Stendysserne von Tustrup / Djursland/ Ostjütland -
Gewitter im Anzug über Kulthaus aus der Jungsteinzeit -
G. Hess mit Tochter Edda, Juli 1985
 
 
WAHRHEIT ÜBER RAGNARÖK
 
Die vermutliche Wahrheit über Ragnarök: Man sollte sich einige Gedanken zum angeblichen Ende der Götter und dem Ragnarök in der Edda-Literatur machen. Dass diese Bezeichnung eben nicht „Götterschicksal“ oder „Götterdämmerung“ bedeutet, sondern „Ragnarök“ „Göttergericht“ (über die Welt) bedeuten muss, wird auch dadurch bestätigt, dass zuweilen statt „Ragnarök“ eben „Regindomr“ (Göttergericht) geschrieben wurde. Die Götter haben die Welt geschaffen, haben Verantwortung für die Welt, haben mit der Schöpfung etwas bezweckt. Sie erkennen, dass die riesischen Kräfte zu groß werden und ihre Schöpfung nicht in dem Sinne verläuft, wie es gedacht war: Verbrechen und Neidingstaten überall.
 
Deswegen laden die Götter alle zu einem großen Thing, Heimdall ruft mit seinem Horn dieses Thing zusammen. Hier müssten nun die Schuldigen angeklagt und verurteilt werden, doch diese kommen natürlich nicht zum Thing. Deswegen müssen die Götter zu den Waffen greifen, um die Verbrecher auf das Thing zu bekommen. Dieses Thing findet dann ja auch statt, Alföðr setzt ewige Satungen ein. Aber es gibt zuvor den großen Kampf. Hier scheinen nun einzelne Götter zu sterben, und das ist etwas, was es ja eigentlich nicht geben dürfte und nicht sein kann. Ódinn wird mit dem Fenriswolf kämpfen und von ihm verschlungen, Widar wird Seinen Vater rächen und den Wolf töten, denn Þórr kann das nicht, da er mit der Miðgarðschlange kämpfen muss; in diesem Kampf fallen beide, Frey wird durch Surt getötet, Garmr der Höllenhund kämpft mit Týr und sie fallen beide, Loki und Heimdall erschlagen sich gegenseitig. Die Sól wurde vom Wolf Sköll verschlungen, der laut Vaþruðnismál dem Fenriswolf entspricht. Es sind also außer Balder nur sechs Gottheiten, die „fallen“ werden: Óðinn, Þórr, Frey, Týr, Heimdall und Sól. Beim Gott Þórr ist der Tod nicht ganz eindeutig. In Völuspá 56 heißt es: „Es geht neun Fuß Fjörgyns Sohn Knapp weg von der Schlange, der Schande frei.“ Da steht nichts von einem Tod, und wir können diese Stelle vielleicht gleich vor die folgende der Þrymsqviða setzen: „Wild ward Vingþórr als er erwachte und seinen Hammer vorhanden nicht sah. Er schüttelte den Bart, er raufte das Haar, allwärts suchte der Jörð Sohn. Þór wird also in der älteren Vorstellung nur in eine Art Schlaf versetzt durch das Gift der Schlange, die er erschlagen hatte, und später erwacht Er wieder. In der Jüngeren Edda wird es so geschildert (Gylf. 51): „Þórr erschlägt die Miðgarðschlange und läuft noch neun Schritte weit. Dann fällt er wegen des Giftes, der Schlange, tot zur Erde.“ Vielleicht sollte man das Ende der Stelle in dem Sinne lesen, als stünde da „wie tot zur Erde“. Über Óðinn lesen wir hier: „Der Wolf verschlingt Óðinn, was dessen Tod ist. Aber gleich darauf stürmt Viðar vor und tritt mit einem Fuß in den Unterkiefer des Wolfes ... Mit einer Hand packt Viðar dann den Oberkiefer des Wolfes und reißt sein Maul entzwei. Das bringt ihm den Tod.“ Hier kommt es auf die genaue Übersetzung an und auf das nötige Verständnis von Mythen. Es ist ein Mythos vom Licht und der Dunkelheit, ein Wolf verschlingt nicht einfach einen Menschen oder Gott, das gibt es nur im Märchen, aber auch dort gibt es immer eine Fortsetzung, etwa in „Der Wolf und die sieben jungen Geislein“: „Damit schnitt sie (die alte Geis) ihm (dem Wolf) den Bauch auf, und die sechs Geiserchen, die er in der Gier ganz verschluckt hatte, sprangen unversehrt heraus.“ Bei Rotkäppchen ist es ganz ähnlich: „Da nahm er (der Jäger) die Schere und schnitt ihm (dem Wolf) den Bauch auf, und wie er ein paar Schnitte getan, da sah er das rote Käppchen leuchten, und wie er noch ein wenig geschnitten, da sprang das Mädchen heraus und rief: ,ach wie war ich erschrocken, was wars so dunkel in dem Wolf seinem Leib' und dann kam die Großmutter auch lebendig heraus.“ Rotkäppchen ist natürlich die Sonne, die vom Winterwolf verschlungen wird, wie Óðinn Himmels- und Sonnengott ist und gleichfalls vom Winterwolf verschlungen wird. Oder die Göttin Sól vom Wolf Sköll (Fenris) verschlungen wird. Auch Týr ist ein alter Himmels-Sonnengott (indogerm. Silbe ti/di = Licht/Helligkeit) und wird von einem Dunkel- oder Unterweltshund verschlungen. Bezeichnend ist eben, dass von einem „Verschlingen“ die Rede ist, nicht von einem Zerfleischen oder ähnlichem, und dass Viðars Rache darin besteht, dem Untier den Rachen groß aufzureißen – wozu das, wenn es nicht darum geht, dass Óðinn wieder unversehrt herauskommen kann ? Wir müssen uns einmal klarmachen, was die Wölfe im Naturmythos bedeuten. Sie sind Verkörperungen des Winters, der Nacht und des Dunkels. Es gibt ein Sternbild „Großer Wolfsrachen“, welches im Winter hoch am Himmel steht und das Dunkel des Winters bedeutet. Das Dunkel aber entsteht allein durch die Abwesenheit des Lichtes und durch den Schatten z. B. der Erde. In der Nacht ist es dunkel, weil die Sonne hinter der Erde, also auf der anderen Seite, steht. Das wussten auch unsere Vorfahren. Wenn Óðinn also vom Fenriswolf verschlungen wird, ist nichts anderes im mythischen Bilde ausgedrückt, als die Tatsache, dass die Sonne nun nicht zu sehen ist, denn es ist Nacht (bzw. Winter). Das ist die naturmythologische Grundlage der Bilder von Sonnengottheiten (Óðinn, Týr, Sól) und Dunkelwölfen (Fenris, Garmr, Sköll). Aber wir wissen auch, dass es nach einer Nacht wieder einen neuen Tag geben wird, nach einem Winter folgt ein neuer Sommer. Das Bild ist also nur vollständig, wenn wir die Rückkehr dieser Götter dazunehmen. Und genau diese Rückkehr Óðins beschrieb eine Strophe der Völuspá, die Christen in der Abschrift des Codex Regius wegließen, die aber durch einen glücklichen Zufall noch in der Handschrift der Hauksbok erhalten geblieben war: „Da kommt der Reiche zum Regin-Gericht, stark, von oben, der über alles entscheidet; Er spricht Urteile, schlichtet Streite, setzt heiliges Schicksal, wie es sein soll.“ Und auch unsere Volkssagen vom König im Berge, der auf seine Wiederkunft harrt (Barbarossa, Karl, Artus) bestätigen die Rückkehr des Gottes. Auch die verwandten indogermanischen Mythologien kennen zwar Andeutungen von einem großen Kampf und auch den Wechsel der Zeitalter, aber kein Sterben der Götter ohne eine Wiederkehr.
 
Dass ein im Kampfe fallender Óðinn dann ja auch nach Valholl/Walhall kommen müsste, also einen Ort, wo er sich sowieso aufhält, ist ein anderer Aspekt. Baldurs Tod hat ja gezeigt, dass er in Wahrheit nur ein zeitweiliger Umzug ist: Vom Reich der Götter in das Reich der Hel. Das Reich der Hel aber war in ältester Vorstellung nur ein Bereich im Götterreich, nämlich der, wo Frau Holle herrschte, Balders Mutter Frigg. Der Mythos von Balders Tod soll also nur den Wechsel der Jahreszeiten andeuten, der Gott Balder in der kosmischen Ebene bleibt im Götterreich und stirbt nicht. So auch bei den anderen Göttern, etwa Þórr, dessen Fallen die Zeit im Jahr ohne Gewitter symbolisieren soll. Der Kampf von Frey und Surt scheint ein Bild für die untergehende Sonne (Frey) zu sein: Surt ist das Feuer der Abendröte, in der die Sonne vergeht und dieses Feuer erlischt hernach auch: Freyr und Surt werden aber am nächsten Tage neu erstehen. Heimdall (Mond, Nachttau ?) und Loki (Feuer des Abendrotes) deuten auf den Mond und die Abend- bzw. Morgenröte hin. Wir sollten uns also bewusst sein: Götter können nicht sterben außer in den Naturmythen des Jahres.
 
Aber in der Völuspa, dem Eröffnungsgedicht und glaubensgeschichtlichen Hauptwerk der Edda heißt es ab Vers 60 ja ohnehin, dass die Götter wiederkehren und dass das Göttergericht nur eine Episode im großen kosmischen Zyklus war: „Seh' aufsteigen zum andern Male Land aus Fluten, frisch ergrünend: Fälle schäumen; es schwebt der Aar, der auf dem Felsen Fische weidet. - Auf dem Idafeld die Asen sich finden und reden dort vom riesigen Wurm und denken da der großen Dinge und alter Runen des Raterfürsten. - Wieder werden die wundersamen goldnen Tafeln im Gras sich finden, die vor Urtagen ihr eigen waren. - Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser: Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen im Sieghof, froh, die Walgötter - wisst ihr noch mehr ? ...”
 
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