber bald heraus, dass es sich um die älteste bis dahin entdeckte Moorleiche Niedersachsens bzw. Nordwestdeutschlands handelt.

Die veranlasste Radiokarbondatierungen zur Altersbestimmung der zierlichen Frauenleiche, sowie von Torfproben des Fundortes am Leibniz-Labor/Kiel, erbrachten die Gewissheit: Di
e Tote war in der germanischen Eisenzeit um 650 v. 0 ins Moor gelangt, sie ist mithin ca. 2.700 Jahre alt. Die junge Frau maß zu Lebzeiten ca. 1,50 m und war 15 bis 19 Jahre alt. Als sich dieses altdeutsche Mädchen lebte, war Rom noch ein unbekanntes, unbedeutendes Dörfchen.

Die Ergebnisse der jahrelangen Forschung wurden schließlich der Öffentlichkeit präsentiert. „Moora“, wie der Backfisch benannt wurde, entstammte einer armen Sippe in der sie schwere körperliche Arbeiten verrichten musste. Sie wies gut erhaltene Fingerabdrücke auf. Als Linkshänderin musste sie häufig schwere Lasten auf dem Kopf getragen haben, möglicherweise Wasserkrüge auf den langen, beschwerlichen Stegen durchs Moor. Ihre Wirbelsäule war verkrümmt und der Schädel, in dem ein gutartiger Tumor festgestellt wurde, wies zwei verheilte Brüche auf, verursacht durch Schläge mit stumpfen Gegenständen. Zu schaffen machte ihr auch die chronische Entzündung des Schienbeins. Eine wahrscheinlich auf Tuberkulose zurückgehende Hirnhautentzündung wurde festgestellt, wie auch die sich im Knochenwachstum abzeichnenden regelmäßig wiederkehrenden winterlichen Hungerzeiten. So diagnostizierte Prof. Michael Schultz, Paläopathologe aus Göttingen. Bei ihrem Körper fanden sich weder Grabbeigaben noch Kleidungsreste von Wolle, Leder oder Pekz, sie muss entweder völlig nackt ins Moor gelangt sein, oder nur ein schlichtes Leinenhemd getragen haben.

Nach Rekonstruktion ihres Gesichtes zeigt sich ihre Erscheinung, mit schlichtem Blondhaar und langem geradem Näschen, als typisch germanisches Mädchen, das - so wie vor Zweieinhalbjahrtausenden - auch im heutigen Norddeutschland kein bisschen auffallen würde.

Im Jahre 2007 gründeten Warmser Privatleute den „Moora-Tourismusverein“ mit dem Wunsch, das berühmte Moorleichen-Mädchen für Besucher in einem „Moora-Zentrum“ erlebbar zu machen: www.moora-zentrum.de

Das Mädchen Moora ist weltweit die erste Moorleiche die mit moderner Technik wie Computertomografie, Elektronenmikroskop und Endoskopie analysiert wurde. Ihr Schädel, der in Bruchstücken gefunden wurde, ist am Computer virtuell zusammengesetzt und ergänzt worden; wie er im Lebendzustand ausgesehen haben könnte, aufgrund einer computertechnischen Rekonstruktion von Wissenschaftlern der Uni Freiburg.
 
Bild: Die Gesichtsrekonstruktion der 2.650 Jahre alten Mädchenleiche stammt von Ursula Wittwer-Backofen von der Universität Freiburg. Es gibt andere - geradezu dumme - Rekonstruktionen, die Moora, welche nachweislich 14 Hungerperioden erleiden musste, mit pummeligem Mädchengesicht darstellen.