MÜTTERNACHT-MÄRCHEN
(Mitte Dezember - Wintersonnenwende)

Es war ein sonderbarer Tag im nordischen Eidergau gewesen, doch ohne Eis und ohne Schnee - Sturmnähe und dennoch still. Am Strande gor die Brandung bleiern auf. Das Meer blänkerte dunkelgrün und unheimlich. Am Himmel gingen die großen Wolken wie lautlose Schiffe. Zur Heiligen Mütternacht, zur Mitte des Julmonds, kroch dann der Nebel über das Land.

Der Strandwächter Eike, dessen Haus abseits vom Dorfe mitten in den Dünenfichten steht, ging noch einmal hinaus, um am Strande nach dem rechten zu sehen. Er nahm den großen zottigen Hund mit nach draußen und stand lange auf der Düne und lauschte in die Dunkelheit.
 
Vom Hof der Freison-Sippe, der ihm am nächsten lag, hörte er frohes Gelärme, rhythmischen Reigengesang, melodischen Hörnerklang und Zupfbrettklänge. Da feierten sie die Mütternacht in den Weihenächte - Weihnachten - mit Tannengrün und Lichtern und hatten die Brandung vergessen. Der erfahrene Eike aber war unruhig in sich, und sein Hund spürte es auch, dass die Stille neben dem Singen da drüben noch einen anderen Ton hatte, der nicht recht zu deuten war, der mit der Brandung kam und verebbte, manchmal wie ein ferner Schrei, ein Rufen von weither.

Der Hund bellte knurrend auf. Und nun war deutlich über dem großen Wasser ein Licht zu sehen; wie ein flimmerndes Sonnenrad sprühte es manchmal durch den Nebel: Not – Not ! Große Mutter der Erde und der Sterne und Julgott Ingo-Fro, steht ihnen bei, lasst sie stark sein. Das Singen im Freison-Hof musste jäh verstummen, als der Strandwächter an den Fensterladen klopfte: „Schipp im Strand !“

Der Ruf gellte von Haus zu Haus. Er zerriss den Feierklang der Stille und löschte die Lichter aus, eines nach dem andern. Stattdessen flammten blutrot die Fackeln auf. Die Männer schlumpten in ihre hohen Seestiefel, das geölte Walrossleder schwappte um ihre Leiber.

Wieder das ferne Fackelkreisen über dem Meer. - Was braucht ihr Lichter in der Stube ! Hier sind euch andere angezündet und ihr sollt nur wissen, wozu diese Nacht euch ruft !
 
Wie weit ab, Henning ? - Beim großen Riff - wo denn sonst wohl, he ? Schlammsand und Braksand - da knirscht der Kiel.
 
Sechs Männer machen das Boot klar, stoßen ab. Vier Riemenpaare heben sich in das Grau, das die Brandung gespenstisch belebt.

Der lange Thorkerl steht vorn mit vorgehaltener Hand. Am Heck sitzt der hagere Asker und hält die Pinne. Die Brandung klatscht und faucht. Ein Wind hebt leise zu singen an, als wolle er trösten. Aber Fackeln sind keine Weihnachtslichter.

Die Dorfleute sammeln sich auf der Düne und am Strand. Manche eilen um Werg und Holz und sind dabei, ein Richtfeuer zu entzünden. Sie kennen ihren Strand, und es ist nicht das erste Mal, dass die See ihnen ein Schiff zubringt. Aber am Heiligen Abend – das hat selbst der tief gebeugte Heidan, der schon neunzig Jahre alt ist, noch nicht erlebt. Es greift ihnen allen ans Herz, und niemals war der Wunsch, den Unbekannten da draußen zu helfen, stärker als in dieser Mütter-Nacht. Sie warten lange. Der Holzstoß wächst, die Flammen schlagen höher.

Es ging dann auf Mitternacht. Das Singen des Windes hob sich stärker, wilder. Er pfiff schon manchmal über die Düne wie ein unheimlicher Flötenbläser, der sich im Spielen versucht. Eine Stunde später kam der Sturm klar aus Nordnordwest. Er fegte die Nebel hinweg und streifte mit seiner großen Hand über die grauen Reetdächer, als wolle er das Leben erfühlen, das sich darunter verbirgt. Die Frauen und Kinder waren längst in ihren Kammern, harrten in Bangen der Heimkehrenden. Tannengrün und Talglichter hatten nicht mehr viel zu sagen.

Draußen bohrten sich die Blicke der Wartenden in die Dunkelheit.

Kein Ruf ? Kein Laut ?

Da, das dumpfe regelmäßige Poltern, mit dem die Riemen an die Dollen schlagen. Und Rufe jetzt:
hallo - he !  - Hier - ho - ho !“ - Harte, oft geprüfte Seemännerarme greifen zu, ringen sich ineinander, wuchten hinüber, dann umspannen unermüdliche Fäuste wieder die Ruderhölzer.

Der Fackelschein wurde lebendig. Das Boot knirschte im Sand. Björn, der Dorfherse - ein Hüne von Gestalt - sprang als erster ans Land. Der Gischt plantschte um seine großen Stiefel.

„Was ist ? - Wie steht es ? - Wen bringt ihr ?“

Die Frager bekamen ihre Antwort im Schweigen und Schauen. Die Schiffbrüchigen sind da; - sie stehen ohne Worte, ergreifen die Hände der Zunächststehenden, und ihr Blick ist Not und Dank in einem. Aber was ist das ? - Man hebt eine Frau ans Trockene, stützt und trägt sie. Ihr Gesicht ist so weiß wie der blanke Gischt. Sie hat keine Hand zu danken, sie hat keinen Blick ringsum. An ihrer Brust hält sie, in Tücher gewickelt, ein kleines Kind. Sie birgt es so fest in ihren Armen, als fürchte sie, man könne es ihr entreißen, und ihre Augen suchen nur immer das kleine Gesicht. Es lebt, es atmet, und sein zitternder zager Schrei zerflattert im singenden Wind.

Man bringt sie ins Hersenhaus. In der großen Stube sitzen sie dann alle. Eldrid, die Hausfrau, hat die Talglichter wieder angezündet, - wahrhaftig, sie hat es getan und weiß wohl, warum. Es ist doch ein größeres Fest als jemals; aber diese Art Julfreude wird nur tief innen laut.

Auf der Diele drängen sich die Fischer und ihre Frauen: Sie bringen trockene Kleider. Der Herse soll doch allein nicht alles schaffen. Und sie bringen Äpfel und Weihnachtsgebäck, die Reste von der fetten Fischsuppe, den Fladenbroten und dampfende Bierschalen. Ihre Herzen sind übervoll und feierlich.

Auf der Herdfeuerbank, den Rücken gelehnt an die warme Lehmwand, sitzt die fremde Frau mit langen dichten, nassen Strähnen, die ihr fast das ganze Gesicht verdecken. Vor sich auf dem Schoße hält sie ihr Kind und wiegt es mit gesenktem Blick. Man sah es wohl manchmal auf alten Bildern so ähnlich, und doch ist es hier die klare Wirklichkeit. Lebt nicht in jeder Mutter etwas von der Freija, der Lebens- und Liebesgöttin mit ihrem Balder, dem Lichtknäblein ?! Diese Rettung der Schiffbrüchigen schien wie eine wundervolle Verheißung für das kommende Jahr, das fühlten sie alle.

Draußen braust der Wintersturm. Draußen zerschlagen die Wellen den kleinen verirrten Segler. Hier drinnen aber sitzen sie zur sonst nur frohsinnigen Wintersonnwendfeier, dankbar für das beglückende Geschehnis eines wahren Lebenssieges. Sie ringen sich um das schönste Inbild der heiligen Mütternacht, einer jungen fremden Frau die ihr gerettetes Kindlein nährt. - Keiner im Dorf wird jemals diese Mütter-Jul-Nacht vergessen. Der Mensch ist stark und den Stärksten helfen die Götter am liebsten !
 
Gerhard Hess