21.11.2022

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 Ivar Arthur Nicolai Lissner (1909-1967) war ein in Lettland geborener Publizist und Autor, ein sog. „Deutsch-Balte“, aus jüdischer Familie. Sein Vater war Geschäftsmann, der unter anderem Korkfabriken besaß. Im Verlauf der politischen Gegebenheiten vor und nach Weltkrieg I., zog die Familie erst nach Moskau, dann nach Riga und weiter nach Berlin. Er studierte Sprachen, Geschichte, Völkerkunde und Jura in Deutschland und Frankreich und promovierte 1936 in Erlangen über ausländisches Handelsrecht. Zum 1. April 1933 wurde er Mitglied der NSDAP aus verständlichen Gründen. 1935 erschien sein Buch „Blick nach Draußen, in dem er die Errungenschaften des NS-Staates vor internationalem Hintergrund bekundete. Das führte dazu, dass er 1936 im Auftrag des Verlags als Reiseschriftsteller in die USA und nach Kanada ging. Daraus entstand sein Bestseller „Völker und Kontinente“. Lissner schrieb nun auch für den Hanseatischen-Dienst, den Pressedienst seines Verlages, und einige seiner Artikel wurden angeblich sogar vom Berliner Gau-Blatt „Angriff“ nachgedruckt. Lissner ging wieder auf Weltreise nach Asien, woraus sein Buch „Menschen und Mächte am Pazifik“ entstand. Im Januar 1937 soll sein Vater beschuldigt worden sein, seinen „Ariernachweis“, mit Hilfe eines Rigaer Pastors, gefälscht zu haben. Die Staatspolizei verhaftete zunächst auch den Sohn, ließ ihn jedoch ergebnislos bald wieder frei. Ivar Lissner soll daraufhin begonnen haben, „sich innerlich vom Nationalsozialismus zu distanzieren“, unter Beibehaltung seiner anti-sowjetischen Einstellung. Schließlich hatte die Familie das sog. „Sowjetparadies“ von innen erleben können. Auf der Lissner-Website erschienen Artikel, denen zufolge Lissner natürlich immer von seiner jüdischen Herkunft gewusst habe, eine pro-nationalsozialistische Einstellung habe bei ihm zu keinem Zeitpunkt bestanden, er habe sie demnach nur bei Bedarf geheuchelt. Wie es wirklich war, werden wir nicht mehr feststellen können; schließlich gab es nicht wenige Menschen die zwischen den Fronten pendelten. Sicher ist, dass sich Lissner zu einem tiefsinnigen und sehr fleißigen Autor entwickelte. Sein recht lesenswertes, hoch informatives Buch „Wir sind das Abendland. Gestalten, Mächte und Schicksale durch 7000 Jahre“ erschien im Jahr 1966.

Lissner unternahm ausgedehnte Studienreisen in den Kontinenten der Erde, wurde im Jahre 1949 Chefredakteur der Zeitschrift „Kristall“ und arbeitete freiberuflich für große internationale Zeitschriften. „Kristall“ war eine als „Nordwestdeutsche Hefte“, im Auftrag des „Nordwestdeutschen Rundfunks“ (ab Juni 1945 durch britische Besatzungsoffiziere aus dem „Reichssender Hamburg“ umgewandelt) durch den Kommunisten Axel Eggebrecht und dem Kriegsberichterstatter der Wehrmacht Peter von Zahn gegründete Hamburger Zeitschrift „für den gebildeten Mittelstand“ aus dem „Springer Verlag“; sie erschien von 1946 bis 1966. Von Lissners Buchveröffentlichungen seien hier aufgeführt: „So habt ihr gelebt“ (Die großen Kulturen Menschheit, (1954), „Die Cäsaren. Macht und Wahn“ 1956, Neuauflage 1969 unter dem Titel „So lebten die römischen Kaiser“), „Aber Gott war da“ (1958, Neuauf¬lage 1975 unter dem Titel „So lebten die Völker der Urzeit“), „Vom Baikal weht der Wind“ (1960), „Rätselhafte Kulturen“ (1961, Neuauflage 1973 unter dem Titel „Die Rätsel der großen Kulturen“), „Wir sind das Abendland“ 1966), „Wir alle suchen das Paradies“. Seine Werke wurden zahlreiche Fremdsprachen übersetzt. Aus dem Französichen übersetzte Lissner „Frauen, die man umarmt“ von Henry de Montherlant (1962).

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Im üblichen jüdischen Stereotyp zieht Lissner Vergleiche zwischen Napoleon und Hitler: Der Schlächter Napoleon, der aus reinem Übermut, mit seiner Grande Armée das Zarenland mit Krieg überzog, während Hitler der nüchternen Selbsterhaltung folgte, als er den Präventivschlag gegen Stalins angriffsbreite Sowjetunion befahl, wird in den rosigsten Farben gemalt. Napoleons Rassismus und Kriegsverbrechertum findet bei jüdischen Autoren regelmäßig keine Erwähnung, um Hitler in einem singulär düsteren Licht erscheinen zu lassen. Die reale Geschichte sieht anders aus: Der Dichter und Außenminister, Vicomte de Chateaubriand, schreibt zu Napoleons Erschießung der Gefangenen von Jaffa (1799): „Jaffa wird genommen. Nach dem Sturme ergab sich ein Teil der Besatzung, von Bonaparte zu zwölfhundert, von anderen zu zwei- bis dreitausend Mann angegeben, und es wurde ihnen Gnade zugesichert; zwei Tage später befahl Bonaparte, sie niederzumachen. Napoleon leugnete diesen Massenmord nicht, aber er schiebt die Schuld auf die Lage, in der er sich befand. Er konnte die Gefangenen so wenig ernähren, als das sie unter Bedeckung nach Ägypten schicken; sie auf Ehrenwort in Freiheit zu setzen, war ebenfalls nicht möglich, denn sie hätten gar keinen Begriff von einem solchen Versprechen und von diesem europäischen Verfahren gehabt. ,Wellington würde an meiner Stelle ebenso gehandelt haben wie ich‘, sagte er. Waren die Massaker nötig zur Rettung unserer Armee? Wusste Bonaparte nicht, mit welcher Leichtigkeit eine Handvoll Franzosen die Streitkräfte des Paschas von Damaskus besiegten? Vernichtete er nicht bei Abukir mit einigen Reitern dreizehntausend Osmanlis? Überwand nicht Kleber später den Großwesir und seine Myriaden Mohammedaner? Wenn vom Rechte gesprochen wird, welches Recht hatten die Franzosen, Ägypten mit Krieg zu überziehen? Warum ermordeten sie Menschen, die sich nur des Rechtes der Verteidigung bedienten? Auf die Gesetze des Krieges aber konnte sich Bonaparte nicht stützen, da die Gefangenen in Jaffa die Waffen gestreckt hatten und ihre Unterwerfung angenommen war. Bonaparte wusste recht wohl, was Recht war, aber er lachte darüber; er bediente sich der Wahrheit, wie er sich der Lüge bediente; er hatte nur das Resultat im Auge, das Mittel war ihm gleichgültig. Die Menge der Gefangenen setzte ihn in Verlegenheit, also ermordete er sie.“ Beachtlich ist, dass der Bonaparte sowohl als Mörder als auch als einen Rassisten sah, der sich das Recht anmaßte, die dortige Bevölkerung als Barbaren zu betrachten, die eine Behandlung nach europäischem Recht nicht notwendig macht. Vicomte sah in Bonaparte einen Mann, „dem jedes [verbrecherische] Mittel recht war“ - nicht anders als Hitler - „um seine Ziele zu erreichen.“ (Vicomte de Chateaubriand, François-René, „Napoleon“, 1920, S. 61-62).

Sein Befreiungsrecht von Versailles und sein Verteidigungsrecht gegen die Alliierten, die den Vierfrontenkrieg gegen das Reich konkret seit Ende 1939 planten, gestehen die ideologisch fixierten Betrachter Hitler nicht zu. Lissner schreibt auf S. 428 so Unsinniges und Falsches wie: „Napoleon aber führte den Krieg gegen Russland keineswegs wie ein eigensinniger, siegeshungriger General, er blieb während des ganzen Feldzuges stets der besonnene und vorsichtige Politiker. Das wird oft übersehen. Zwischen dem Feldzug des größenwahnsinnigen militärischen Dilettanten Hitler und dem Unternehmen Napoleons liegen Welten.“ Ja, Welten liegen zwischen Lissners Schönfärberei zugunsten des Franzosen und der Wahrheit großmannssüchtiger napoleonischer Kriegslüsternheit. Oder über die Zeit der Hassorgie von und nach Versailles, S. 507: „In diesen politisch leeren Raum trat der Megalomane ein, der alle Hassgefühle bis zum Bersten steigerte, der Gefreite Hitler. Er hatte es wirklich im Ersten Weltkrieg nur bis zum Gefreiten gebracht - das war seine ,Vorbildung‘.‘‘ Oder den haarsträubenden Unsinn, der Krieg sei nur deshalb für Deutschland verloren gewesen, nicht wegen der extrem auseinanderklaffenden Kräfteverhältnisse zwischen Deutschland und den vier größten Weltmächte, sondern, weil er die jüdischen Wissenschaftler außer Landes getrieben habe. Dass die Deutschen im Krieg den Alliierten militärtechnisch um Jahre voraus waren und dass es ganz allein die alliierte Masse war, die den Feinden Deutschlands den Triumpf brachte, nimmt Lissner nicht zur Kenntnis. Die USA begannen mit dem Atombombenbau gegen das Reich bereits, auf die Vorstellungen der jüdischen Physiker Albert Einstein und Leo Scilard, im November 1939, als in Deutschland noch kein Mensch auch nur ahnen konnte, dass man eines Tages im Krieg mit dem fernen Amerika stehen könnte. Lissner fabuliert auf S. 526: „Ein genaues Studium der Vorgänge in den Atomlaboratorien Europas und Amerikas beweist, daß Hitler den Krieg schon verloren hatte, ehe er ihn überhaupt begann. er wie auch Mussolini hatten selbst dafür gesorgt, daß die bedeutendsten lebenden Physiker abwanderten und ihr Wissen in das Ausland, insbesondere nach Amerika, trugen.“ Tatsächlich aber waren es in Führungspositionen mehrheitlich jüdische Wissenschaftler die den A-Bombenbau  realisierten.

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Ivar Lissner schreibt in „Wir sind das Abendland“, S. 439f, unter der Überschrift „Voilá un homme Goethe“: „Die Tatsachen, die die Welt verändern und die großen Werke der Kunst entstehen nicht aus geringen Anlässen. Sie werden notwendigerweise geboren, sie sind geschichtsbedingt. Das überragende Werk, das Genie, der Prophet, sie sind im rechten Augenblick da. Nicht Sonne, Mond und Sterne, nicht deren Einfluss auf die Erde bringen die großen Veränderungen, sondern die Erde und ihre bedeutenden Menschen rufen hinauf in den Himmel, wenn ihre Zeit gekommen ist. Im Jahre 1773 begann Goethe am Urfaust zu arbeiten und am Egmont. Acht Jahre später entstanden Schiller Räuber. Von 1777 bis 1811 lebte Deutschlands genialster Dichter, Heinrich von Kleist. Beethoven komponierte seine siebente Symphonie im Jahre 1812. Balzacs Pére Goriot entstand 1834, Puschkins Eugen Onegin 1832. Der Geist des Abendlandes schwang sich auf nie dagewesene Höhen. [...] „Genies sind Einzelgänger. Sie ziehen ihre Bahnen wie Kometen durch das Weltall. Aber an irgendeinem Punkt treffen sie sich und reichen sich die Hand. „Voilá un homme“. Das sagte Napoleon, als er Goethe sah. [...]“ Der geistvolle Korse soll Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) volle sieben Mal gelesen haben. Dieses Werk Goethes wurde ein wahrhaft europäischer Erfolg.

 „Goethe hatte früh gelernt, unter tausend Freuden und Bekannten dennoch seinen Weg allein zu gehen. Wahr erschien ihm nur das, was er selber für wahr hielt. Er besaß unheimlich viele Gaben, die ihm ein unbegreiflich freigebiger Himmel geschenkt hatte. Seinen Charakter bestimmte ein von gewöhnlichen Sterblichen unerreichbarer Adel. Er war durch und durch Genie, begabt mit ordnenden, stets forschenden, weit über alles Erreichbare hin aufspürenden Sinnen, ein Mensch von ungewöhnlich lebhafter Phantasie und Einbildungskraft. Und doch ist alles bei ihm gezügelt, gemäßigt, bis ins Letzte bedacht. …“ 

Bewundernswert tief und fein, wie der nichtdeutsche Lissner die Wesenheit Goethes erfasste und ihr huldigte. Im Weiteren schreibt es vom jüdischen Kritikaster Heinrich Heine: „Heinrich Heine gab zu, daß er eine Zeitlang zu den Gegnern Goethes gehört habe. Dieser grandiose Zyniker kannte aber natürlich auch sein Motiv, im Gegensatz zu den vielen anderen Gegnern Goethes, die ihrem Haß gewichtige Gründe unterschoben, ihre wahren Motive aber niemals preisgaben. Heine schrieb: ,Nur von einer Person kenne ich dieses Motiv ganz genau, und da ich diese selber bin, so will ich jetzt ehrlich gestehen, es war der Neid.‘ So groß war Heine ! Und er sagte einmal: ,Goethe ist ein großer Mann in einem seidenen Rock‘‚ womit er außer der der geistigen Bedeutung auch Goethes weltkluges Betragen kennzeichnen wollte.“  Denn eines ist bis zum heutigen Tage ganz ungewöhnlich geblieben und vielleicht in dieser Art nie wieder in Erscheinung getreten. Es gab selten einen Mann, bei dem Persönlichkeit, Genius und Werk so vollkommen übereinstimmten wie bei Goethe. Seine Persönlichkeit tritt so scharf aus seinem Werk hervor, daß man diesen Olympier immer leibhaftig vor Augen hat, daß eigentlich alles, was er dichtete, Teile eines gewaltigen Geständnisses sind. Indem das Genie die Tat überragt, steht er – und das ist wie ein Wunder – nahe den großen Menschheitserziehern, die gar nicht zu schreiben brauchten, Diogenes, Sokrates, Seneca. Nur hatte dieser Sohn des kaiserlichen Rates Johann Kaspar Goethe, eines grundsatzstrengen, ernsten Mannes, und der Katharina Elisabeth Textor, die unzerstörbar heiter und phantasiereich war, auch äußerlich von Natur alle Gaben in überreichem Maße erhalten und wusste sie zu gebrauchen.

Seine äußere Erscheinung war so bestechend wie sein Wort, seine Gestalt erweckte überall Bewunderung. Eine große Harmonie und Ausgeglichenheit, Klarheit und Freudigkeit, all das lag in ihm. Man hatte das Gefühl, einen Griechen, einen Menschen der Antike und doch einen ganz Modernen in ihm zu sehen. Nur eines ist unvorstellbar, ein Goethe auf den Knien, ein Goethe mit gekrümmtem Rücken, ein Betender. Er hielt alles, die ganze Natur, den ganzen Kosmos, für Gott, darum weicht er auch der Gretchenfrage [„Wie hält du‘s mit der Religion ?“] aus.

Als Heine Goethe in Weimar besuchte, es war der Herbst 1824, als er ihm gegenüberstand, blickte er unwillkürlich zur Seite. Ihm kam der Gedanke, er würde jeden Augenblick neben Goethe den Adler sehen mit den Blitzen im Schnabel. Er wollte ihn griechisch anreden. Und nun natürlich taucht wieder ein anderer Blitz auf, Heines geradezu gespenstischer Humor: ,Da ich aber merkte, daß er Deutsch verstand, erzählte ich ihm, daß die Pflaumen auf dem Weg zwischen Jena und Weimar sehr gut schmeckten.‘ Heine hatte in mancher langen Winternacht darüber nachgedacht, was alles an Erhabenem und Tiefsinnigem er Goethe sagen würde, wenn er ihn einmal zu Gesicht bekäme. Als er ihn endlich sah, teilte er ihm mit, daß die sächsischen Pflaumen sehr gut schmeckten. Goethe lächelte mit denselben Lippen, mit denen er die schöne Leda, die Europa, die Danae, die Semele und so manche andere Prinzessin oder auch gewöhnliche Nymphe geküßt hatte.“ Leider erfahren wir hier nicht, ob es bei Heines Trivialität geblieben ist, oder ob er auch Vernünftiges bei Goethe hervorbrachte ?

„Daß Faust die weltliche Bibel der Deutschen wurde, liegt einmal daran, daß der Stoff aus der Volkssage kommt. Er umfaßt wie die Bibel Himmel und Erde, Gott und Teufel, Liebe und Zerstörung. Aber eines fehlt ihm vollständig: Güte, Nächstenliebe, Demut. Dieses Anliegen des Christentums war kein Ton in den formenden Händen eines Mannes, der den Pakt mit dem Teufel schloss und ziemlich heil herauskam. So in die einfachste Volkssage zu greifen und so das grandiose, allumfassende Drama aus dem bodenlosen Topf der Dichtung herauszuholen, das eben ist die Zauberei eines Genies. Daß Goethe und sein Faust eins waren, daß hier die Dichtung den Menschen erfaßte, mit Naturgewalt, und der Mensch sich niemals on ihr losreißen konnte, das beweist schon die sechzig Jahre währende Hingebung des Mannes an dieses Werk. Aber noch mehr: Jener Doktor Faust – das sind die Deutschen. Es ist die Erkenntnis der Unzulänglichkeit des Geistes, die letztliche Kapitulation vor Mephisto. Es ist das zwanzigste Jahrhundert, in dem die Götter endlich dem Wunsch der Massen nachgaben, so daß sie dem materiellen Genuß verfielen. […] Noch hundert Jahre nach Goethes Tod gab es eine ,christlich-nationale Opposition‘ gegen ihn. Sein hundertster Geburtstag wurde ohne Beteiligung des Volkes begangen. Erst die Berliner Goethe-Vorlesungen von Hermann Grimm 1874 und 1875, schufen einen Wandel. […] Aber die Tragödie des Gretchens blieb bis zum heutigen Tage die deutsche Tragödie, den Faust verschreibt sich dem Teufel, und Gretchen bleibt allein – für alle Ewigkeit. Friedrich Gundolf sagte es gut: ,Daß die Welt so groß ist und der Mensch so willig ist, ihrer Größe teilhaftig zu werden, ohne die Organe dazu, das treibt Faust dem Teufel in die Arme.‘“

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Friedrich Gundolf, eigentlich Friedrich Leopold Gundelfinger (1880-1931) war ein beachtlicher Literaturwissenschaftler und Dichter aus jüdischer Familie, der eine Goethe-Biographie schrieb („Goethe“, 1916). Während der Weimarer Republik gehörte er zum prominenten Gelehrtenkreis Deutschlands. Zu seinen Hörern zählten Persönlichkeiten wie Benno Wiese, Golo Mann, Claus Schenk von Stauffenberg und Joseph Goebbels, der bei ihm 1920 promovieren wollte, was nicht daran scheiterte weil Gundolf Jude war, oder Goebbels Antijudaist, was er damals noch nicht war.

Erstaunlich und beachtlich ist die Feststellung, dass beide undeutschen Männer nicht Goethe selbst, als trefflichste Gestaltwerdung des deutschen Menschentypus verstehen wollten, sondern sein Kunstprodukt, den Doktor Heinrich Faust: „Jener Faust das sind die Deutschen !“ und „Kapitulation vor Mephisto“, die beiläufige Erwägung, „daß Goethe und sein Faust eins waren“ wird sekundär, es bleibt beim unsachlichen Gundolf'schen Urteilsschluss: Faust verschreibt sich dem Teufel !“ Kein Wort davon, wie sich Faust aus den Umgarnungen des Teufels löste, ihn überwandt, zu sich selbst fand, als Erlösung suchender Erdenmensch. Auch, zwischen allem Lobeswust, die Abwertung des Faust-Buches, der weltlichen Deutschen-Bibel, es fehle ihr an „Güte-Nächstenliebe-Demut“, erweist sich als typisch biblischer Hochmut des Bibel-Volkes. In keinem einzigen Buch der Weltliteratur wird so unzweideutig extremster Hochmut als „auserwähltes Gottesvolk“, ja Hybris, demonstriert, neben scheinbarer Demut gegenüber der eigenvölkischen Identitätsgröße Jehovas ? Abgesehen von bedeutungslosen Floskeln ist, hinsichtlich praktisch geübter allgemeiner Menschenliebe, in der mosaischen Bibel wenig zu erkennen, und wenn man jene hassschäumenden Jahwe-Propheten liest, wie Jesaja, Jeremia, Nahum, Sachja, dann kann der Leser schon erschrecken vor einer fantasiereichen Mordwut gegen Abweichler und Nachbarvölker. Goethe war kein Kirchenchrist, das irreführende Wort von der „Nächstenliebe“ kommt bei ihm zurecht nicht vor, denn sie meinte nie - wie fälschlich publiziert - eine Allerweltsliebe, vielmehr eine ausschließliche Exklusivliebe des Bruders in Juda oder in Christie. Wer nicht dazugehörte, dem blieb jegliche Menschenliebe versagt, dem durften entwürdigende und mörderische „Heidenarbeiten“ aufgehalst werden. Den Nichtjuden, denen „aus den Nationen“, verweigerte in Altisrael jüdisches Brauchtum das gemeinsame Speisen an einer Tafel. Mit der gleichen Abwertung des Fremden folgten die christlichen Gruppen und später die Kirche. Ohne Taufe galt der Mitmensch nichtmal als „menschliches Wesen“, in der sozialen und juristischen Wahrnehmung. Und warum sollte es im Faust an Güte fehlen ? Ist das keine bescheidene menschlich-gönnende Güte, wie sich Faust am Leben der Dörfer beim Ostermorgen-Spaziergang freut: „Ich höre schon des Dorfs Getümmel, Hier ist des Volkes wahrer Himmel, Zufrieden jauchzet groß und klein, Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“ Fausts Mitgefühl und, wenn wir so wollen, seine „Nächstenliebe“ zu Gretchen tritt zutage, als sie von Faust schwanger ist und zu Unrecht ins Gefängnis verbracht wurde. Faust will sie retten. Mephisto versucht, Faust von Gretchens Schicksal abzulenken. Für die Katastrophe macht Faust den Teufel verantwortlich und fordert Hilfe zur Rettung Gretchens. Im Kerker findet er Gretchen völlig verwirrt vor. Er leidet darunter, ist aber hilflos. Sie hat ihr neugeborenes Kind getötet und soll dafür hingerichtet werden. Sie erkennt Faust zunächst nicht und hält ihn für den Henker, der sie verfrüht abholen will. Nachdem Gretchen ihn schließlich erkannt hat, dringt Faust in sie, will sie zur Flucht überreden. Doch sie sträubt sich, Faust und Mephisto verlassen unverrichteter Dinge die schaurige Stätte. Mitgefühl ist mithin Faust nicht abzusprechen. Jedoch ein echt allzumenschliches Versagen vor den stärkeren irdischen Herausforderungen, war Goethe bestrebt, hier darzustellen. Schließlich ist der Faust keine Liebesballade, vielmehr ein Drama was die Zerrissenheit der Menschenseele zwischen Himmel und Erde spiegeln soll. Meiner unmaßgeblichen Beurteilung nach, sind Lissner, mit seinem ambivalenten Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen, antideutsche Reflexe durchgegangen, die er meinte, vor zumindest den unaufmerksamen Lesern seiner Texte, unter dem lauten, bunten Schwall seines Goethe-Hymnus verhehlen zu können, wobei auch die andere Erklärung zu Rate zu ziehen wäre, dass Juden, die mit deutschen Stilmitteln arbeiteten, unter der Zerreißprobe standen, einerseits dem deutschen Sprach- und Empfindungsraum bewundernd anzuhängen und anderseits vom Rassestolz der biblisch-religiösen Weltbefruchter nicht loszukommen vermochten.