DAS HERBST-QUARTAL
 
 
Wenn der mythische Weltwerdemoment in der jährlichen Wintersonnenwende anzunehmen ist, der im germanisch-runischen Jahres-Mythos als „modraneht“-Mütternacht gekennzeichnet wird, wäre das voranstehende Herbstquartal als die pränatale bzw. vorgeburtliche Vorbereitungsphase zu verstehen. Was in dieser Urzeit - vor der eigentlichen Weltzeit - geschah, davon berichten diverse altarische Mythentexte. Unverkennbar ist aus der Runenfolge der 6 Runen-Schritte, von der Herbstgleiche bis zur Wintersonnenwende, eine Genesis-Legende herauszulesen, die aus eranischer Religion bekannt ist, die im Avesta („Die Preisung“) nachzulesen ist, dem heiligen Buch das auf den Religionsstifter Zarathustra zurückgehen soll. Obwohl eine der ältesten und wichtigsten Religionsurkunden der Menschheit, wurde das Avesta der europäischen Wissenschaft erst Mitte des 18. Jhs. zugänglich gemacht. Es besteht aus einer Sammlung verschiedener Texte sehr unterschiedlicher sprachlicher und stilistischer Art aus sehr verschiedenen Zeiten und enthält unter anderem die dem als Propheten angesehenen Zarathustra selbst zugeschriebenen Gathas („Preisgesänge“). Im „Vendidâd“ („Gesetz gegen die [dämonischen] Dēvs“) enthält in seinen 22 „Fargards“ Fragmente verschiedenen Inhalts. Der erste „Fargard“ berichtet von der zoroastrischen Schöpfungssage, der zweite die Sage von Yima (Urmensch = germ. Ymir) und dem Goldenen Zeitalter, die weiteren zumeist Vorschriften über Bußen/Sühnen, durch welche man die Folgen der verschiedenen Sünden bzw. Verunreinigungen, die man auf sich geladen hat, abwehren könne.
 
Der runisch-germanische Mythos kann nicht völlig deckungsgleich mit dem eranisch-avestischen gewesen sein, doch urverwandt, oder es wurde der Runen-Schöpfer von den Lehren der weitreisenden persisch-zoroastrischen Missions-Magier beeinflusst, ähnlich wie es für die hebräisch-essenischen Frühchristen nachzuweisen ist. Der runische Jahreskreis ist mehrperspektivich zu begreifen, er war/ist einmal der Sakralkalender der runenreligiösen Gemeinde, er ist zudem der mythische spiralige Zeitplan der Ewigen Wiederkehr. Wohlgemerkt, ich behaupte nicht, dass im ODING’schen Herbst-Quartal das konzeptionelle Vorbild der alteranischen oder der röm.-kaiserzeitlichen Mithras-Religion sichtbar würde. Ich behaupte vielmehr, dass ur-religiöse Auffassungen - möglicherweise schon aus stichbandkeramischer Steinzeit herrührend - sowohl da wie dort zur Ausformung von religiösen Weltverständnissen führten, die sich im niedergeschriebenen bruchstückhaften Avesta der Perser finden und auch im Runen-System des Runen-Schöpfers. Wie alt die Idee der Stier-Opfer zum Jahresausklang bzw. vor oder während der wintersonnenwendlichen Riten nachweisbar ist, sehen wir an den Stiergehörnen im Fundmaterial an den Toren des um 7.000 Jahre alten Wintersonnwend-Festplatzes von Goseck bei Naumburg in Sachsen-Anhalt.
 
Die ideenmäßige vorweltliche Geistschöpfung:
 
19. Rune - „kien“ (Fackel) und „Kahn/Kumpf“ (Gefäß) - hat die Kernzahl 1 und gibt sich damit wieder als die Idee des/der Urgebärenden (siehe Rune 1) zu erkennen. Ob wir hier an die arische Göttin Aramati („Frömmigkeit / Ergebenheit“) denken dürfen, bleibt fraglich. In welcher Weise der Runenbegriff germ. kauna = Geschwulst, Beule, Geschwür, Krankheit, Fackel zu verstehen ist, bleibt spekulativ. Aber der „k“-Anlaut gehört zum alten Begriff für Frau: germ. kwenæ, altnord. kvæn, kona, kvinna, altengl. kwin (cwēn / quen / queen), altpreuß. genna. Das Symbol für die Frau ist der Gral, ist das Gefäß, germ. kanal = Rinne, Röhre (lat. canna = Rohr, Kanne, Gefäß - ahd. Kanal = Kanal, Rinne, Gosse, Traufrinne, Wasserrinne, Röhre, Flussbett), verwandt sind germ. kanō = Gefäß, Boot, Kahn, auch germ. keula = Schiff, Behälter, Tasche, Gefäß, Grube, Loch, Kuhle, Kaule und germ. kapter = Gefäß, Käfter, Behälter, ebenso wie germ. Kar = Gefäß, Wanne, Trog, Schale, Schüssel, Bienenkorb und germ. kasa,  got. kas = Kessel, Gefäß, Kasten, Trog, Schale, Trinkgefäß, Behälter, Kübel, Wanne und germ. katila = Kessel, Eimer, Kochtopf, Kochgefäß, ehernes Gefäß, auchgerm. katin = Napf, Schüssel, Topf (lat. catīllus, catīnus) und germ. kazaþla = Bottich, Fass, Eimer, sowie germ. kelik = Kelch, germ. kelkō / kelō / kelu = Schlund, Kehle; germ. keusa = Höhlung; zu beachten wäre dabei auch germ. kelk = Kern, insbesondere aber germ. keusa = Höhlung und germ. kerba = Kerbe, Schnitt, Ritz und germ. kelþī = Schoß, Mutterschoß, Mutterleib. Auffällig massieren sich die „k“-Begriffe für weibliche Synonyme.
 
20. Rune - „raido“ (Wagen / Wagen-Gott / der gerechte Totenrichter Radamant ?) - „hat die Kernzahl 2 und gibt sich damit als Urvater-Tagvater (siehe Rune 2) zu erkennen. Im Persischen heißt er Ahura-Mazda („Weiser Herr / Weisheits-Herr“) der Schöpfergott, der zuerst die geistige Welt („Menok“) und dann die materielle Welt („Geti“) erschaffen hat. Er verkörpert die Macht des Lichts, ist Schöpfer und Erhalter der Welt und der Menschheit und ist der Gott der Fruchtbarkeit der Lebewesen. Im alten Indien entsprach Ahura Mazda dem Himmelsgott Varuna, der auch als asura angerufen und laut einem der Gathas (frühiranische religiöse Textsammlung) „der gute Asura-Sohn“ genannt wurde. Die Griechen, welche ihn Oromazes oder Oromasdes nannten, kannten ihn als obersten Gott der Perser, als den aus dem reinsten Licht entstandene Urheber der guten Dinge und als Schöpfer der Welt; auf den von Dareios I. herrührenden Keilinschriften von Behistun heißt er „der größte der Götter“. Im Zurvanismus, einer frühen Form des Zoroastrismus, hat der Vatergott Ahura-Mazda (oder Zurvan, „Vater der Zeit“) die Zwillingssöhne, den Guten-Geist Spenta-Mainyu und den Bösen-Geist Angra Manju.
 
21. Rune - „ase“ (Ahnen-Gott Wodin-Odin) - „hat die Kernzahl 3 und gibt sich damit als Soter oder Guter-Geist zu erkennen (siehe Rune 3). Im germ. Asen Wodin-Odin erscheint uns eine Form des Spenta-Mainyu, dem Guten-Sohn des Ur- und Himmelsgottes. Spenta wird unter anderem als „aufbauend, freigebig, heilig“ übersetzt und Mainyu bedeutet etwa „Geist, Gedanke, Vorstellung“. Sein ständiger Widersacher ist Anromainyus, der Böse-Geist.
 
22. Rune - „thurse“ (Reifriese / Unhold / Antigott / Satan) - hat die Kernzahl 4 und gibt sich damit als Materiegeschöpf zu erkennen (siehe Rune 4). Dem Gebot des Angra-Manju / Ahrmanyu, der spätere Ahriman. Zwischen diesem und Ahura-Mazda (bzw. Spenta-Mainyu) hat der Mensch zu wählen. Dem Ahriman sind alle anderen bösen Geister untertan und die „schlechten Geschöpfe“ - Giftschlangen, Raubtiere, Ratten, Mäuse, Ungeziefer - wurden von ihm geschaffen. Nach der Erschaffung des Ur-Stieres (23. Rune „ur“) griff ihn der Böse-Geist an. Im Avesta heißt es: „Ahriman war, aufgrund seiner sadistischen Natur, bestrebt den Ur-Stier durch allmählichen Verfall dahinsiechen zu sehen. Dazu „ließ er die Dämonen Neid, Gier, Verfall, Hunger, Krankheit und Apathie auf ihn losstürzen.“ - Im jüngeren isländisch Runengedicht wird der Unhold folgendermaßen bezeichnet: „Thurse ist Bewohner der Berge, der Klippen, der Felsen und der Steine, Hänselei, der Trolle Vater, Kerl Gryms [Odins], steiler Hang ?, der große Tyr, der Felsen König, der Mädchen Bedrängnis, Oddrúns [der Riesin] Gatte, der Frauen Qual, großer und hässlicher Mensch, Vanengötter [Pl.]?, Urnir, der harten Anstrengungen Schmied und des Þundr [Odins] Bruder. Mit allen Namen der Trolle kann man ihn bezeichnen.“ (Alessia Bauer, „Die jüngere Fassung des isl. Runengedichtes und die Tradition der Runennamenumschreibungen“, S. 43-60, in „Runica - Germ. - Mediavalia (heiz./n.) Rga-e 37“)
 
23. Rune - „ur“ (Auerochse [Opfertier]“ - hat die Kernzahl 5 und gibt sich damit auch als Opfer zu erkennen (siehe Rune 5). Die Tauroktonie (Stiertötung) ist in Darstellungen vom eranisch/röm. Mithras der einen Stier tötet, bekannt. Dabei spiegelt die Vorstellung eines Ur-Rindes in den Schöpfungsmythen die kollektive Erinnerung der Hirten-Völker an die Rolle des Rindes als Ernährer und Träger der menschlichen Zivilisation wieder. In der arisch-persischen Mythologie der zarathustrischen Tradition findet man das Konzept des Ur-Rindes in der Gestalt von „Gāve-iektā-āfaride“ (mittelpers. „Gāvivdād“), was so viel heißt wie „das einzig geschaffene [Ur-]Rind“. Es spielt eine sehr wichtige Rolle in der iranischen Schöpfungsgeschichte, denn es ist der Urahn aller heutigen Tierarten und Hervorbringer einer ganzen Reihe wichtiger Nutzpflanzen für Mensch und Vieh. Das Wesen des iranischen Ur-Rindes ist aufs engste mit dem Mond verbunden. Das „Einzig geschaffene Rind“ wurde mit einem weißen Fell gesegnet, wie geschrieben steht, welches „schimmerte wie der Mond“. Diese Verflechtung wird besonders durch einen einzigartigen Akt offenbar gemacht, der in der iranischen Mythologie schon seit frühester Zeit fest verankert ist; die Übergabe des Samens von „Gāve-iektā-āfaride“ an den Mond nach seinem Ableben durch Ahriman. Der Mond nimmt den Samen auf und beschützt ihn vor der Vernichtung; später pflanzt er den Samen in die Erde ein, woraus dann die heutige Vielfalt an Tierarten der guten Schöpfung hervorgegangen sein soll. Die Hauptquelle für die Sage ist das mittelpersische Werk Bondaheš, wo ausführlich über die Erschaffung, das Schicksal und die Rolle des Ur-Rindes berichtet wird. Fest steht, das Ur-Rind wird getötet. Aber von wem ? Im Mithras-Kult ist es der solare Heilbinger Mithras selbst, um damit die gute Erdenfülle hervorzubringen.
 
Nach einer Version, die der 21. Fargard des Vendidād enthält, ist es die Dämonin Jeh, die für den Tod des Ur-Rindes verantwortlich war: „Welchen Jahi [Jeh] tötet, der sehr schädliche, unreine und schlechte Mensch, der Gottlose.“ Diese Version (wonach der Ur-Stier durch die Hand von Jeh stirbt) verträgt sich auch gut mit dem Inhalt des 5. Kapitels des Bondaheš. Denn zu Anfang des Kapitels wird gesagt, dass Ahriman, nachdem er mit der Überlegenheit und Herrlichkeit von Hormazd (Himmelsgott) und seiner geistigen Schöpfung konfrontiert wurde, sich vor lauter Angst in die dunkelste Dunkelheit zurück begab. Erst die Dämonin Jeh konnte ihn schließlich, die Schöpfung von Hormazd anzugreifen; dazu sagte sie wörtlich: „Erhebe dich, unser Vater ! Denn ich werde in diesem Kampfe (gegen die materielle Schöpfung) dem „Einzig-Geschaffenen-Rind“ und dem „Wohltätigen Menschen“ (Kiumars) derart Schmerzen zufügen, dass sie durch mein Zutun, nicht sollen leben dürfen !“ Wie dem auch sei - schreibt ein Kenner - „wir können aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht beweisen, ob der Ur-Stier durch die Hand von Jeh oder Ahriman starb“.
 
24. Rune - fehu“ (Vieh / materieller Besitz / Viehherden / Reichtum / Geld) - hat die Kernzahl bzw. Rundzahl 6 und gibt sich damit auch als Vollkommenheits-Sinnbild zu erkennen (siehe Rune 6). Der Opfer-Stier (23. Rune = „ur“) ist eine Metapher für die Urschöpfung, aus der - wie die Mithras-Reliefs der Mithräen zeigen - die Fülle der Welt entsteht, nämlich „fehu“.
 
Da die 6 aber eine Vollkommenheits-Zahl sein will, ein Umstand dem der Runenschöpfer Rechnung getragen haben wird, dürfte auch der geistige Gute-Aspekt mit in den fehu-Runen-Gedanken hineingewoben gewesen sein. In den Avesta-Texten heißt es, nach dem Tod des Ur-Rindes: „trat seine Seele aus seinem Leib aus und verblieb dort“. Und seine gute Seele sorgte sich nach dem Ableben, um den Schutz der zukünftigen Geschöpfe, denn er fragte Hormazd: „Wem hast du die Führerschaft über die Geschöpfe übertragen, jetzt, wo [aufgrund des Einbruchs von Ahriman] die Erde bebt, die Pflanzen vertrocknen und das Wasser verschmutzt wird ? Wo ist der Mann, den du versprachst zu erschaffen; damit er Schutz [über die Geschöpfe] ausspricht ? „Darauf fragte der Bildner der Kuh [Hormazd] den Aša: Wo hast du einen Herrn für die Kuh ? (…) Wen, heil sei dir, hast du gemacht zum Herrn, der den Aešma zu den Bösen schlägt ?“ Aša antwortet ihm: „Nicht gibt es einen Herrn für die Kuh, der ohne Peinigung wäre.“ Damit wird gesagt, dass jetzt bei dem Einbruch von Ahriman in die gute Schöpfung, kein Mann sich gegen die Vermischung mit dem Bösen wehren könnte, so erklärt das ein Kenner. Die Seele des androgynen Rindes klagt weiter: „Er ging in Richtung der Sternenspähre und klagte dort sein Leid; dann stieg er weiter nach oben und richtete seine Klage an den Mond; schließlich begab er sich in die Sonnenspähre und klagte auf dieselbe Weise.“ Dem Großen Gott wurde dadurch bewusst, wie sehr die Ur-Rind-Seele unter ihrem Schicksal litt und er fand es achtenswert, dass sie sich so mutig für den Schutz der zukünftigen Geschöpfe einsetzte. Diesen Passagen ist abzulesen, dass im altgläubigen Opferrind-Komplex ein ethischen Ansatz mitgeschwungen haben muss, und nicht nur die Hoffnung auf materiellen Gewinn.
 
Die zoroastrischen Quellen, vermischt mit stehengebliebenen vor-zoroastrischen Textteilen, sind sehr unvollkommen, denn der mazedonisch-hellenistische Einbruch in diese Glaubenswelt und dann der islamische Vernichtungsterror haben fürchterliche Lücken gerissen. Ziemlich sicher aber scheint doch, dass im ario-mythischen Ur-Konzept die Schöpfung des zu opfernden Ur-Rindes in vorweltlicher Zeit ebenso geschehen bzw. gedacht sein muss, wie die Geburt der Zwillinge „Guter- und Böser-Geist“. Da erst aus der Stier-Opferung des Mithras die Ding-Welt entsteht, muss der mythische Opfervorgang vor der Weltentstehung, also vor der 1. Rune (oðala) angenommen werden.