06.10.2021     

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Nordostansicht der Schäferkapelle (Photo: Alex Blinten)

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Die drei Südfront-Ornamente, nach Kleinhempel: „Ingwaz“ bzw. „Inguz“ (oder „Othalan“), „Gebo“ und „Rabe

Die erste Rune dürfte jedoch eine Kombination aus Jera- und Odal-Rune darstellen. 

Ein sehr informativer Artikel von Ullrich R. Kleinhempel, „Die Schäferkapelle in Rasch - ein Heiligtum des Wotan, der Gefjon und des Ing?“ (2014)

Zu Ikonographie, Baugeschichte und Kulttradition eines heidnischen Tempels“: „Wodansheiligtümer sind offenbar dabei, ihren Platz im allgemeinen Bewusstsein zu finden - jedenfalls bei denen, die an spirituellen Aspekten der Landschaft und alter Kirchen interessiert sind. Die Gründe des Interesses haben sich verschoben. Stand in der Nationalromantik, im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Suche nach den eigenen kulturellen und nationalen Wurzeln im Vordergrund, so nehmen in einem esoterisch geprägten Umfeld spirituelle Motive zu. Offenbar besteht ein Verlangen danach, die Landschaft neu zu „spiritualisieren“, bzw. sie in ihrer spirituellen Dimension wahrzunehmen. Damit wächst das Interesse an „alten“ Kultstätten. Sie werden als Teil einer „lebendigen Natur“ empfunden, d.h. einer mit spiritueller Kraft erfüllten Natur. In diesem Zusammenhang erfahren christliche, mittelalterliche und heidnische Kultstätten besonderes Interesse. Dieses Motiv bestimmt auch das Interesse an heidnischen Kultstätten, indem eine Korrespondenz zwischen ihrer Lage in der Landschaft, mit ihren besonderen Elementen, mit der religiösen Bestimmung des Heiligtums und der Wirkung auf den Menschen angenommen wird. So ist auch das Interesse an der hier vorgestellten Entdeckung von mutmaßlichen Spuren einer vorchristlichen Kultstätte lebhaft. Eine Reihe von Artikeln ist dazu in kurzer Zeit in Medien sehr unterschiedlicher kultureller, politischer und religiöser sowie weltanschaulicher Prägung erschienen. Als erster hat Thomas Greif, promovierter Historiker und Redakteur des Evangelischen Sonntagsblatt für Bayern in der Neujahrsausgabe dieser Wochenzeitung über meine Beobachtungen berichtet, nachdem er seine anfängliche Skepsis überwunden hatte. Der Artikel wurde in die Newsfeeds von Homepages evangelischer Kirchengemeinden und Einrichtungen in ganz Bayern eingestellt. Über den Evangelischen Pressedienst (EPD) wurde der Artikel der Presse zur Verfügung gestellt und hat rasch weite Verbreitung gefunden. Neu betitelt wurde er im Feuilleton der Nürnberger Zeitung, im Donaukurier und im Fränkischen Tag, abgekürzt in der Bild, Regionalausgabe Nürnberg, ferner im Katholischen Sonntagsblatt, in der Heidenheimer Zeitung (Südwestpresse) sowie in einer westfälischen Kirchenzeitung abgedruckt. Auf Französisch ist dieser Artikel von der Nachrichtenagentur „Protestinfo“ der Evangelisch-Reformierten Kirchen der Schweiz herausgegeben worden. Ein zweiter Artikel erschien von Alex Blinten in der Nürnberger Regionalzeitung Der Bote. Von mir selbst ist anschließend ein Artikel in der Zeitschrift Prisma – Franken in der Reihe „Kult-Tour“ erschienen. Diese Rezeption ist breit und vielfältig. Sie erstreckt sich weit über die Region hinaus und sie erfolgte in ganz unterschiedlichen Milieus: in evangelischen und in katholischen Kirchenzeitungen, im Boulevard ebenso wie im Feuilleton der „bürgerlichen“ Presse, sowie im nicht kirchlich gebundenen „spirituellen Milieu“. Die Lebhaftigkeit des Interesses lässt erkennen, dass es sich wohl nicht auf einen archäologischen Sachverhalt richtet, sondern auf die Gegenwart von Spuren der vorchristlichen Religion, des germanischen Heidentums, in der Gegenwart. Die Faszination davon bewegt offenbar recht unterschiedliche Leserkreise. Dieses Interesse ist vielfach im Feld der interreligiösen Begegnung situiert, der Begegnung von Christen oder von Menschen christlicher Tradition mit dem heimischen Heidentum, dessen Spuren auf eine wie immer geartete Gegenwärtigkeit hinweisen. Das ist Grund genug, als evangelischer Theologe die Einladung anzunehmen, einen Beitrag zur Sache in dieser Zeitschrift, die dem germanischen Heidentum gewidmet ist, zu veröffentlichen. Beiträge nichtchristlicher Autoren in christlichen Zeitschriften zu Themen gemeinsamen Interesses sind durchaus üblich. Entsprechend ist diese Einladung als Geste interreligiöser Gemeinschaft zu schätzen. Aus nahe liegenden Gründen wird dieser Artikel nicht Fragen der Rezeption heidnischen Erbes in christlich-theologischer Perspektive systematisch behandeln. Das soll an anderer Stelle, in einem christlichen Kontext, geschehen. Vielmehr wird v.a. der Befund, die Beobachtung von Spuren des Heidentums, bzw. einer heidnischen Kultstätte an der sehr alten „Schäferkapelle“ von Rasch dargestellt, sodann mögliche Gründe für deren Erhaltung in christlicher Zeit, rituelle und kultpraktische Aspekte, die mit den Gottheiten verbunden waren, die an dieser fränkischen Kultstätte wahrscheinlich verehrt wurden, und Elemente religiöser „Kultkontinuität“, welche die christliche Widmung dieser „Michaelskirche“ beeinflusst haben dürften, dargestellt. Die Identifikation und Erforschung vorchristlicher Heiligtümer ist mit der Frage nach ihrer Rezeption verbunden. Wenn auf einer repräsentativen Website die heidnischen Wurzeln einer von katholischer Kirchengemeinde und der Stadtverwaltung gemeinsam getragenen Leonhardi-Wallfahrt mit ihren Pferdeprozessionen und Segnungen dargestellt werden, so ist der Hinweis auf die vorchristlichen Ursprünge dieses Festes im Wodanskult vermutlich nicht nur zur historischen Erklärung des angestammten Brauchtums gedacht, sondern als Andeutung, dass dieses Ritual Teil einer „natürlichen Religion“ sein könnte, die ebenso im Heidentum wie im Christentum rituellen Ausdruck gefunden hat, und somit in einem übergreifenden Sinne „wahr“ ist. Das Interesse an vorchristlichen, heidnischen Riten und Kultstätten erfüllt offenkundig verschiedene Funktionen. Es ist seit der Romantik - also seit zwei Jahrhunderten - fester Bestandteil deutscher und europäischer Kultur und hat das künstlerische Schaffen in verschiedenen Nationalromantiken stark beeinflusst. Bei allen ist ein Interesse am Heidentum als „Ursprung“ erkennbar. Teilweise wird es mit deutlich kulturkritischen und auch christentumskritischen Motiven verbunden, wie etwa in Strawinskijs „Frühlingsopfer“. Gegenwärtig wird es vielfach als eigenständige religiöse Bezugsgröße in die Suche nach Verwurzelung einbezogen. Es erscheint hier als „signifikantes Gegenüber“, das zur Neubestimmung des Eigenen gesucht wird, in dem das Heidnische als faszinierendes Element des „Anderen“ im eigenen Ursprung wahrgenommen wird. Ein Dialog mit dem Heidentum entsteht, dessen Sinn durchaus im jeweils Eigenen liegt. Im kirchlichen Bereich äußerte sich die romantische Bewegung der neuen Herleitung des Religiösen aus dem „Ursprung“.

Dieser wurde bei Friedrich Schleiermacher, dem Geist dieser Bewegung entsprechend, pantheistisch bis panentheistisch gedeutet. Auf dieser Grundlage galt ihm jede Religion, als spirituelle Manifestation des „Universums“ und als Gegenstück zur materiellen Natur. So schrieb er 1799: „Auf alle Weise werde das Universum angeschaut und angebetet. Unzählige Gestalten der Religion sind möglich und wenn es notwendig ist, dass jede zu irgendeiner Zeit wirklich werde, so wäre wenigstens zu wünschen, dass viele zu jeder Zeit könnten geahndet werden.“ Schleiermacher griff auf einen philosophischen Allgemeinbegriff von „Religion“ zurück, um die positiven Religionen als deren historisch bestimmte Ausbildungen zu deuten, die jeweils ihre besondere Zeit der inneren und äußeren Lebendigkeit hätten. Damit versuchte er, das Christentum als hervorragende gemeinschaftliche Gestalt der Religion zu legitimieren, der Erneuerung fähig. Jedoch liegt in seinem Argument auch die Möglichkeit, dass neue Bildungen positiver Religion entstehen könnten: „Wenn nur erst die gewaltige Krise vorüber ist ... und eine ahnende Seele, auf den schaffenden Genius gerichtet, könnte jetzt schon den Punkt angeben, der künftigen Geschlechtern der Mittelpunkt werden muss für die Anschauung des Universums. ... wie lange ein solcher Augenblick noch verziehe, neue Bildungen der Religion müssen hervorgehen, und bald, sollen sie auch nur in einzelnen und flüchtigen Erscheinungen wahrgenommen werden.“ Auf der Grundlage einer gleichsam naturnotwendigen absoluten Religion werden die historischen Religionen, die vergangenen, gegenwärtigen und künftigen als jeweils bestimmte, auch kulturell bedingte, Gestaltbildungen verstanden. Das Verhältnis von Relativem und Absolutem fasst er so: „Die Grundanschauung jeder positiven Religion an sich ist ewig, weil sie ein ergänzender Teil des unendlichen Ganzen ist, in dem alles ewig sein muss; aber sie selbst und ihre ganze Bildung ist vergänglich.“ Damit hat Schleiermacher die hermeneutische Grundlage des Interesses der Romantik an vorchristlichen und außerchristlichen Religionen formuliert, das sich zu seiner Zeit etwa in der Einrichtung von akademischen Lehrstühlen für Indologie in Deutschland manifestierte. In diesen Religionen könnten Elemente religiöser Wahrheit des Absoluten sein, die in der eigenen vermisst werden. Diese Figur bestimmt das Interesse an der heidnischen Vergangenheit offenbar auch in der Gegenwart in weiten Kreisen, die nicht daran denken, selbst Heiden zu werden. Es ist ein Modell der Komplementarität. Dieses Motiv ist auch in neuzeitlicher religionswissenschaftlicher Beschäftigung mit den Religionen Alteuropas erkennbar. So ist es bei M. Eliade mit der Intention verbunden, verlorene religiöse Vorstellungen und Erlebnisweisen wieder zu gewinnen. Die vorchristlichen Kultstätten und die Spuren heidnischer Religion, die in vielen Bereichen unserer Kultur erhalten sind und als solche wahrgenommen werden, stellen gemäß dem Modell der „Komplementarität“ ein gemeinsames Erbe dar.

Dass der vorliegende Beitrag in einer Zeitschrift erscheint, die sich als zeitgenössische Repräsentanz des germanischen Heidentums versteht, bedeutet die Anerkennung des Sachverhalts, dass das als organisierte Religion untergegangene germanische Heidentum, im Zuge der bereits von F. Schleiermacher erahnten religiösen Erneuerungsbewegungen, die auch außerhalb des Christentums schöpferisch wirksam sind, eine Neuaufnahme in veränderter Form gefunden hat. Dass bei diesem Anspruch auf Kontinuität Legitimationsfragen bestehen, berührt das interreligiös gemeinsame Interesse an diesem Erbe jedoch nicht. Aus christlicher Sicht hat das neu sich formierende Heidentum durchaus einen Anspruch darauf, als Partner im inter-religiösen Dialog anerkannt zu werden. Die Frage, wie die Kontinuität zwischen der historisch untergegangenen germanischen heidnischen Religion und dem Neuheidentum, das in ihrer Tradition zu stehen beansprucht, zu bestimmen ist, ist primär eine Frage der Religionswissenschaft. In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, das auch andere Religionen erhebliche Wandlungen durchlaufen haben, wenn man etwa den Hinduismus der Veden mit jenem vergleicht, der sich in den Upanischaden entwickelt hat. Die relativ geringe Zahl von Neuheiden macht diese in theologisch-systematischer Hinsicht nicht zwingend zum Fall für „Sektenkunde“. Dass das religiöse Feld in Deutschland, trotz fortbestehender konfessioneller Stabilität erheblich im Fluss ist, und zwar keineswegs nur im Sinne einer Säkularisierung, ist inzwischen keine Neuigkeit mehr. Grund genug, auch das Neuheidentum in seinem Aspekt, „Religion“ zu sein, anzuerkennen. Für den Umgang christlicher Theologie mit nicht -christlichen Religionen ist seit jeher das Motiv der „natürlichen Religion“ auf das sich auch F. Schleiermacher bezog, grundlegend. Es hat kirchliche Tradition. So ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, sich auf die Erklärung der Römisch-katholischen Kirche zu ihrem Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen zu beziehen, die, im Dokument „Nostra Aetate“ veröffentlicht, am 28.10.1965 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet wurde, in dem dieses Motiv grundlegend ist: „In unserer Zeit, in der sich das Menschengeschlecht von Tag zu Tag enger zusammenschließt ... erwägt die Kirche mit noch größerer Aufmerksamkeit, welche ihre Haltung zu den nichtchristlichen Religionen ist. Bei ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Völkern zu fördern, erwägt sie hier vor allem, was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt. ... Schon von alters her bis zur heutigen Zeit findet sich bei den verschiedenen Völkern eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Kraft, die dem Lauf der Dinge und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist ... Diese Wahrnehmung durchdringt ihr Leben mit einem tiefen religiösen Sinn. ... Die katholische Kirche verwirft nichts von dem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Gebote und Lehren, die zwar in vielem von dem abweichen, was sie selber festhält und lehrt, jedoch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit wiedergeben, die alle Menschen erleuchtet.“

Mit diesem Dokument wird die Anerkennung einer gemeinsamen Basis religiöser Welterfahrung und Wirklichkeitssicht zur Grundlage des interreligiösen Austauschs erklärt, die fortbestehenden Differenzen vorgeordnet wird. Auch wenn protestantische Kirchen in der Frage der Anerkennung einer fundamentalen gemeinsamen religiösen Wahrheit wesentlich zurückhaltender bis ablehnend sind, hat dieses Dokument Maßstäbe gesetzt und sei daher hier vorangestellt. Für den Umgang mit alten heidnischen Kultstätten ergibt sich daraus, dass es in religiöser und religionswissenschaftlicher Hinsicht unangemessen ist, diese lediglich in historischer Distanz zu behandeln. Vielmehr löst ihre Identifikation in der Gegenwart Resonanzen in den Bereichen organisierter und „freischwebender“ Religiosität aus, die zu bedenken sind. Gemäß dem Motiv der „Komplementarität“ sind diese nicht allein im neuheidnischen oder im esoterischen sondern auch im christlichen Feld zu finden. Wenn bei der folgenden Beschreibung einer vorchristlichen Kultstätte Erstaunen aufkommen kann, wie es möglich war, dass ihre heidnische Symbole, Überlieferungen und Kultpraxis bis weit ins Mittelalter und sogar in die frühe Neuzeit an einer Kirche überdauern konnten, so kann auf die grundsätzlich „integrative“ Haltung der katholische Kirche hingewiesen werden, bei ihrer Verbreitung des Christentums das zu übernehmen, was aus dem Heidentum irgendwie als vereinbar und integrierbar erkannt wurde. Diese Praxis hat vieles Vorchristliche, oft nur wenig christianisiert, erhalten. Die protestantische Reformation hat hingegen meist einen kompletten Bruch mit diesen Traditionen herbeigeführt. Das wirkte sich auch auf die Überlieferungsgeschichte des nachfolgend vorgestellten heidnischen germanischen Heiligtums aus, der Schäferkapelle in Rasch, heute ein Ortsteil von Altdorf bei Nürnberg.

Wodansheiligtümer, ihre Umwidmung in der Christianisierung, Synkretismus und das Beispiel der Schäferkapelle in Rasch (Altdorf bei Nürnberg)

Die Schäferkapelle von Rasch im Kontext der angelsächsischen Mission. In der kleinen Gemeinde Rasch, heute zu Altdorf bei Nürnberg gehörig, steht auf einem Kirchenberg eine Kirche, die dem Erzengel Michael gewidmet ist, direkt neben ihr, nördlich angrenzend, eine sehr alte Kapelle, die Schäferkapelle genannt wird. Sie ist wahrscheinlich der Vorgängerbau der Michaelskirche und hat ursprünglich ihr Patronat gehabt. Beide Kirchen sind im Hinblick auf die Frage der Kultkontinuität als Einheit zu betrachten. Ihr Ursprung reicht in die Zeit der christlichen Missionierung Frankens zurück. Im 8. Jahrhundert wirkte Willibald (700-787), der aus dem angelsächsischen Adel von Wessex stammte, ab 743 als Bischof in Eichstätt, das in dieser Zeit als Missionsbistum für den nordbayrischen und mittelfränkischen Raum eingerichtet wurde. Indem dieser Raum politisch die Herrschaft wechselte und Grenzregion war, auch nach Osten hin, war er nur unvollkommen christianisiert. Mit ihm kamen seine Geschwister Walburga und Wunibald auf Veranlassung ihres Onkels, des Hl. Bonifatius, der flächendeckende Mission im fränkischen Raum organisierte. Diese gründeten 752 das Doppelkloster Heidenheim am Hahnenkamm, am südwestlichen Rand des fränkischen Siedlungsraums sowie des Bistums Eichstätt. Zur Klosterkirche gehört das traditionell so genannte „Heidenbrünnlein“, eine Quelle, in der Wunibald getauft haben soll. Auch hier wird, dem Prinzip der Kultkontinuität entsprechend, ein vorchristliches Heiligtum vermutet, was auf eine gezielte Übernahme germanischer heidnischer Kultstätten durch die drei Geschwister hinweisen kann. Die Michaelskirche in Rasch, d.h. damals die spätere Schäferkapelle, diente als Missions- und Taufkirche. Als Feldkirche gehörte sie nicht zu einem bestimmten Ort. Ihr Sprengel erstreckte sich über das gesamte Gebiet des südlichen und östlichen „Nürnberger Reichswalds“. Sie ist Mutterkirche von Altdorf, Feucht, Nürnberg-Mögeldorf und anderen Orten der Region. Die Widmung dieser Kirche an den Erzengel Michael entspricht dem Horizont jener Epoche und lässt vermuten, dass an diesem Ort zuvor ein Wodanheiligtum bestand. Die angelsächsischen Missionare waren auf die Situation in Franken gut vorbereitet. Sprachlich war man nicht weit voneinander entfernt. Religiös glichen sich die Verhältnisse ebenfalls. Man hatte es mit derselben heidnischen germanischen Religion in ihrer südgermanischen Ausprägung zu tun, mit denselben Gottheiten, Kulten, Riten und Gebräuchen. Die Christianisierung der Angelsachsen hatte nur wenige Jahrzehnte früher, ab 600 n. Chr. begonnen und war zur Zeit der angelsächsischen Missionare in Franken noch im Gang. So wurden dieselben Vorgehensweisen bei der Gewinnung der Bevölkerung für die neue Religion angewandt. Dem „integrativen“ Vorgehen entsprechend, erklärte man zwar die Überlegenheit des Christentums in durchaus polemischer Weise, zugleich aber stellte man Entsprechungen her und übernahm Bräuche und Feste des Heidentums, die man nach und nach christianisierte. Kultorte wie heilige Quellen und Berge sowie heidnische Tempel sollten übernommen anstatt zerstört und mit christlicher Bestimmung neu geweiht werden. Ebenso sollte mit den Festen und Riten verfahren werden. Eine entsprechende Instruktion Papst Gregors des Großen ist dazu aus England überliefert. Diese Anweisung bezieht sich sowohl auf die Tempel wie auf die Riten: „Wenn Euch also der allmächtige Gott zu dem sehr ehrwürdigen Mann und unserem Bruder, dem Bischof Augustin geführt haben sollte, sagt ihm, was ich in der Sache der Engländer lange überlegt und bedacht habe; nämlich, dass die Heiligtümer der Götzen bei diesem Volk keineswegs zerstört werden müssen, dass aber die Götzenbilder, die sich darin befinden, zerstört werden sollen, dass Wasser geweiht und diese in den Heiligtümern versprengt, dass Altäre gebaut, Reliquien niedergelegt werden. Denn wann diese Heiligtümer gut gebaut sind, müssen sie notwendigerweise vom Dämonenkult in die Verehrung des wahren Gottes verwandelt werden, damit dieses Volk, wenn es sieht, dass diese seine Heiligtümer nicht zerstört werden, den Irrglauben aus dem Herzen verbannt, und, den wahren Gott erkennend und bewundernd, mit mehr Zutrauen an den Orten zusammenkommt, an die es gewöhnt ist, Und da sie viele Rinder als Opfer für die Dämonen zu schlachten pflegen, muss auch für sie daraus eine andere Feier werden, dass sie am Tag der Weihe ... Hütten aus Baumzweigen um diejenigen Kirchen bauen, die aus den Heiligtümern entstanden sind, und den Festtag mit frommen Festmahlen begehen.. Deutlich ist hier, dass die heidnischen Tempel in ihrer Eigenschaft als Kultorte wahrgenommen werden. Durch rituelle Reinigung mit Weihwasser und durch Niederlegung von Reliquien sollen sie vielmehr eine neue religiöse Bestimmung erhalten. Die Tempel werden also nicht einfach pragmatisch als geeignete Bauten übernommen, sondern in ihrer Eigenschaft als Heiligtümer, die verwandelt werden. Ebenso die Riten. Die Kultkontinuität ist damit als religiöse Verwandlung bestimmt und angewiesen.

Zum Synkretismus der Missionspraxis

Dieses integrative Vorgehen hatte zur Folge, dass sich aus erhaltenen Festbräuchen, Kultorten und aus der Wahl der Kirchenpatrone oft gute Rückschlüsse auf den vorchristlichen Kult und auf die verehrten Gottheiten und Rituale ziehen lassen. Dabei verbanden und vermischten sich religiöse Vorstellungen und Bräuche vielfach. Dieser „Synkretismus“ bedeutet keineswegs nur die Vermischung zweier Religionen zu einer neuen, sondern bezeichnet auch die Übernahme von Elementen einer Religion in eine andere. So erklärt der Bayreuther Religionswissenschaftler Ulrich Berner: „Aus zwei Systemen kann eines entstehen, indem die Grenze zwischen den Systemen aufgehoben wird und die heterogenen Elemente zu Elementen eines neuen umfassenden Systems erklärt werden. Diesen Prozess könnte man „Synkretismus aus System-Ebene“ nennen. ... Die Begegnung verschiedener Systeme kann aber auch dazu führen, dass neue Elemente entstehen und sich das betreffende System damit so wandelt ... Dieser Prozess könnte „Synthese“ genannt werden.“ Eigenschaften, Funktionen und Kultbräuche germanischer heidnischer Götter wurden auf christliche Heilige übertragen, die gleichsam einen Teil des Wesens und der Aufgaben ihrer „Vorgänger“ erbten. Dabei mündete der synkretistische Prozess in eine Synthese. Wir können also annehmen, dass dieser Prozess nicht nur einseitig erfolgte, sondern beidseitig. D.h., dass sowohl auf ritueller Ebene wie im Hinblick auf die Heiligen und Kultorten zugeschriebenen Eigenschaften eine gute Portion Heidentum in das mittelalterliche katholische Christentum aufgenommen wurde und zuweilen bis in die Gegenwart lebendig ist. Ein genauer Blick auf katholisches Volksbrauchtum dürfte in vielen Fällen einen Schlüssel zur Rekonstruktion heidnischer Bräuche und Riten liefern. Im Hinblick auf einen Berg im Allgäu, den „Säuling“, hat dies beispielsweise Elisabeth Wintergerst durchgeführt; ebenso ist Sybil Gräfin Schönfeldt in ihren Büchern zu Bräuchen und Festen des Jahreskreises vielfach deren heidnischen Wurzeln nachgegangen. Es ist ein breites Feld, mit vielen örtlichen oder religionssystematischen Zugängen. In diesem Zusammenhang kann an die Arbeiten Jacob Grimms erinnert werden. Spätestens seit der Romantik ist ein Bewusstsein von kulturell verankerten religiösen Besonderheiten in den Ländern des germanischen Sprachraums verbreitet, die diesen Wurzeln zugeschrieben werden. Der von U. Berner beschriebene Prozess der Synthese als einer möglichen Ausformung solcher Durchdringung kann durchaus systematisch aufgenommen werden.

Unabhängig von der Intention einer solchen Ersetzung wird dabei ein Prozess des Synkretismus in Gang gesetzt: die implizite Identifikation der alten und neuen numinosen Entität ermöglicht Kultkontinuität und die Übertragung von Eigenschaften und Ritus, sowie religiösen Anliegen und Verehrung auf die neue Entität. Die hierdurch in die neue religiöse Sphäre übertragenen religiösen Vorstellungen und Praktiken erweisen sich oft als ausgesprochen langlebig. Daneben bestehen zuweilen Elemente des alten Kults fragmentarisch oder in einer religiösen Subkultur fort, wenn sie im Zusammenhang mit einem weiterhin geübten Ritus stehen. So überdauerten Formen des in den altsächsischen Siedlungsgebieten besonders verbreiteten Wodanskultes in Niedersachsen, Westfalen und England bis in die Gegenwart, hier verbunden mit Spuren des Wissens um ihre ursprüngliche Bestimmung. Über Jahrhunderte blieb nach der Christianisierung in ländlichen Gemeinschaften ein Wissen um die ursprüngliche Bestimmung eines Kultortes lebendig - vielfach in Sagenform, bezogen auf einen „niederen“, als „Aberglauben“ bezeichneten, numinosen Bereich - ein Wissen um die spezifischen „Kräfte“ und „Zuständigkeiten“ des Heiligtums, die sowohl der alten wie der neuen dort anwesenden transzendenten Wesenheit zugeschrieben wurden, wobei die neue Eigenschaften der älteren aufnehmen konnte, und drittens, Formen der Verehrung und des Kultes, zuweilen in oberflächlicher Adaption an die Kultgebräuche der neuen Religion - so dass etwa aus Opfergaben Votivgaben des Volkskatholizismus wurden. Dieser Synkretismus kann als Synthese vollzogen werden. Daneben gibt es auch das von der neuen Religion geduldete Fortbestehen älterer Praktiken. So beobachtete Jacob Grimm, dass bis in die Neuzeit hinein, besonders in Niedersachsen und Westfalen, Pfarrer zur Erntezeit an bäuerlichen Opferriten für Wodan teilnahmen und dafür honoriert wurden. Wenn diese Notiz zutrifft, verweist sie darauf, dass heidnische Praktiken nicht nur außerhalb der Kirche, sondern zumindest in ländlichen Gemeinden bis in die Neuzeit hinein im Raum der Kirche stattfanden und geduldet wurden. Der Hinweis auf teilnehmende Pfarrer, die selbst dem ländlichen Milieu entstammt sein dürften, könnte darauf hindeuten, dass diese Riten als Teil des allgemeinen Volksbrauchtums empfunden und akzeptiert wurden, vergleichbar den Perchten-Läufen im altbayrisch-österreichischen Raum oder der alemannischen Fassnacht.

Die Ersetzung Wodans durch den Erzengel Michael als Patron von Kultorten

Was die Ersetzung Wodans durch den Erzengel Michael betrifft, so ist diese für die Zeit der angelsächsischen Mission im ostfränkischen Reich vielfach belegt: „Nach Zentraleuropa kam die Verehrung Michaels durch die Langobarden in Italien, deren Schutzpatron er war, und aus Westen durch die angelsächsischen Missionare. Im Zuge der Christianisierung des ostfränkischen Reiches wurde Michaels Fest auf dem Konzil von Mainz 813 durch Ludwig den Frommen (Heiliger) auf die Woche ab Herbstbeginn festgelegt. Hier ersetzte er die Verehrung des germanischen Gottes Wotan. .... Unter den vielen dem Heiligen Michael geweihten Bergkirchen werden oft alte Kultstätten für Wotan vermutet. Sein Patronat für das Fränkische Reich setzte sich über das des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis in unsere Tage fort, wo er als Schutzheiliger Deutschlands (»der deutsche Michel«) angesehen wird.“ Die Stiftung von Kirchen des Erzengels Michael setzt in Deutschland erst im 8. Jahrhundert ein, besonders massiv im Herzogtum Sachsen. Ein Echo hat diese Praxis in der Zeit der christlichen Mission in Skandinavien. So wird berichtet: „Allein in der ältesten Missionslandschaft Norwegens, am Oslofjord, gab es 20 Michaelskirchen“.

Diese Ersetzung ist durch die Wodan und dem Erzengel Michael gemeinsame Rolle als Anführer eines himmlischen Heeres begründet, auch durch ihren Bezug zu den Seelen der Toten. Nach heidnisch-germanischer Vorstellung war Wodan Anführer der „Wilden Jagd“. So erscheint er im „Münchner Nachtsegen“. Zu dieser gehören neben transzendenten Wesenheiten auch die Seelen Verstorbener. Der Erzengel Michael gilt als Begleiter der Seelen ins Jenseits und als „Seelenwäger“ beim Tod. Es ist bemerkenswert, dass diese Eigenschaft als „Seelenführer“ Grundlage der spezifischen Ersetzung Wodans durch den Erzengel Michael wurde. Sie gibt etwas von der damaligen Wahrnehmung Wodans zu erkennen. Der Michaelistag wurde entsprechend in die Zeit gelegt, die dem Wodan geweiht war. Dass andere Eigenschaften Wodans ebenfalls eine Rolle spielten, ist daran zu erkennen, dass er im bayrisch-österreichischen Raum auch durch den Hl. Leonhard ersetzt wurde, der den Aspekt des Heilers der Tiere repräsentiert. In der Rascher Schäferkapelle spielt dieser Aspekt Wodans in der Kultpraxis der Schäfer eine Rolle.

Der Ursprung des Namens „Schäferkapelle“ und die Schäfer als Kultverband

Die Züge des synkretistischen Prozesses, der sich im Zuge der Übernahme älterer, germanischer Kultorte durch das Christentum im frühen Mittelalter einstellte und noch Jahrhunderte später nachweisbar bleibt, sind für die Deutung der Michaelskirche in Rasch bei Altdorf und der direkt neben ihr stehenden Schäferkapelle wesentlich. Nachdem des Patronat des Erzengels Michael von der alten Kapelle in Rasch auf die daneben errichtete romanische Kirche übertragen wurde, erhielt die Kapelle im Volksmund den Namen Schäferkapelle. Dieser kann mit der Eigenschaft Wodans als Heiler von Pferden und Vieh in Verbindung gebracht werden. Sie würde einen Bericht aus dem 18. Jh. über die Herkunft des Namens Schäferkapelle für die alte Kirche, den Vorgängerbau der Michaelskirche in Rasch, erklären. 1796 notiert ein Historiker der Altdorfer Universität, G. A. Will, unter Verweis auf eine ältere Arbeit, die er bereits 1772 verfasst hatte, in seiner Chronik der Stadt Altdorf: „Hinter der Rascherkirche stehet eine öde Kapelle, die Schäferkapelle genannt, in welcher vor Alters die in dieser Gegend befindlichen Schäfer sollen zusammen gekommen seyn und ihre Andacht verrichtet haben.“ Diese Notiz ist schon deshalb wichtig, da sie zu einer Zeit festgehalten wurde, als wesentliche alte Traditionen der ländlichen Kultur noch nicht durch Aufklärung und die hereinbrechende Moderne verloren gegangen waren. Doch auch G. A. Will blickt schon auf eine Überlieferung aus vergangenen Zeiten zurück. Ob er dabei auf vorreformatorische Zeiten zurückblickt, ist nicht erkennbar. Indem die Schäferkapelle nach der Reformation jedoch „entweiht“ wurde und profanen Zwecken diente, ist hier ein langer Zeitraum der mündlichen Überlieferung anzusetzen, der darauf verweist, wie bedeutsam diese Versammlungen gewesen sein müssen. Die unbestimmte Formulierung, dass die Schäfer hier gemeinschaftlich „ihre Andacht verrichtet haben“ lässt auf einen Kultverband schließen, der eigene Andachtsformen pflegte.

Die Schäferkapelle als eine erhaltene heidnische Kultstätte

Im Folgenden soll anhand einiger signifikanter Merkmale dieser Kapelle dargelegt werden, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass diese nicht nur an der Stelle eines ursprünglichen Wodansheiligtums steht, sondern dass sie im Wesentlichen die Gestalt und wahrscheinlich auch Teile des ursprünglichen Wodanstempels in baulicher Kontinuität enthält. Ebenso ist wahrscheinlich zu machen, dass Kultkontinuität hier auch im Hinblick auf die Riten und die „Kultgemeinde“ bestand. Dafür sprechen 1. das Patronat der Erzengels Michael, 2. mittelalterliche Votivgaben, die im Boden der Schäferkapelle gefunden wurden, und zur überlieferten Rolle Wodans als Heiler von Tieren, insbesondere von Pferden, passen, 3. dass an verborgener Stelle an der Außenwand der Schäferkapelle, über den Südfenstern, drei Symbole zu finden sind, von denen zwei als Runen, wahrscheinlich „Gebo“ und „Ingwaz“ zu deuten sind, somit als Symbole der Gefjon und des Ing, das dritte als Rabe und Symbol des Wodan zu identifizieren sind, 4. die Namenstradition der Schäferkapelle, 5. der Grundriss der Kapelle, der sich erheblich und signifikant von der Grundform romanischer Kirchen sowie der altkirchlichen Basilika-Form mit ihrer liturgischen Symbolik unterscheidet, 6. die Erhaltung der Schäferkapelle als Vorgängerbau der Michaelskirche mit seinem alten Grundriss und den Ornamenten aus Gründen der Statik, 7. die Lage des Kirchenkomplexes auf einem Kirchenberg über dem Fluss. Zusammen lassen sie keinen Zweifel daran, dass diese Schäferkapelle im Wesentlichen die Gestalt und Ornamente eines heidnischen germanischen Tempels bewahrt hat.

Die Lage der Schäferkapelle auf einem Berg am Fluss

Die Lage der Schäferkapelle auf einer Anhöhe über dem kleinen Fluss, der Schwarzach, entspricht der Lage vieler Wodans- bzw. Michaelsheiligtümer auf einem Berg. Viele „Michaels“-Kirchen sind auf Bergen und Anhöhen gelegen wie ehemals dem Wodan geweihte Heiligtümer: so der Mt. St. Michel in der Normandie, der St. Michael’s Mount in Cornwall, ebenfalls auf einer Insel, sowie der Michelsberg in Heidelberg oder der Greinberg bei Miltenberg. Die Lage der „Schäferkapelle“ weist damit auf Kultkontinuität hin. Dass noch lange nach der Christianisierung Michaelskapellen auf Bergen oder künstlichen Anhöhen gegründet wurden, weist auf das Fortbestehen heidnischer Vorstellungen hin. Die Hinweise darauf, dass sich dort, wo im 8. Jahrhundert die Michaelskirche erbaut wurde, eine Stätte des Wodanskultes von offenbar regionaler Bedeutung befand, passen zu dieser Lage der Schäferkapelle. Auch die Lage der Schäferkapelle an der Schwarzach könnte bedeutsam sein. Es gibt eine Entsprechung zur Lage des Klosters Niederaltaich in Niederbayern, das im Jahr 731 gegründet wurde. Dieses, so berichtet der Chronist Placidus Hayden im 18. Jahrhundert zur Tausendjahrfeier des Klosters, wurde dort errichtet, wo eine heilige Eiche als Kultstätte an der Donau stand. Der Name des Klosters gehe darauf zurück: „die Niedere alte Aich, von einer an der Donau gestandenen, übergrossen Eichen, bey welcher das tumme Heyden-Volck der Göttin Isidi viel Opfer abgestattet ... Dieser abscheuliche Höllen-Dienst dauerte so lange, biß der H. Pirminius ... als ein andrer Josias, diesen abgöttischen Baum niedergehauen, und einen neuen, dem höchsten Gott gewidmeten, will sagen, dieses annoch stehende Closter ... darauf gepflanzt und aufgerichtet hat“ Die hier als Isis angesprochene Göttin war nach der interpretatio romana mit der Venus identifiziert, diese nach der interpretatio germanica mit der Göttin Frija. Zu ihrer Identität und zur Frage ihrer Abgrenzung von Freya bemerkt Rudolf Simek: „Hauptgöttinnen sind im nordischen Pantheon nur zwei zu finden, nämlich Frigg, die Gattin Odins, und Freya. Da im südgermanischen Bereich Frigg den Namen althochdt. Frija, langob. Frea trug und die Skandinavier den aus dem lateinischen dies Veneris „Tag der Venus“ übersetzten friadagr aus dem Süden übernahmen, statt ihn selbst zu übersetzen, ist die gängige Trennung der Funktionen in Frigg als Frau des Odin und Götterfürstin und Freya als Liebesgöttin, die von mittelalterlichen Autoren ganz selbstverständlich für Venus eingesetzt wird, nur schwer haltbar.“ Simek schlägt eine späte Differenzierung der etymologisch verwandten Göttinnen Frija und Freya vor, sowie fließende Identitäten, die fallweise zu ihrerIdentifizierung geführt haben können, trotz ihrer verschiedenen - jedoch zuweilen auch schwankenden - Zuordnung zu den Asen und Wanen. Das schließt nicht aus, dass sie dort, wo beide bekannt waren, auch als verschiedene Wesenheiten verstanden wurden. Ihre fallweise Identifikation miteinander ist für unseren Zusammenhang jedoch interessant, indem eine der Runen der Rascher Schäferkapelle, Gefjon (in angelsächischer Lesart) somit auf Frija hinweist. Denkbar ist, dass Placidus Haiden eine Verwechslung unterlaufen ist, so dass er eine etwaige Erwähnung von „idisi“, in seiner Quelle, also die Idisen, wie sie im Ersten Merseburger Zauberspruch als heilkundige weibliche göttliche Wesen und Schutzgottheiten, erwähnt sind, mit „Isis“ identifizierte. Hier wäre allerdings der Wechsel zum Singular zu erklären. Die Idisen waren häusliche Gottheiten; ihnen wurde auch die Fähigkeit zugesprochen, Gefangene zu befreien. Ihre kultische Verehrung ist aus Skandinavien bezeugt. Sofern P. Haiden in seiner Quelle nicht eine „Isis“ fand, könnte er eine „Venus“ vorgefunden haben, die er im Kontext des 18. Jahrhunderts als „Isis“ bezeichnete, die damals zugleich Symbolgestalt des Kosmotheismus war. Wahrscheinlich dürfte P. Haiden die Germania des Tacitus bekannt gewesen sein, der ausdrücklich eine Verehrung der Isis - in einer Reihe mit Wodan (Mercurius) und Donar (Hercules) bei den Sueben erwähnt. Damit ist ein Bezug zur Frija wahrscheinlich. Die Entsprechung zu den „Donarseichen“ als Kultstätten ist auffällig. Demnach hätte Frija in Niederaltaich eine Kultstätte an einer mächtigen Eiche im Auwald an der Donau gehabt. Der Name „Niederaltaich“ ist wahrscheinlich von „niedere alte Ach“ abgeleitet und verweist damit auf die Lage an einem kleinen Fließgewässer. So wäre auch die Nähe des Schäferkapelle zur Schwarzach, die unter dem Kirchenberg dahinfließt, bedeutsam. Stand der „Berg“ mit Wodan in Verbindung, so die Flussaue der Schwarzach mit Frija. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Notiz von Clemens Alexandrinus, der eine Beobachtung Cäsars zur Divination bei den Germanen wie folgt wiedergibt: „Auch gibt es unter den Germanen so genannte heilige Frauen, die durch Betrachtung der Wirbel in Flüssen und der Gegenströmungen und durch das Hören auf die Geräusche der Ströme, künftige Dinge vorherwissen und vorhersagen. Sie ließen ihre Männer nicht gegen Cäsar kämpfen, bis der Neumond aufging.“

Über die Symbolik der Himmelsrichtungen und die Achsen der Schäferkapelle

Die Schäferkapelle steht annähernd in Ost-West-Richtung; allerdings weicht ihre Achse um einige Grade von der in einem Abstand von 1 - 3 Metern südwärts und annähernd parallel zu ihr stehenden „geosteten“ Michaelskirche ab, die im 11. Jahrhundert errichtet wurde. Deren Gestalt ist romanisch, mit normgerechtem Grundriss. Dass die romanische Michaelskirche nicht auf dem Platz der Schäferkapelle selbst errichtet wurde, deren Gestalt damit zerstört worden wäre, ist wahrscheinlich auf statische Gründe zurückzuführen. Die Schäferkapelle ist direkt an der Kuppe des Hügels, des „Kirchenbergs“, errichtet worden. Dieser Platz hätte wohl das Gewicht der größeren Michaelskirche nicht getragen. So wurde sie direkt vor die Schäferkapelle gesetzt. Von Seiten der Archäologie wird inzwischen die Auffassung vertreten, dass die heutige „Schäferkapelle“ an der Stelle der ursprünglichen Michaelskirche stehe, während die heutige Michaelskirche im 11./12. Jahrhundert daneben neu erbaut worden sei. 1988-89 wurden durch das Bayrische Landesamts für Denkmalpflege unter Leitung von R. Koch Grabungen in der Schäferkapelle durchgeführt, die durch das abrutschende Fundament der am Hang erbauten Schäferkapelle sowie des sich ebenfalls senkenden Chorbogens in ihr, notwendig geworden waren. Im Verlauf dieser Probesondierungen wurde in zwei Metern Tiefe auch das Ziegelpflaster, das den ursprünglichen Fußboden bildete, entdeckt. Der heute vermauerte Südeingang reicht auf dieses alte Bodenniveau hinunter. Die Aufschüttung stammt wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert Unter dem alten Bodennviveau in zwei Metern Tiefe hat man Geröll gefunden, das drauf hinweist, dass hier von Anfang an ein Steinbau gestanden haben könnte. Zur Frage der baulichen Kontinuität der „Schäferkapelle“ und zur Gestalt des ursprünglichen Baus, vor seiner frühgotischen Überformung, gibt es keine abschließende Stellungnahme. Im 15. Jahrhundert wurde die Michaelskirche und die Schäferkapelle samt dem umgebenden Friedhof mit einer Mauer zur Festungsanlage ausgebaut. Dabei wurde die Nordwand der Schäferkapelle in die Festungswand einbezogen und bildet deren nördliche Seite. Der Boden der Schäferkapelle ist wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Ausbau der Festungsanlage nachträglich erhöht worden. Dafür spricht, dass die umgebende Fläche auch gegenüber dem Bodenniveau der im 11. Jahrhundert erbauten Michaelskirche erhöht wurde. In ihr ist das alte Bodenniveau erhalten geblieben. Treppen führen fast 2 Meter hinab in die Kirche. Mit diesen baulichen Veränderungen wird die Raumgestalt und ihre Symbolik in signifikanter Weise verändert, wie im Folgenden ausgeführt. Der Grundriss der Schäferkapelle entspricht in symbolisch wichtigen Elementen nicht der romanischen Normalform einer Basilika. Der ursprüngliche Haupteingang liegt nach Süden. Er ist offenbar im Zusammenhang mit der Anhebung des Bodenniveaus zugemauert worden, so dass er heute nur noch als Relief in etwa 10 cm tiefer Wandvertiefung an der Innenwand zu erkennen ist, wo er etwa einen Meter über das heute Bodenniveau herausragt. Angesichts seiner ursprünglichen Höhe von etwa 3 Metern und seiner Breite von über einem Meter ist deutlich, dass dies das Hauptportal der Schäferkapelle war. Das heutige Tor im Westen steht auf dem neuen Bodenniveau, das im 15. Jh. geschaffen wurde. In dieser Hinsicht gleicht die Schäferkapelle einer sehr alten Kirche in der Oberpfalz, die laut Grabungsbefund auf das 9. Jahrhundert datiert wurde: der Kirche von Penk. Diese Kirche weist bis heute ein großes Südportal auf, sowie einen zugemauerten Eingang nach Norden. Das Langhaus ist weitgehend unverändert erhalten. Ein Vorgängerbau aus Holz, dessen Reste gefunden wurden, stand wohl bereits im 8. Jahrhundert. Die Kirche von Penk diente - so die Hinweise aus der Namensüberlieferung - als Gerichtsort („Penk“ von: Gerichts-„Bank“) und auch als Thingplatz. Indem die Rechtssprechung in heidnischer Zeit eine sakrale Dimension hatte, ist dies ein religiös bedeutsamer Ort und wahrscheinlich ein Kultort gewesen. Der Dachgiebel nach Westen lässt noch das bauliche Vorbild rechteckiger Holzhäuser erkennen, welche die Normalform heidnischer germanischer Tempel war. Die ältesten erhaltenen Kirchen Englands, die im 6. und 7. Jahrhundert in der Zeit der Christianisierung errichtet wurden, haben diesen schlichten Grundriss eines Rechtecks bewahrt. Die Kirche von Escomb aus dem 7. Jahrhundert ist unter ihnen die am besten Erhaltene. Auch sie hat eine anhand der Tore erkennbare symbolische Nord-Süd-Achse. Die umliegenden Gräber scheinen darauf ausgerichtet zu sein. Im Osten hat die Schäferkapelle eine flache, eckige Apsis. Diese stellt eine Abweichung vom Grundriss der Form eines schlichten Langhauses dar, wie ihn germanische Kultbauten hatten. Man kann annehmen, dass diese im Zuge des gotischen Umbaus der Kapelle entstand und nicht den ursprünglichen Abschluss nach Osten hin bildete. Dort wo die spätmittelalterliche Festungsmauer im Osten an die Nordwand der Schäferkapelle anschließt, steht heute noch ein Rest der Nordmauer über die Apsis hinaus. Zu den Umbauten der Gotik gehört der Einbau eines Rundbogens im Inneren auf dem neuen Bodenniveau zwischen dem zweiten und dritten Fenster, von Osten aus gesehen. Er ist ohne Bezug zur äußeren Gestalt und dem Umriss der Kapelle. Bei den Renovierungsarbeiten im Nordteil des Chores wurden vierzehn Skelette gefunden, die durch den Einbau des Chorbogens in ihrer Lage gestört worden waren, wie der an der Grabung beteiligte Ortspfarrer Gerhard Böck berichtete. Unter den Toten war ein etwa 80-jähriger Mann mit eingeschlagenem Schädel sowie ein 14-jähriges Mädchen. Das Alter der Schädel wurde von einer hinzugezogenen Zahnärztin festgestellt. Folgt man dem Hinweis der Kirchen von Escomb und Penk, könnte die Sitte der Bestattungen in oder vor der Kirche ebenfalls in vorchristliche Zeit zurück reichen. Mit den Umbauten des Spätmittelalters wurde in der Schäferkapelle die für germanische Tempel wichtige Süd-Nord-Symbolik funktionslos gemacht. Der Norden steht in der altgermanischen Religion für den Bereich der bösen Geister der Nacht und der Frostriesen. Daher ist die Nordseite von norwegischen Stabkirchen, bei denen man davon ausgeht, dass sie in fast bruchloser Kontinuität zu den vorchristlichen germanischen Kultbauten stehen, meist schmucklos. Auf der Nordseite befinden sich bestenfalls kleine Fenster und Türen, sofern überhaupt vorhanden. Die Südportale waren geschmückt und sind in den erhaltenen Stabkirchen Norwegens oft besonders ausgestaltet worden. Die Nord-Süd-Achse war auch im Inneren wichtig. Ein Hausherr, der einer häusliche Kultfeier vorsaß, nahm auf einem erhöhten Stuhl an der Nordseite Platz. Im Inneren waren tragende Säulen von oft massivem Umfang kultisch wichtig, die als Kultsäulen fingierten. An ihnen wurden Opfergaben wie „Goldgubber“ - Schaumünzen mit religiösen und symbolischen Motiven, die als Amulette oder zu kultischen Zwecken verwendet wurden - mit Symbolen Wodans und anderer Gottheiten, mit symbolischen Runen und Tieren, besonders Pferden, gefunden. Die Motive der Schmuckformen über den Fenstern an der Südwand der Schäferkapelle entsprechen denen vieler kultisch verwendeter Goldbrakteaten, wie sie besonders in Südskandinavien in Tempeln gefunden wurden. Der Achsenausrichtung jener skandinavischen Stabkirchen entspricht auch die Gestalt der Schäferkapelle von Rasch. Ihre Nordseite ist völlig schmucklos, obwohl sie zum Hang hin, der sich am Flussufer erhebt, eine gut sichtbare Schauseite hat. Die der Fenster auf der Südseite lassen erkennen, dass diese symmetrisch um das Mittelfenster angeordnet sind, indem dieses tiefer gezogen ist, als die beiden äußeren Fenster. Diese Beobachtung ist insofern wichtig, als sie zeigt, dass die Südfenster eine ästhetische Einheit bilden. Damit dürften auch die Symbole über ihnen als Sinneinheit zu deuten sein. Die Südseite mit ihrem breiten Portal und den drei Fenstern, geschmückt mit Runen und mit dem Symbol eines Raben, den einzigen Ornamenten und Symbolen an den Wänden der Schäferkapelle, ist so signifikant ausgestaltet, dass sie den Schlüssel zur Deutung der Kapelle bietet. Es ist dabei zweitrangig ob diese - für die Gotik irreguläre - Betonung der Südseite als Hauptfront und die Symbole über den Fenstern Reste ursprünglichen Mauerwerks sind oder ob sie beim Umbau der Kapelle anhand der Gestalt und Ornamentierung eines ursprünglichen Kultbaus, mit wesentlichen Zügen eines heidnischen germanischen Tempels, nachgestaltet wurden. In der Zusammenschau mit den übrigen hier beschriebenen Merkmalen der Schäferkapelle und Michaels-Tradition sind sie nicht anders denn als symbolische Elemente eines heidnischen germanischen Tempels zu deuten. Warum diese in christlicher Zeit erhalten geblieben sind und offenbar erneuert wurden, ist aus spezifischen Motiven mittelalterlichen Kirchenbaus und Weltverständnisses erklärbar, wie später ausgeführt. Es spricht somit einiges dafür, dass der ursprüngliche Baukörper der Schäferkapelle bereits in vorchristlicher Zeit errichtet wurde. Hierzu gibt es Parallelen in Norwegen. Dass in heidnischer Zeit an dieser Stelle ein Vorgängerbau aus Holz bestanden haben kann (eine „hölzerne Feldkirche“ aus dem 7./8. Jahrhundert wird vom Landesamt für Denkmalschutz hier vermutet), die später durch eine Kirche aus Stein ersetzt worden wäre, ist möglich aber nicht zwingend. Wesentlich ist, dass die Achsenausrichtung der Kapelle, mit der Schauseite nach Süden, und den Reliefs der Runen und der Figur eines Raben über den Südfenstern erhalten geblieben sind. Es ist unwahrscheinlich, dass sie zu christlicher Zeit neu geschaffen worden wären. Die Lage der Schäferkapelle zur Michaelskirche gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Michaelskirche jünger als die Schäferkapelle ist. Die Schauseite der Schäferkapelle, mit den drei mit Symbolen ornamentierten Fenstern und dem zugemauerten Südportal - das stattlicher war, als die heutigen Türen der Schäferkapelle - ist in einem bis drei Metern Entfernung mit der Michaelskirche „zugestellt“ worden. Damit wurde der Schäferkapelle ihre symbolisch wichtige „Schau“ genommen. Die Schauseite geriet in den Schatten der Michaelskirche und blieb - womöglich unbeachtet - erhalten. Das Südportal war mit der Erbauung der Michaelskirche funktionslos geworden.

Die Schäferkapelle als heidnischer Tempel und Bezüge zu naturräumlichen sagenumwobenen Orten in der Umgebung

Die Deutung der Schäferkapelle von Rasch als übernommener heidnischer Kultbau ist ein weiterer Hinweis auf das Vorhandensein von Tempeln im Bereich germanischer Religion, über das Konsens in der Forschung herrscht. Die verbreitete Vorstellung, dass die alten Germanen kaum Kultbauten hatten, stützt sich auf die Aussage des Tacitus aus seiner Germania, die Germanen hielten ihre Kultveranstaltungen im Freien ab, in heiligen Hainen etwa, doch ist hierin, wie öfters bei Tacitus, eine romantisierende Tendenz in der Darstellung der Germanen zu erkennen, als einer Gesellschaft, die er im Gegensatz zur römischen naturverbundener fand. Die von Tacitus beschriebenen „heiligen Haine“ gab es. Manche sind durch Kultkontinuität bis in die Neuzeit als Kultstätten lebendig geblieben. Neben den Kultorten in der Natur gab es jedoch germanische Tempel, so den Tempel von Uppsala, von dem Adam von Bremen berichtete, ferner steinerne Altäre und Kultstätten. So ist es durchaus vorstellbar, dass in Rasch nicht nur die Schäferkapelle als Kultstätte diente, sondern auch besondere naturräumliche Orte in der Umgebung. Die in der Nähe befindliche „Teufelskapelle“ von Grünsberg, einer Schlucht mit Wasserfall und einem Bergwerk, das in einer Nürnberger Akte von 1529 erstmals als „Perckwerck Teuffelskirchen“ erwähnt ist, und die „Teufelshöhle“ bei Prackenfels könnten darauf hinweisen, dass die Schäferkapelle als Tempel zu einer umgebenden „sakralen Landschaft“ gehörte, sofern die mit ihnen verbundenen Sagen „Deckerinnerungen“ an ältere kultische Bestimmungen sein sollten. Die Namen „Teufelskapelle“ und „Teufelskirche“ lassen annehmen, dass sich hier noch lange nach der Christianisierung heidnische Bräuche und Riten zelebriert wurden, so dann diesen Orten der Ruf des „Diabolischen“ anhing. Auf solche Andachten weist ein mittelalterliches Dokument hin: „Kamtest du zum Beten an einen anderen Ort als die Kirche oder an einen vom Bischof oder Priester geweihten Ort, nämlich zu Quellen oder zu Felsen oder zu Bäumen oder auch zu Scheidewegen, und nahmtest du ein Licht oder eine Fackel mit und zündetest du sie zur Verehrung des Ortes, oder trugst du Brot oder eine andere Opferspeise weg und verzehrtest du sie dort, oder suchtest du irgend ein Heil für deinen Leib oder deine Seele? Tatest du es oder stimmtest du zu büßest du es 3 Jahre lang.“

Die Vorgeschichte der Rascher Schäferkapelle im Kontext der Christianisierungszeit

Es ist wahrscheinlich, dass in den fast zwei Jahrhunderten zwischen der Mission iro-schottischer Mönche im bayrisch-fränkischen Raum zwischen etwa 600 und 750 n. Chr., besonders im Raum Würzburg sowie in Altbayern, und der angelsächsische Mission des 8. und 9. Jahrhunderts die Bevölkerung Bayerns und Frankens durchaus religiös gemischt war, mit heidnischen und christlichen Regionen und Bewohnern. Es waren Jahrzehnte der Koexistenz, in denen Einflüsse in beiden Richtungen wanderten. Dass diese Koexistenz von Auseinandersetzungen bestimmt war, zeigt etwa der Konflikt in der herzoglichen Familie in Würzburg, der zur Ermordung des iro-schottischen Missionars Kilian führte. Trotz solcher Konflikte, die in die Geschichtsschreibung eingegangen sind, bestimmten Koexistenz und Doppelglauben viel stärker die religiöse Wirklichkeit über Jahrhunderte hin. Die vielen Zeugnisse heidnischer Überlieferungen, die bis ins 11. Jahrhundert in christliche Texte eingestreut erhalten geblieben sind, zeugen davon. Es ist für einen langen Zeitraum mit religiöser Koexistenz und „Doppelglauben“ zu rechnen, bei der heidnische Vorstellungen, Praktiken und Überlieferungen in einer zunehmend christianisierten Welt fortbestanden. Daher ist trotz aller Aufforderungen, dem Heidentum abzusagen und abzuschwören, eher von einer langsamen Integration auszugehen. Dies eröffnet auch die Möglichkeit, dass heidnische Symbole an christlichen Kirchen geduldet wurden. Die Schnitzereien mit heidnischen Motiven in norwegischen Stabkirchen belegen das deutlich. So ist erklärbar, warum die Runen und das Wodanssymbol des Raben an der Rascher Schäferkapelle überdauert haben. Ebenso wäre damit erklärt, wie früher christlicher Kirchenbau die Ausführung des Rascher Tempels beeinflusst haben könnte. Der Raum Nürnberg, zu dem die Michaelskirche und die Schäferkapelle von Rasch gehören, blieb bis ins 9. Jahrhundert vorwiegend heidnisch, als dieses Gebiet von Eichstädt aus christianisiert wurde. Somit können einige Jahrzehnte angesetzt werden, in denen Heiden christliche Kirchen sahen und mit christlicher Praxis vertraut werden konnten. Es ist wahrscheinlich, dass diese Anschauung auch die Gestalt heidnischer Tempelbauten beeinflusst haben kann. Solche Wechselwirkungen sind für Tempel, die germanischen heidnischen Gottheiten gewidmet waren, aus den germanischen Provinzen des Römischen Reichs bezeugt. Die Tatsache, dass die Rascher Schäferkapelle Züge einer frühromanischen Kirche aufweist, muss nicht zwingend als Hinweis auf einen christlichen Ursprung dieser Kapelle gedeutet werden. Das Gewicht anderer Züge spricht dagegen.

Die germanischen heidnischen Symbole an der Südseite der Schäferkapelle und die Götter Gefjon, Ing und Wodan

Die Runen und das Raben-Symbol an der Schäferkapelle Überraschend ist, dass die Schäferkapelle auch in der Zeit ihrer Nutzung als christliche Kapelle die Bauform eines germanischen Tempels mit der Nord-Süd-Achse und der Schauseite nach Süden und der Ornamentik germanischer Religion mit ihren Runen und dem Wodanssymbol des Raben bewahrt hat. Womöglich wurden die heidnischen Symbole über den Fenstern auf der Südseite zunächst toleriert und später nicht mehr als solche erkannt, sondern für bloße Schmuckformen gehalten, so dass sie erhalten blieben. Diese Ornamente wurden im Hochrelief ausgeführt, in Verlängerung der jeweiligen Fensterrahmen. Gegenwärtig sind sie farbig, rot umrandet, wahrscheinlich erneuert bei der Restauration 1989, die im Zusammenhang mit einer fachkundigen Ausgrabung durch das Landesamt für Denkmalpflege im Inneren erfolgte, bei der auch Sondierungsgrabungen durchgeführt wurden. Dabei wurde das am Hang abrutschende Fundament mit Ankern befestigt und der im Spätmittelalter eingefügte Chorbogen untermauert, der Risse in den Außenmauern der Schäferkapelle verursacht hatte. Damals wurden auch unsachgemäße Reparaturen entfernt, die an der Außenseite in Zement ausgeführt waren. Es ist davon auszugehen, dass eine etwaige Restaurationen der Fensterrahmen und die farbliche Umrandung dieses Hochreliefs und der Runen bzw. des Adlers sachkundig ausgeführt wurden. Diese Ornamente an der Südseite geben in Verbindung mit den mittelalterlichen Votivgaben, die man im Bauschutt in der Schäferkapelle gefunden hat, deutliche Hinweise auf den Wodanskult. Sie bestätigen die aus der Namensgebung abgeleitete ursprüngliche Bestimmung der vormals als „Michaelskirche“ geweihten Schäferkapelle als Wodanstempel. Sie erhärten die Deutung, dass mit den Runen-Formen und dem Symbol des Raben über den Fenstern an der Südseite die Ornamentik eines heidnischen germanischen Tempels bewahrt wurde. Es ist vorgeschlagen worden, das Raben-Symbol lediglich als Kreuzblume anzusehen. Auch wenn es in der Gotik als solche missverstanden worden sein mag, spricht seine Positionierung jedoch für eine symbolische Deutung, insbesondere in Verbindung mit den anderen Runen-Ornamenten Die Reliefs über den Fensterbögen der drei Südfenster können im Hinblick auf die Symbolik der Himmelsrichtungen als programmatisch aufgefasst werden. Sie umfassen:

1. Die Rune „Ingwaz“ bzw. „Inguz“: im „älteren Futhark“, oder „Ing“: im angelsächsischen „Futhork“, zu erwägen ist auch eine Lesung als „Othalan“: 2. Die Rune „Gebo“ im älteren wie dem jüngeren Futhork. 3. Das Symbol des Raben als Symboltier Wodans. An der Südseite der Schäferkapelle ist wahrscheinlich eine gemeinsame Botschaft über die Bestimmung dieses Sakralbaus vermittelt worden. Von diesen drei Zeichen, den beiden Runen und dem Raben (womöglich auch ein Adler), ist der Rabe (oder Adler) unzweideutig Symbol des Wodan. Die beiden Runen sind jeweils mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso „theophor“, d.h. eine Gottheit enthaltend bzw. auf sie verweisend. Das legt die Annahme nahe, dass bei der ersten Rune der Lesung als „Ingwaz“ bzw. „Inguz“ als Zeichen für die Gottheit „Ing“ der Vorzug vor „Othalan“, also „Gehöft“, „Besitz“ zu geben ist. Die Zeichen der Runen und des Raben tragen nicht vorrangig die Beweislast, dass die Schäferkapelle ein in seiner Bausubstanz erhaltener heidnischer Tempel ist. Diese ruht auf dem Michaelspatronat, auf der erhaltenen Nord-Süd-Ausrichtung des Bauwerks, mit dem innen noch erkennbaren Südtor und der Schau-Front mit ihren geschmückten Fenstern nach Süden, auf der Lage und auf der Kultkontinuität. Die Frage, ob neben Wodan auch andere Gottheiten hier verehrt wurden (und welche), hängt jedoch an den Runen. Die Einbeziehung der Kultkontinuität der weiblichen Heiligen unterstützt diese Deutung. Auf diesem Hintergrund können diese Runen-Ornamente und das Raben-Symbol als ein womöglich einzigartiges Bildprogramm heidnischer Symbolik angesehen werden

Überlegungen zur Datierung und zu Motiven der Erhaltung dieser Symbole an der Außenwand der gotisch umgestalteten Kapelle

Die Spitzbogenform der Fenster an der Südfront, über denen diese Zeichen wie Ornamente stehen, verweist kunstgeschichtlich in die Zeit ab dem 12. Jahrhundert, als die ersten frühgotischen Bauformen entstanden - womöglich inspiriert durch Kulturkontakt mit dem Orient durch die Kreuzzüge. Das bedeutet zwar, dass die Gestalt der Fenster, wie sie heute besteht, in die Gotik verweist. Es besagt jedoch nicht, dass diese Ornamente erst in dieser Zeit entstanden wären. Zur Zeit der Merowinger sowie der Angelsachsen, im 7. und 8. Jahrhundert waren Rundformen oder Dreiecksgiebel üblich. So zu sehen an der Torhalle von Lorsch, erbaut vor 800 n.Chr., und an den vor-romanischen angelsächsischen Kirchen. Zur Bewertung sind folgende Elemente in Bezug zueinander zu setzen:

1. Unter der Voraussetzung von einer an diesem Ort sicher anzunehmenden Kultkontinuität, die durch die Lage der Schäferkapelle (der ursprünglichen „Michaelskirche“) auf einer Anhöhe und ihre Funktion als regionales Kultzentrum sowie durch die Votivgaben erhärtet wird, löste hier die Widmung des bestehenden Heiligtums an den Erzengel Michael die vorher bestehende an Wodan ab. Darauf verweist auch die bis ins 18. Jahrhundert fortbestehende Verehrung durch Schäfer als Kultverband hin.

2. Die Bauform der Kapelle mit ihrer deutlich erkennbaren Nord-Süd-Achsenausrichtung und der ausgeschmückten Schauseite sowie dem alten Hauptportal nach Süden verweist auf die heidnisch-germanische Tempel-Form. Ebenso verweist die ursprünglich sehr hohe [24] Bauform, wie sie in angelsächsischen Kirchen sowie in skandinavischen Stabkirchen erhalten ist, auf die Proportionen vorchristlicher germanischer Tempel.

3. Die Umbauten zur Zeit der Gotik mit der Erhöhung des Bodenniveaus, der Vermauerung des Südportals und der Einfügung eines Eingangs im Westen auf dem neuen Bodenniveau, wahrscheinlich dem Anbau einer eckigen Apsis und dem Einbau des Chorbogens, sowie gotisches Maßwerk in einem Süd-Fenster, legen es nahe, dass in dieser Zeit auch die Südfenster zu ausgeprägter Spitzbogen-Form erweitert wurden. Ihren heutigen Fensterrahmen in Hochrelief schließen die drei Zeichen oben ab. Diese Fenster selbst sind jedoch mit Sicherheit vor dem spätestens im 12. Jahrhundert erfolgten Bau der Michaelskirche entstanden, da sie heute funktionslos auf den schmalen Durchgang zwischen Kapelle und Kirche blicken.

4. Somit ist anzunehmen, dass diese drei Ornamente bereits vor der Zeit der Erbauung der Michaelskirche über den Fenstern waren und bei der Renovierung bzw. beim gotischen Umbau erhalten wurden, sei es als Ornamente, sei es aus Pietät, indem sie als heilige Zeichen betrachtet wurden. Diese Haltung gegenüber Runen ist auch aus dem Hochmittelalter literarisch bezeugt.

5. Die Anbringung von heidnischen Ornamenten an christlichen Kirchen ist nicht nur aus der späteren Übergangsperiode von Heidentum zum Christentum in norwegischen Stabkirchen bezeugt, deren Bildprogramm der Schnitzereien vielfach den heidnischen mythologischen Stoffen der Edda entspricht. Solche Anbringung heidnischer Ornamente an Kirchenfassaden dieser Zeit findet sich auch aus angelsächsischen Kirchen.

Ein markantes Beispiel für das Fortbestehen heidnisch-germanischer Ikonographie ist die Stephanuskirche in Schöppenstedt bei Wolfenbüttel. Erbaut auf einer 827 errichteten Taufkirche enthält sie eine „mit mythologischen Darstellungen versehene drei Meter hohe Turmsäule aus ottonischer Zeit, die ehemals das Gewölbe des Turmraumes - dort auch zu finden - getragen haben dürfte.“ Denkbar ist, dass diese Säule als „Spolium“ eingebaut wurde, doch legt die frühe Zeit des 10. Jahrhunderts. nahe, dass man diese Säule als symbolisch bedeutungsvoll erkannte. Dementsprechend zentral ist sie eingebaut. Einer anderen Deutung zufolge ist sie in der Christianisierungszeit bewusst als Sinnbild der Überwindung des Heidentums geschaffen worden. Dagegen spricht jedoch die Kohärenz ihrer Symbole. Denkbar ist, dass sie an diesem Ort bereits in vorchristlicher Zeit in einem Sakralbau, stand: „Die symbolischen Motive lassen darauf schließen, dass die Säule ursprünglich eine altheidnische Kultstätte war, die später genutzt wurde, um auf ihr eine neue Kirche zu weihen.“ Ihre Figuren und Ornamente sind heidnisch: „An der Ostseite der Turmsäule erkennen wir zwei reliefartig eingehauene Köpfe. Der linke Kopf könnte Donar darstellen, der rechte Wotan, vor dessen rechtem Ohr ein Vogel sitzt. Links auf der Nordseite der Säule ist wiederum Wotan dargestellt, während sich auf der rechten aufrechtstehende Eschenblätter befinden; darüber zweimal ein Dreispross, dessen symbolische Bedeutung noch nicht geklärt ist. An der westlichen Pfeilerecke sitzt ein Vogel, vermutlich ein Adler. Und dicht über dem Boden erkennen wir ein noch nicht definiertes Wesen, das zum Vogel hinaufklettert. Auf der Südseite des Kapitells lauert mit grimmiger Miene ein wolfsähnliches Tier, der Fenriswolf. Erkennbar an dem auf seinem Leib eingeritzten Sonnenwirbel.Bezüge zur Ornamentik der Schäferkapelle in Rasch sind mit dem symbolischen Vogel erkennbar, hier als Adler gedeutet, der offenkundig Bezug zu Wodan hat. Beiden gemeinsam ist, dass hier heidnische Ikonographie in der Zeit der Christianisierung, als man noch um die Bedeutung der heidnischen germanischen Symbole wusste, an den Kirchen bewahrt blieben. In der Zeit der Romanik, als das Bewusstsein der Auseinandersetzung mit dem Heidentum bestimmend war, ist der Sieg des Christentums über das Heidentum durch Umdeutung seiner Symbole und Gottheiten ausgedrückt worden. In diesem Sinne ist die Integration des Kreuzsteins von Schöppenstedt gedeutet worden: die überwundene Religion wurde „dämonisiert“ - und fand so ihren Platz im Kirchenraum, insbesondere an Kapitellsäulen. Häufig wurden ihre Gestalten, um allerlei Dämonen ergänzt, in apotropäischer Funktion, zur Abwehr, an die Außenwand der Kirchen verbannt. Als solches sind Dämonen an Friesen, Konsolen und Kapitellen fester Bestandteil mittelalterlicher Baukunst geworden. es ist gut möglich, dass die Symbole der Rascher Schäferkapelle im späteren Mittelalter in diesem Sinne gedeutet wurden. Zuweilen wird eingewandt, dass die Kenntnis der heidnischen Religion doch mit der Christianisierung ab dem 8. Jahrhundert untergegangen sein dürfte. Man sollte jedoch aus dem Untergang des Heidentums als organisierter selbständiger Religion nicht den Schluss ziehen, dass damit alle Glaubensvorstellungen sowie die Kenntnis von Gottheiten und Riten verschwunden sind. Diese haben sich offenkundig als zählebig erweisen und lange überdauert, wenn auch zunehmend in Bruchstücken. Neben den Zeugnissen der heidnischen Religion aus dem deutschen und angelsächsischen Raum sind auch die aus Skandinavien heranzuziehen, auf denen ein großer Teil unserer Kenntnisse über Mythen und Gestalten des germanischen Heidentums beruht. Gemeinsam ist ihnen, dass hier im Zeitraum zwischen dem 7. und 13. Jahrhundert lebendige heidnische Mythologie geschrieben wurde. In dieser Zeit entstanden das Beowulf-Epos, die Schriften der Edda und ihre literarischen und poetischen Quellen, sowie am Rand der skandinavischen Welt das altrussische Igorlied. Sie alle enthalten heidnische Theologie. Dass in ihnen mythologische Umdeutungen und „Literarisierung“ stattfanden, mittels derer ihre christlichen Verfasser die heidnischen Stoffe mit christlicher und antiker Weltsicht verbanden, tut der „Ursprünglichkeit“ dieser Zeugnisse keinen Abbruch. Vielmehr ist besonders bei Snorri Sturluson im 13. Jahrhundert zu erkennen, dass die heidnische Welt ein Raum der religiösen und wirklichkeitsdeutenden Imagination war. Neben den entfalteten literarischen Schöpfungen derer, die die mythischen Stoffe kannten und ihrer Leser oder Hörer, sind wohl jene zu bedenken, die abgestuft Anteil an dieser Überlieferung nahmen. In diesem Feld sind wohl jene angelsächsischen und skandinavischen Adelskreise in christlicher Zeit zu sehen, im 8. bis 11. Jahrhundert, Jahrhunderte nach der Konversion, die höchsten Wert darauf legten, ihre Abstammung von Wodan, Ing oder Freyr und Gefion oder Freya herleiten zu können. Indem die Schäferkapelle bzw. ihr Grundstock als „Michaelskirche“ zu Beginn dieser Zeit, im 8. Jahrhundert eingeweiht wurde, haben die Symbole über den Fenstern in der Südseite alle einen deutlichen Bezug zur angelsächsischen Mission der späteren Heiligen Willibald, Walburga und Wunibald. Die drei hier vergegenwärtigten Gottheiten gehören alle zu diesen mythischen Ahnen des angelsächsischen Adels, dem die drei Missionsgeschwister entstammten. Die drei Heiligen können sie als Zeichen und Hinweise auf ihre Herkunft erkannt haben. Eine heraldische Bedeutung ist dennoch kaum anzunehmen. Eine andere Ebene des Fortlebens ist jene mündliche der Volksüberlieferung, der Sagen und magischen Religiosität, die zählebig bis in die Neuzeit überdauerte. Dazu gibt der „Münchner Nachtsegen“ aus dem 13./14. Jahrhundert erhellenden Aufschluss. An ihm ist zu sehen, wie lebendig und vielgestaltig die heidnischen religiösen Vorstellungen im späten Mittelalter noch waren. Hier ist auch zu erkennen, wie die Götter der germanischen heidnischen Religion, zusammen mit den niederen „transzendenten Wesen“ zunehmend in den Bereich der Magie einbezogen werden und als magisch wirkende Wesen wahrgenommen werden: „...das heilige sancte spiritus / daz salus sanctus dominus / daz mize mich noch hint bewarn / vor den bosen nachvarn / un muze mich bicrizen / vor den zwarcen und wizen / dy di guten sin genant / unde zu dem brochelsberge sin gerant./.../ vor den zcun riten, / vor den klingenden ho golden, / vor allen uneholden,/ .../ Trutan unde wutan, / wutanes her und alle sinen man, / dy die reder unde wit tragen / geradebrech un irhangin, / ir sult won hinnen gangen/ ... Wodan wird hier zusammen mit den Hexen in einer förmlichen Litanei genannt, die das Gedächtnis an ihn bewahrt. Obwohl es möglich ist, dass die drei Symbole der Gefjon, des Ing und des Wodan als Zeichen der kultischen Bestimmung des Rascher Heiligtums an die ursprüngliche Schäferkapelle angebracht wurden, ist auch die Möglichkeit zu bedenken, dass sie nach der Christianisierung dort angebracht worden sein könnten. Letztere deckt sich auch mit der Frage, warum diese Zeichen, so lange sie als Göttersymbole erkannt wurden, an der damaligen „Michaelskirche“ erhalten geblieben sind. Peter Klein deutet die „dämonischen“ Gestalten und Symbole an den Außenwänden und Kapitellen mittelalterlicher Kirchen als Zeichen der Grenzüberschreitung. Er verweist auf ihre Randstellung und deutet sie als Symbole von Zuständen, Wesen und Kräften in „Übergangszonen“, also als „marginale Gestalten“ im Sinne van Genneps und V. Turners. In religionsgeschichtlicher Perspektive ergibt sich aus P. Kleins Ansatz, dass die vermeintlich apotropäischen Figuren nicht nur - psychologisch gedeutet - die Qualität des Regressiven hätten, die in religiöser Hinsicht einen bedrohlichen Rückfall ins Heidentum symbolisierten, sondern sie würden auch das „signifikant Andere“ darstellen, von dem der geordnete Kosmos der Person, der Gesellschaft und der Welt abgegrenzt ist, das aber in „initiatischen“ Reisen betreten wird, wie sie sich in Dämonen-Visionen in den Viten der Heiligen oder in der Fahrt der Ritter auf Aventiure in Wälder und „Anderswelten“ in der Artusepik manifestiert. In dieser Perspektive wäre das Heidentum als Raum der initiatischen Grenzüberschreitung im mittelalterlichen Bewusstsein erhalten geblieben und symbolisch repräsentiert worden.

Zur Echtheitsfrage der Runen und des Raben über den Fensterbögen

Was die als zwei Runen und ein Rabensymbol deutbaren Ornamente betrifft, so lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, dass die Baumeister, die sie in der Gotik erneuert oder erneut angebracht haben, um ihre „theophore“, auf Gottheiten verweisende Bedeutung, wussten oder sie kannten. Möglicherweise haben sie entsprechende Symbole des Vorgängerbaus der heutigen Schäferkapelle pietätvoll übernommen, als geheimnisvolle, mit magischer Kraft ausgestattete Zeichen, die auch andern Orten Verwendung fanden. Das Verfahren entspräche der grundsätzlichen ikonographischen Konservativität des Mittelalters. Indem diese Zeichen jedoch mit dem Kultprogramm, mit der Ersetzung Wodans durch den Erzengel Michael, und mit der hier praktizierten Verehrung der drei heiligen Nothelferinnen (Barbara, Katharina und Margarete), der Maria Magdalena und der „Muttergottes“ übereinstimmen, die den Kult entsprechender heidnischer Göttinnen abgelöst haben dürfte, ist diese Deutung in religionsgeschichtlicher Perspektive vertretbar. Das Fortbestehen eines besonderen Kults der Schäfer der Region an dieser Stätte, selbst nach der Reformation bis in die Aufklärungszeit, und die ihm entsprechenden Votivgaben, die in der Kapelle gefunden wurden, unterstützen diese Annahmen. So verdichtet sich gleichsam in diesen Ornamenten die Religionsgeschichte dieses Heiligtums.

Zum Verdacht einer neuzeitlichen Fälschung

Natürlich steht der Verdacht im Raum, diese Ornamente könnten zur Zeit des Nationalsozialismus sekundär angebracht worden sein. Zwar ist in dieser Zeit die Michaelskirche mit einer Darstellung des Erzengels Michael ausgemalt worden, und die Schäferkapelle mit Kreuzesmedaillons, doch bleibt dieser Verdacht abwegig. Die Auswahl der Runen ist ungewöhnlich und setzt so spezifische Kenntnisse angelsächsischer Überlieferungen voraus, sowohl der Runen wie der Gottheiten, insbesondere der Verbindung der Rune Gebo zu Gefjon, aber auch der Rune Ingwaz zur Rolle Ings, dass eine Fälschung mehr als unwahrscheinlich ist. Da zudem in der Kirchengemeinde Rasch zu dieser Zeit starke Kräfte des Pietismus und der Bekennenden Kirche bestanden, wäre eine Veränderung im Sinne nationalsozialistisch inspirierter Symbolik nicht unbemerkt geblieben.

Überlegungen zur kultischen, magischen und mantischen Bedeutung der Runen und theophoren Symbole

Unter der Annahme, dass diese drei Zeichen ein Programm auf derselben systematischen Ebene bekunden, ist die Deutung aller drei als theophor bündig. Andernfalls könnten die beiden Runen evtl. als Attribute zu Wodan gedeutet werden. Ihre Anordnung auf derselben Ebene in derselben Größe legt jedoch Gleichordnung nahe. Der Bezug zum „älteren Futhark“ ist dadurch begründet, dass dieses Runen-System in der Völkerwanderungszeit, bis ins frühe 8. Jahrhundert im kontinentalgermanischen Bereich verwendet wurde. Auch wenn diese Runen im westgermanischen (bzw. südgermanischen) Bereich im 7. Jahrhundert zunehmend außer Gebrauch kamen, so blieb doch ihre Kenntnis unter Gelehrten, Klerikern zumeist, bis ins 10. Jahrhundert erhalten, im angelsächsischen Bereich ebenso wie im Frankenreich. Das ist für die Runen an der Schäferkapelle von Belang, da wir damit in den Zeitraum ihrer mutmaßlichen Erbauung kommen. Indem deutlich ist, dass Runen in diesem Zeitraum bereits archaisierend wirkten und ihnen mantische, evokative Kräfte als Symbole zugeschrieben wurde, wie etwa das angelsächsische Runen-Gedicht belegt, ist ihre Anbringung an der Südfassade der Schäferkapelle hoch signifikant. Da die Schäferkapelle wahrscheinlich entweder kurz vor oder während der angelsächsischen Mission in Mittelfranken erbaut wurde, ist davon auszugehen, dass die Geistlichen, die dieses Heiligtum christlich weihten, um die Bedeutung dieser Runen und des Raben-Symbols wussten. Ob sie diese Runen und Symbole in bewusster Duldung, sei es aus Respekt vor den religiösen Überzeugungen der Bevölkerung oder aus Ehrfurcht vor dem Numinosen, das sie repräsentieren, oder aufgrund fortbestehender eigener heidnischer Glaubensüberzeugungen stehen ließen, als die Schäferkapelle endgültig zur Kirche wurde, kann wohl nicht mehr festgestellt werden. Sicher ist nur, dass sie von angelsächsischen Missionaren wie von fränkischen Klerikern als solche, als heidnische theophore Symbole, erkannt werden konnten und geduldet wurden. Die Fensterbögen, über denen sie angebracht sind, haben einheitliche Form. Das erste Fenster folgt dieser Form. In die beiden vorderen Bögen ist später gotisches Maßwerk-Ornament in den Fensterrahmen eingefügt worden. Runen waren in den weitgehend mündlichen Kulturen der germanischen Völker besonderen Zwecken vorbehalten, wie Widmungsinschriften, Medaillons (Brakteaten), Opfergaben und Weihegaben. Runentexte waren gewöhnlich knapp gehalten. Abkürzungen wurden verwendet. Einzelne Runen hatten symbolische und theophore Bedeutung. Dass Runen durch den ganzen germanischen Kulturraum hindurch verwendet wurden, von Südgermanien bis zu den Goten, den Skandinaviern und Angelsachsen, trotz Jahrhunderten intensiven Kulturkontakts und Handels mit dem Römischen Reich, kann auf den Wunsch nach bewusster Abgrenzung und kultureller Selbstvergewisserung zurück geführt werden. Diese Wertschätzung der Runen blieb noch lange nach der Christianisierung lebendig und führte zu einer kulturell motivierten Beschäftigung mit Runen, etwa im Kloster Fulda. Was die religiöse Bedeutung von Runen betrifft, so gibt es eine gewisse Bandbreite der Auffassungen. Diese konnten profan oder religiös, individuell oder öffentlich sein. Die nordgermanische Edda bekundet noch Jahrhunderte später, dass die ihnen zugeschriebene magische und mantische Wirkung mythologisch begründet ist. So in „Odins Runenlied“ (5 und 7):

„Runen wirst du finden und Ratstäbe / sehr starke Stäbe / sehr mächtige Stäbe / Erzredner ersann sie / Götter schufen sie / sie ritzte der hehrste der Herrscher. // Weißt du zu ritzen? Weißt du zu erraten? / Weißt du zu finden ? Weißt zu erforschen? / Weißt du zu bitten? Weißt Opfer zu bieten? / Weißt wie man senden, weißt wie man tilgen soll?“

Es ist deutlich, dass diesen Runen zugeschriebene göttliche Macht rechte Kenntnis und Handhabung der Runen erfordert: rechtes „Ritzen“, d.h. die ritualgemäße Herstellung, durch „Raten“, „Finden“ und „Forschen“, in der Anwendung als Orakelstäbe und im Deuten der Orakel. Durch ihnen je entsprechendes Gebet und Opfer soll diese herbeigerufen, und „geweckt“ werden. Erst dann waren sie dem anzuvertrauen, der wusste, „wie man senden und wie man tilgen soll“. Mit diesen Formulierungen ist deutlich, dass die Runen nicht Mittel bloßer „Magie“ zu Verfügung und zur willkürlichen Handhabung durch „Wissende“ als Mittel spiritueller Machtausübung verstanden wurden, sondern durch ihre Bindung an die kultisch rechte Handhabung und an das Erraten des Willens der Götter, an deren eigenes Wirken selbst. So erschloss sich offenbar erst das Wissen darum, wie zu senden und tilgen war. In der griechisch-heidnischen antiken Religionsphilosophie wurde dies unter dem Begriff der „Theurgie“ reflektiert. Dank des Interesses byzantinischer Theologen und Philosophen ist die maßgebliche Schrift von Jamblichus „De Mysteriis“ - eigentlich mit „Von den sakralen Riten“, nicht: „Von den Geheimlehren“ zu übersetzen - dazu erhalten geblieben. Diese Entsprechung kann als weitere Hinweis auf die wesentliche Übereinstimmung der im Neuplatonismus synthetisierten heidnischen antiken Religionsphilosophie, die bis in die Romantik hinein in Deutschland und Europa prägend wirksam geblieben ist und bis in die Gegenwart hinein wirkt, mit fundamentalen Überzeugungen des Heidentums der weitgehend schriftlosen germanischen Kultur verstanden werden - eine Affinität, die auch antiken Schriftstellern nicht entgangen ist. Diesem Ausgangspunkt gemäß, sind die Entsprechungen zwischen Jamblichos’ allgemeiner Theorie religiösen Rituals und den in Odins Runenlied enthaltenen Grundsätzen nicht zufällig, sondern Ausdruck gemeinsamer Grundlagen. Indem diese Symbole an der Südfront des Tempels angebracht wurden, sollten sie die jeweilige Gottheit sichtbar und wirksam vergegenwärtigen. Damit ist auch deutlich, dass die Runen nicht nur in mantischen, sondern auch in kultischen Zusammenhängen verwendet wurden und verweist auf beider Zusammenhang.

Zur Deutung der Zeichen - Die Rune „Ingwaz“ und die Gottheit Ing

Über dem westlichen Fenster der Südseite ist die Rune „Ingwaz“, Bedeutung: „Gott des fruchtbaren Jahres“ als Steinrelief angebracht und verweist auf „Ing“ („Ingvi“ oder „Ingwaz“). Dieser war ein Fruchtbarkeitsgott, der bei den Südgermanen seit alters verehrt wurde. Ing wird im Angelsächsischen Runengedicht in der Erklärung zur Rune „Ing“ genant: „Ing wæs ærest mid East-Denum / gesewen secgun, oþ he siððan est / ofer wæg gewat; wæn æfter ran; / ðus Heardingas ðone hæle nemdun.“ (Ing war der erste unter den Ostdänen, so gesehen, bis er ostwärts über das Meer davon ging, sein Wagen hinter ihm. So haben die Heardinger diesen Helden genannt.) Hier erscheint Ing als eine Art Geistwesen, das über das Meer entschwindet - wie es in der Überlieferung der germanischen Küstenvölker vorkommt. Es wird hinzugefügt, er sei ein „Held“ gewesen. Ing wurde bei den Südgermanen verehrt. Tacitus’ Erwähnung der Ingwäonen sowie viele Personennamen mit der Verbindung „Ing-“ weisen darauf hin. Er spielte in den Genealogien angelsächsischer Könige und im heidnischen angelsächsischen Königsritual, die Fruchtbarkeit des Landes zu erneuern, zentrale Rollen. Richard North folgt dazu Hinweisen von Jan de Vries, der Ing mit Njörd in Verbindung bringt und ihn dem Typus der „Vegetationsgötter“ zuordnet. De Vries er klärt: „Überdies ist Ing ein sterblicher Gott, was ... ausgezeichnet zum Wesen der Fruchtbarkeitsmächte passt.“ Richard North bringt Ing in Verbindung mit Nerthus und erklärt die Rolle dieser Gottheit mit Bezug auf den Kreis des landwirtschaftlichen Jahres und sein Auftreten in angelsächischen Königsgenalogien vor diesem Hintergrund.

Die Rune „Gebo“ und die Gottheit Gefjon

Über dem mittleren Fensterbogen steht die Rune „Gebo“, Bedeutung: „Gabe“. Die Rune „Gebo“ wird im angelsächsischen Runengedicht wie folgt gedeutet: „Gyfu gumena byþ gleng and herenys, / wraþu and wyrþscype and wræcna gehwam / ar and ætwist, ðe byþ oþra leas.“ (Gyfo sorgt für Ruhm und Ehre / Die das eigene Ansehen heben. / Es bringt Hilfe und Unterhalt für alle unglücklichen Menschen,/ die nichts anderes haben.) Diese Stelle im angelsächsischen Runen-Gedicht wird auf eine Gottheit bezogen, die auch als „Gefjon“ bezeugt ist. Zuweilen werden auch Wendungen im angelsächsischen Beowulf-Epos auf Gefjon bezogen: so „Geáfon auf den Wellen“: „géafon on gársecg“ (1.49), „über Geofons Bereich“: „ofer geofenes begang“, (1.362), und „auf Geofons Grund“ („on gyfenes grund“ 1.1394) und: „die wogende Gefjon“ („gifen géotende“, l.1690). Angesichts der Lautähnlichkeit ist hier Gefjon als Hypostase oder Herrscherin der Meereswogen gedeutet worden. Hierzu Prof. Alfred Bammesberger in einer Stellungnahme zur Deutung der „Giefu-Rune“ und der Verweise auf das Beowulf-Epos: „Nach meiner Meinung muss der Hinweis auf Beowulf, Z. 49 entfallen. Die Form geafon wird m. W.allgemein und richtig als Präteritum zu giefan „geben“ betrachtet, also etwa „sie gaben auf den Ozean hinaus“ - es handelt sich um eine Seebestattung. Auch wenn dieser Beleg fällt, bleibt das Problem des altenglischen Substantivs geofon, in der Bedeutung Ozean. Eine Vorform gefjon kommt meiner Meinung nach lautlich nicht in Frage. Die altsächsische Entsprechung lautet „geban“, man denkt dann unwillkürlich schon an die Wurzel geb- in „geben“. Altenglisch geofon erfordert aber eine Form mit einem velaren Vokal in der 2. Silbe, also wohl *geb-un-.“ Trotz dieser sprachgeschichtlichen Unterscheidung scheint früh eine sekundäre „etymologische“ Zuschreibung des Bereiches des Meeres (geofon) zu Gefjon, der „Gebenden“ stattgefunden zu haben. Diese hat etwa Jacob Grimm zur Annahme einer ursprünglichen etymologischen Verbindung der Wurzelverwandtschaft veranlasst. Als „gebende“, mit dem Stamm *gabi werden einige germanische „Matronen“-Göttinen auf Römischen Weihesteinen bezeichnet: als „Deae Garmangabi“ (als „sehr gebende“ (?) Göttin, als „matronae Alagabiae“ („alles gebende Mütter“) und als „Fria-gabi“ („Liebe gebende“) in eine Inschrift am Hadrianswall, die an Frija denken lässt. Vielfache Bezüge von Gefjon zu Gewässernamen, lassen Richard North annehmen, dass Grimms Ansicht von Gefjon als einer Meeresgöttin hierin eine Grundlage habe. So wird eine metaphorische Beziehung Gefjons zum Meer denkbar. In der skandinavischen Mythologie ist, nach Snorri Sturlusons Berichten über Gefjun, in „Gylfaginning“, Kap. 1. und in der Ynglinga Saga, Kap. 5, eine Doppelnatur Gefjons erhalten, sowohl das Meer wie das Land zu pflügen. In Dänemark erscheint als Gefjon als Erdgöttin. Damit wird die Verbindung zwischen ihren maritimen und terrestrischen Aspekten hergestellt. In der angelsächsischen Königsgenealogie des Hauses Wessex erscheint sie in Verbindung mit der Tätigkeit des Pflügens, das rituell ein Akt der Erneuerung der Fruchtbarkeit des Landes sein konnte, mit deutlich sexuellen Konnotationen. Religionsgeschichtlich wird sie damit als „Nachfolgerin“ der Erdgöttin „Nerthus“ angesehen, von der Tacitus berichtet dass sie bei den Germanen verehrt wurde. Nerthus wird etymologisch mit dem skandinavisch bezeugten Meeresgott Njörd in Verbindung gebracht, der ebenso zu dem älteren Göttergeschlecht der Wanen gehört, wie seine Tochter Freya, die in Skandinavien mit Gefjon identifiziert wird, und seinem Sohn Freyr. Freyr wird in der Ynglinga-Saga - die auf einen Text des 9./10. Jahrhunderts zurück geht, die Ynglingatal - im Kap. 10 mit der Gottheit Yngvi (Ing) identifiziert und als Nachfolger Njörds bezeichnet. Beide, Freyr-Ing und Freya erscheinen hier als Gottheiten und mythische Ahnen, deren Wirken Schweden Frieden, Wohlstand und Fruchtbarkeit bescherte. Gegenüber der Zuständigkeit für die Feldfrüchte, die Fruchtbarkeit, die Vegetation und die Liebe, die in der angelsächsischen Überlieferung deutlich hervortreten, scheinen die maritimen Assoziationen hier sekundär zu sein. In diese Verwandtschaft und das ihr zugeordnete Feld von Funktionen und Wirkung wird auch Ing eingeordnet. Zwar ist bekannt, dass Freya nur in der nordgermanischen Mythologie überliefert ist, und dort mit Gefjon in Verbindung gebracht, bzw. identifiziert wurde. Das ist für die Deutung und Zuschreibung der „Gefjon“, wie sie wohl durch die Gebo-Rune an der Schäferkapelle von Rasch repräsentiert ist, von nachrangiger Bedeutung. Es ist nicht nötig, Gefjon zu „reduzieren“, um ihr Feld und ihre Funktion zu erfassen. Diese gehen aus den angelsächsischen Zeugnissen deutlich genug hervor. Der Bezug zur angelsächsischen Überlieferung ist für die Deutung der Runen an der Schäferkapelle von Rasch insofern von Bedeutung, als die Entsendung angelsächsischer Missionare, des Hl. Willibald, des Hl. Wunibald und ihrer Schwester, der Hl. Walpurga, die aus dem angelsächsischen Königshaus von Wessex stammen, auf lebendige Verbindungen zwischen ihrem Heimatgebiet und Franken im 8. Jahrhundert verweisen. Solche Verbindungen spiegeln sich auch in sprachlichen Ausgleichserscheinungen zwischen verschiedenen süd- bzw. westgermanischen Sprachen in der althochdeutschen Literatur wider. Wir können das religionsgeschichtliche Zeugnis der angelsächsischen literarischen Quellen damit sicher zur Deutung der Runen hier heranziehen. Der Bericht des Tacitus über die Verehrung der Nerthus, die in der Mythologie genealogisch mit Gefjon verbunden wurde, beschreibt Verhältnisse im Siedlungsgebiet der Angeln, der Nachbarn der Sachsen, der Dänen und der Langobarden. Daher kann angenommen werden, dass dieser Kult sich sowohl mit den Angelsachsen ausbrei-[32]tete, als auch nach Süden und ebenso nach Skandinavien. Daher kann die entsprechende Passage bei Tacitus zur Veranschaulichung des Kultes herangezogen werden, wie er auch der Gefjon gewidmet gewesen sein konnte. Über Nerthus schreibt Tacitus: „Nichts ist bemerkenswerth an all den Einzelnen, als daß sie vereint die Nerthus verehren, d. i. die Mutter Erde, des Glaubens, daß diese eingreife in der Menschen Leben und in der Völker Mitte fahre. Es ist auf einer Insel im Ozean ein heilig-reiner Hain und in demselben ein geweihter, mit einem Gewand bedeckter Wagen, zu berühren nur dem Priester gestattet. Dieser weiß genau, wenn die Göttin im Heiligthum gegenwärtig ist, und begleitet sie, von weiblichen Rindern gezogen, mit tiefer Verehrung. Freudenvoll sind dann die Tage, festlich all die Orte, welche die Göttin ihres Besuches und Eintretens würdigt; keine Kriege beginnen sie, keine Waffen ergreifen sie; verschlossen ist jedes Eisen; Friede und Ruhe sind dann allein bekannt, sind dann allein geliebt, bis die des Umgangs mit den Sterblichen satte Göttin der nämliche Priester dem Heiligthume zurückgibt.“

Das Symbol des Raben und die Gottheit Wodan

Über dem dritten Fensterbogen an der Südseite steht das Symbol des Raben, als Symboltier Wodans. Dass Wodan nicht ebenfalls durch eine Rune repräsentiert ist, liegt vermutlich dran, dass ihm in der Runenreihe kein eigenes Zeichen zugeordnet ist. Das erklärt die Asymmetrie der symbolischen Reliefs. Die beiden Runen haben offenkundig symbolische Bedeutung, insbesondere in Verbindung mit dem Symbol des Raben, und vermitteln wohl eine gemeinsame Botschaft. Sie verweisen auf Bereiche, die zusammengehören: auf die Fruchtbarkeit, die man sich erbittet, für Vieh, Menschen und Felder, und auf die Heilung von Vieh, besonders von Pferden, und wohl auch von Menschen. Zusammen bilden sie wohl eine Göttertriade, wie sie als Figur etwa in Tacitus Beschreibung germanischer Götter vorkommt. Hier ist ein Heiligtum ausgewiesen, in dem Wodan zusammen mit anderen Gottheiten der Südgermanen, der Gefjon und dem Ing, verehrt wurde. Die ikonographische Verbindung Wodans mit den Raben ist seit der Völkerwanderungszeit nachgewiesen. Die Raben können als „Seelenvögel“ Wodans gedeutet werden und stehen dann in motivischer Verbindung zu seinem Aspekt der Divination. Seltener wird Wodan auch mit dem Symboltier des Adlers verbunden.

Wodan, Singthgunt und Frija als Heiler und der Zweite Merseburger Zauberspruch

Im „Zweiten Merseburger Zauberspruch“ wird Wodan als Reiter und als Heiler eines verletzten Pferdes dargestellt. Dieser Spruch bietet wohl einen Schlüssel zu den einigen Votivgaben der Schäferkapelle. Der Spruch findet sich in einer ostfränkischen Handschrift, wohl in Fulda im 10. Jahrhundert niedergeschrieben, in einem christlichen Kontext. Er lautet: „Phol ende Uuodan uuoran zi holza. / du uuart demo Balderes uoloh sin uuoz birenkit. / thu biguol en Sinthgunt, Sunna era suister, / thu biguol en Friia, / Uolla era suister, / thu biguol en Uuodan, so he uuola cinda: sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki / ben zi bena, bluot zi bluoda, / lid zi geliden, sose gelimida sin.“

Übersetzung: Phol und Wodan fuhren ins Gehölz. Da ward dem Fohlen Baldurs der Fuß verrenkt. Da besprach ihn Sinthgunt, Sunna ihre Schwester, da besprach ihn Frija, Folla ihre Schwester, da besprach ihn Wodan, wie er wohl konnte: Sei es Beinverrenkung, sei es Blutverrenkung, sei es Gliedverrenkung: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als ob sie geleimt wären!

Wodan erscheint hier als Reiter, der mit „Phol“, der möglicherweise mit Freyr zu identifizieren ist, in den Wald ausreitet, und als der heilungsmächtigste der Götter, die zur Heilung durch „Besprechung“ erscheinen; Sinthgund und Frija kommen hinzu. Die Göttinnen wirken mit dem südgermanischen „Hauptgott“ Wodan zusammen. Wodans Rolle als Heiler ist durch Motive auf Goldbrakteaten, goldbezogenen Münzen aus der Völkerwanderungszeit, die als Amulette dienten, gut bezeugt. Auf einem bestimmten Typ dieser Goldbrakteaten werden Wodanssymbole ferner mit Runenzeichen verbunden, die der Schutzmagie oder Schadensabwehr dienten. Zu den Motiven, mit denen Wodan dargestellt wird, gehören besonders Pferde und Vögel. Wodan wird typisch als göttlicher Heiler dargestellt. Neben Wodan werden auch andere germanische Götter auf den Goldbrakteaten dargestellt. Damit ergibt sich ein Bild, wie es aus dem Zweiten Merseburger Zauberspruch hervorgeht: Wodan erscheint als der machtvollste, aber nicht als der einzige göttliche Heiler. Dieser Befund entspricht den Runensymbole und dem Raben (oder Adler) über den Fenstern der Schäferkapelle. Der Spruch vermittelt den Eindruck, als werde die Heilung im Zusammenwirken all der Götter bewirkt, die mit diesem Spruch evoziert werden. R. Simek betont mit Bezug auf Tacitus Identifizierung des Wodan mit Mercurius, dass er in vorwikingerzeitlichen Zeiten in Germanien weniger als Kriegsgott, denn als Gott der magischen Heilkunst und der wirksamen Zaubersprüche auftritt. Der Spruch selbst hat eine Struktur, die ihn in religionswissenschaftlicher Perspektive als eine Form ausweist, wie sie für ältere indoeuropäische Zaubersprüche kennzeichnend ist. So ergibt ein Vergleich mit Zaubersprüchen des Atharva-Veda, dass für den Vollzug eines Heilungssegens oder sonstigen Zauberspruchs als erstes die mythische Ur-Situation rezitiert wird, die in die Heilungsformel mündet. Indem der Heiler beide rezitiert, invoziert er sowohl das „Urgeschehen“, das so mit der aktuellen Notlage verbunden wird, und die durch den göttlichen Heilungsspruch erwirkte Heilung, die durch die Rezitation des Heilers ebenso herbeigerufen wird. Diese Struktur des Vollzugs eines Heilungssegens erschließt, warum zu den Votivgaben so viele Menschengestalten gehören, die ihre Hände zur Anrufung und zum Gebet erhoben haben. Anders als sonst in Sammlungen von Votivgaben, gehören zu den [34] Funden in der Schäferkapelle keine (oder nur sehr wenige) kranke Körperteile von Menschen, wie sonst, wenn mit diesen Bitte um Heilung oder Dank für erfolgte Heilung von jeweils erkrankten Körperteilen dargestellt werden. Die stehenden und betenden Gestalten der Rascher Schäferkapelle könnten die Heiler selbst darstellen, die an diesem Ort um Heilkräfte baten oder die sich sonst symbolisch mit den hier gegenwärtigen Heilkräften der Gottheiten verbanden. Hier sind alle Motive vereint, die aus den Votivgaben der Schäferkapelle im Licht ihrer Symbolik und Baumerkmale hervorgehen: 1. eine Verbindung dieses Kultorts mit der Bitte um Heilung für Pferde - und anderes Vieh, 2. der Aspekt des Heilens durch „Besprechung“, wie ihn die segnenden und zum Gebet erhobenen Hände anzudeuten scheinen, 3. der Schwerpunkt des Kultes bei der Bitte für die Tiere von Schäfern und Bauern um Heilung und wohl auch Fruchtbarkeit.

Die Votivgaben im Boden der Schäferkapelle

Die Votivgaben im Boden der Schäferkapelle und ihre Bezüge zum Wodanskult - Bei der Grabung 1988 wurden im Boden der Schäferkapelle eiserne Votivgaben, v.a. von Tieren, von Pferden, von Eseln oder Rindern, von Hufeisen, sowie von Hunden und Schafen, aber auch Figuren von Menschen in Gebetshaltungen gefunden - siehe Skizze. Sie sind heute im Germanischen National-Museum in Nürnberg aufbewahrt. Diese Votivgaben der Schäferkapelle umfassen: „ein halbes Dutzend stehender menschlicher Figuren..., die meist die Hände zum Gebet erhoben, ... ein einzelner massiv geschmiedeter Kopf, ... zwei Beinvotive, sowie eine Hand mit gespreizten Fingern ..., offenbar eine rechte Hand, also eine Schwurhand darstellend. Erheblich zahlreicher treten Votive von ... Tieren auf, ... teilweise Pferd, Esel oder Rind... einmal ein Schwein ... Hunde, ... wohl auch Schafe.“ Anstatt von „Schwurhand“ könnte man auch von Orantenhaltung sprechen. Einige der Rascher Votivgaben weisen als Ganzkörperfiguren deutliche Ähnlichkeit zu heidnischen germanischen Kultpfählen und Holzidolen auf, wie sie in Opfermooren gefunden wurden. Sie könnten damit eine Reihe verschiedener Darstellungsfunktionen haben, sei es als Gestalten von Betenden oder von höheren Wesen. Die Tiere könnten Opfer repräsentieren oder Tiere, für die gebetet wurde. Die Votivgaben können allgemein auch als symbolische Dankesgaben oder Opfergaben verstanden werden. Sie sind in germanischen Tempeln nachgewiesen. Die Rascher Votivfiguren entsprechen denen eines mittelalterlichen Fundes in Feuchtwangen, die mit einer ehemaligen Leonhardskapelle verbunden sind. Der Leonhardskult ist eng mit dem Wohlergehen der Tiere verbunden. Votivgaben in Form von eisernen Tierfiguren waren im Mittelalter besonders mit dem Kult des Hl. Leonhard verbunden. Die Votivgaben in der Schäferkapelle lagen regellos im Boden des Kirchenschiffs verstreut. Vermutlich wurden sie bei der Aufschüttung des Bodens in Unordnung gebracht. Diese Votivgaben entsprechen der mündlichen Überlieferung im Ort, dass diese Kapelle Jahrhunderte lang von den Schäfern als Andachtsraum verwendet wurde. Die zeitliche Zuordnung dieser aus Eisen geschmiedeten Votivgaben ist nicht abschließend geklärt. Die Vermutung des Grabungsleiters, R. Koch, diese Votivgaben könnten dem 17. Jh. zugeordnet werden, ist schon deshalb abzuweisen, da die Reformation den Brauch der Votivgaben abgeschafft hat. Indem diese Votivgaben verstreut in der Bodenschicht der Schäferkapelle gefunden wurden, sind sie wohl mit der Aufschüttung des Bodens in der Schäferkapelle verstreut worden. Sie sind somit mittelalterlich und vor ca. 1450, als die Kapelle umgebaut wurde, entstanden. Die Eisenvotivgaben aus Rasch, die im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg aufbewahrt werden, gleichen jenen, die in der Kirche von Penk (Oberpfalz), die eine der ältesten Kirchenräume nördlich der Alpen ist, gefunden wurden. Ursprünglich auf einem Thingplatz erbaut, ist sie ebenfalls dem Hl. Leonhard geweiht. Der Schwerpunkt der Rascher Votivgaben bei den Tieren verweist auf die Schäfer als bezeugte Kultgemeinschaft dieser Kapelle - aber er begrenzt sie nicht auf die Schäfer. Das Großvieh verweist auf bäuerliche Geber. Die Schäferkapelle scheint mit Bitten um Schutz und Heilung für die Tiere von Schäfern und Bauern verbunden gewesen zu sein. Die Votivgaben, die Pferde darstellen (Figuren und Hufeisen), verweisen unter der Annahme von Kultkontinuität“ auf den Wodanskult.

Bezüge der Rascher Votivgaben zum Leonhardskult und sein Brauchtum

Aus den eisernen Votivgaben mit Figuren von Pferden und anderen Tieren sowie auch der Namenstradition der Schäferkapelle ergibt sich ein enger Bezug zum Leonhardskult im bayrisch-österreichischen Raum. Dieser ist motivisch und archäologisch gegeben: „Votivgaben aus Eisen waren vor allem in Leonhards-Kirchen gebräuchlich. Leonhard stammt aus einem fränkischen Geschlecht und soll nach einer im 11. Jahrhundert geschriebenen Biografie seine Jugend am Hofe Chlodwig I. (466-511) verbracht haben. Er widmete sich später dem Mönchsleben und wirkte als Prediger in Aquitanien. Er starb um 559. Besondere Verehrung wurde ihm seit dem 11. Jahrhundert in Bayern zuteil. Seit dem ausgehenden Mittelalter war der sehr volkstümliche Heilige vorwiegend als Patron und Fürsprecher für das Vieh zuständig. Insbesondere von Bauern und Stallknechten wurde er angerufen und ihm wurden tiergestaltige eiserne Opfergaben dargebracht.“ Hier ist eine genaue Entsprechung anzunehmen, die Rückschlüsse über den Kult, der in diesem Heiligtum und an dem Berg, auf dem die Schäferkapelle steht, praktiziert wurde. In einem neueren Text, der im katholischen Kontext verankert ist, wird zu einer zeitgenössischen Leonhardi-Wallfahrt in Grafing bei München auf den vorchristlichen Ursprung im Wodanskult Bezug genommen und ausschmückend erzählt: „Die Tradition der Leonhardifahrten haben ihren Ursprung vermutlich in der altgermanischen Weihefahrt zu Ehren Wotans, dem Vater aller germanischen Götter. ... Dieser ursprünglich heidnische Brauch wurde vom Christentum übernommen. Die Truhenwagen erinnern an den heiligen Wagen, der von Weiheschimmeln in den heiligen Hain gezogen wurde. Auch heute noch werden die Rösser und Truhenwagen nach alter Tradition festlich geschmückt.... Als Patron erwählte sich das Volk den Benediktinerabt St. Leonhard .... Ab dem Mittelalter fanden ihm zu Ehren zahlreiche Wallfahrten statt, um Schaden wie Viehseuchen von den Tieren abzuhalten.“ Die Herleitung dieses Leonhardsbrauchtums dürfte zutreffend sein, auch wenn die Details der heidnischen Festbräuche nicht mit Sicherheit feststellbar sind. Dass heidnische Kulttraditionen synkretistisch ins Christentum übernommen wurden und - mit einem Heiligen verbunden - im Kontext des katholischen Christentums fortgeführt werden, ist jedoch unstrittig. Die „Leonhardi-Ritte“ aus dem bayrisch-österreichischen katholischen Brauchtum können daher hier angeführt werden. Bedenkt man zudem, dass die Riten zuweilen konservativer zu sein pflegen, als die religiösen Kontexte, in denen sie überliefert werden, wie es das Phänomen der „Kulttradition“ voraussetzt, ist ein Rückschluss von heutigen Leonhardi-Ritten auf ursprünglich hier geübte Praxis nicht unzulässig. Das gegenwärtig noch erhaltene Brauchtum des Leonhardskults mit den Leonhardsritten und der Wallfahrt geben Aufschluss über die Organisationsform und Träger eines solchen Feste und seines Verlaufs. Zu den Votivgaben der Leonhardskirchen wie Schäferkapelle passt der Brauch der „Leonhardigaben“ zum Leonhardsfest am 6. November. Sybil Gräfin Schönfeldt führt dazu aus: „Hufeisen und eiserne Tierbilder, die früher die Dorfschmiede hergestellt haben sollen, werden dem Heiligen geweiht und sollen Glück bringen.“ Damit wird ein religiöser Ursprung für die heute noch verbreitete Verwendung von Hufeisen als Schutzzeichen und Glücksbringer erkennbar. Die Rascher Votivgaben, unter denen sich Reste eines Hufeisens finden, sind offenbar zu entsprechendem Zweck hergestellt worden.

Die Schäfer als namensgebender Kultverband und ihr heidnischer Hintergrund

Es ist anzunehmen, dass es Schäfer der Gegend - als ein Kultverband - sich zu besonderen, berufsständisch orientierten Andachten in dieser Kapelle zusammengefunden haben, mit synkretistischen Praktiken, die mit dem Fortleben von Elementen des Wodanskultes in Verbindung gebracht werden können. Solche Kultverbände als eine wesentliche Organisationsform germanischer Religion waren mit gemeinschaftlichen Riten und Festen an der Kultstätte verbunden. Dass diese Kapelle als ein überregionales Heiligtum für Schäfer dieser Gegend diente, passt dazu. Die Überlieferung zur Entstehung des Namens Schäferkapelle ist im Zusammenhang mit den Votivgaben aussagekräftig. Indes ist keine ausschließliche Zuweisung dieser Votivgaben zu den Geistheilern anzunehmen. Die Votivgaben können auch als symbolische Dankesgaben oder Opfergaben verstanden werden. Entsprechendes ist bereits aus heidnischer Zeit in germanischen Tempeln nachgewiesen. Schäfer bildeten in der ländlichen Gesellschaft eine besondere Subkultur. Bedingt durch ihre abgesonderte und nomadische Lebensweise waren unter ihnen auch Heiler tätig, als Kräuterheiler ebenso wie als „Besprecher“, als Geistheiler, auch wenn diese Tätigkeit ebenfalls von wohlhabenden Bauern ausgeübt wurde. Die Geistheiler und „Besprecher“ - auch die Kräuterkundigen unter ihnen - haben selbst Traditionslinien des Erwerbs und der Weitergabe ihrer Praxis und bilden so soziologisch identifizierbare Netzwerke innerhalb der bäuerlichen Gesellschaft. Die Tätigkeit des Heilens durch Gebet und Handauflegung sowie durch Spruch und Kraftübertragung legt nahe, dass diese einen besonderen Bezug zu diesem Kultort hatten, der durch viele Votivgaben ausgewiesen ist, die von Heilungen und Bitte um Heilung von Vieh und Mensch zeugen. Dass die Berufsgruppen der Hirten und Jäger besonders mit Riten der Heilung an Naturorten und mit Heilung insbesondere von Vieh durch „Besprechung“ befasst waren, geht aus einem mittelalterlichen Zeugnis hervor: „Machtest du Zaubereien oder Zaubersprüche, wie jene Verzauberungen, die gottlose Menschen, die Schweinehirten oder Ochsentreiber, bisweilen auch die Jäger ausführen, indem sie Teufelssprüche über Brod, Kräuter oder verschiedenen Bäuschen sprechen und sie entweder in einem Baum verstecken oder auf einen Kreuzweg hinlegen, damit ihre Tiere ... von der Pest und der Seuche verschont bleiben...?“ Beide Gruppen leben und arbeiten jenseits des Kulturlandes, in der „wilden“ Natur. Im Milieu der Schäfer als einer Randgruppe, die in besonderer Weise in diesen Naturräumen lebten, oft nomadisch, haben sich alte religiöse und spirituelle Überlieferungen vielfach zählebiger und ungebrochener erhalten, als in der selbst durchaus konservativen bäuerlichen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist durchaus an H. P. Duerrs Ausführungen zum Zusammenhang zwischen der „Marginalität“ der Grenz- und Übergangsbereiche von „Wildnis“ und „Zivilisation“ und jener der besonderen spirituellen Erfahrungen und Praktiken zu denken, wie sie zu einen in den Traditionen der „Besprechungen“ und zum anderen in den durch die Christianisierung „marginal“ gewordenen vorchristlichen religiösen Praktiken besteht. Die Rascher mündliche Tradition bezeugt die Existenz einer religiösen Subkultur der Schäfer, die mit der Schäferkapelle verbunden ist. Offenkundig sind hier genügend Schäfer aus einem weiten Umkreis zusammengekommen, um eine gewissen Kontinuität des Kultus - in welchen Formen auch immer - aufrecht zu erhalten und so die Schäferkapelle als eigenen Kult-Ort im Besitz halten zu können. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Schäfer als Männerbund organisiert waren. Die Überlieferungen zu Wodan beschreiben ihn als Anführer einer männerbündischen Schar, die mit den Bereichen der Hirten und der „Wildnis“ verbunden ist und mit „ekstatischen“ Zuständen, die mit „andersweltlichen“ spirituelle Erfahrungen sind. Die Schäfer, die sich der mündlichen Überlieferung von Rasch zufolge als eigener Kultverband in der Schäferkapelle einfanden, dürften hier Träger einer Kulttradition gewesen, die auf die vorchristliche Bestimmung dieses Ortes als Heiligtum dieses Gottes zurückgeht.

Wodan als Totengott und germanische Seelen-Vorstellungen

Die Ersetzung Wodans durch Michael und die Bedeutung der germanischen heidnischen Vorstellungen zur Seele und zur nachtodlichen Existenz In diesem Zusammenhang ist auf Jan de Vries' Überblick zu den Seelen- und Nachtod-Vorstellungen der alten Germanen zu verweisen. Als eine der ältesten Überlieferungen über den Glauben der Germanen führt de Vries das Zeugnis des griechischen Historikers Appian (2. Jh. n.Chr.) an, dass die Germanen „den Tod verachteten, weil sie auf eine Auferstehung hofften (... dì elpída anabiôseôs)“ „Anabióô“ kann „wieder leben“ oder „wieder beleben“ oder „erneut aufleben“ bedeuten. Der Begriff ist heidnisch, während der übliche christliche Begriff in dieser Zeit „anástasis“ (Auferstehung) war. Sehr wahrscheinlich war Appian, der aus Alexandrien stammte und Heide war, von der Metaphysik des dortigen Mittelplatonismus geprägt, der Platonismus, Aristotelismus und Elemente des Stoizismus in einer religionsphilosophischen Synthese verband. In ihr hatten die Vorstellungen von Aristoteles und Platon über die Seele und ihr Nachleben nach dem Verlassen des Körpers eine wesentliche Bedeutung, sowohl hinsichtlich der „Inkorporation“, also der Leib-Seele-Einheit, als auch hinsichtlich der Annahme eines Primats der als geistig und als „feinstofflich“ verstandenen Seele über den Leib, und bezüglich der selbstverständlichen Annahme, dass die als „feinstofflich“ „pneumatisch“ vorgestellte Seele den Tod des materiellen Leibes überdauert und eine aktive nachtodliche Existenz hat, zu der die Möglichkeit einer Reinkarnation ebenso gehörte, wie die des dauerhaften Verweilens in einer göttlichen Anderswelt oder Jenseitswelt. Hieraus entwickelte sich später im Neuplatonismus die Vorstellung des Aufstiegs der Seele in das göttliche Licht. Es ist deutlich, dass Appian diese Vorstellungen teilte, so dass er für diesen Aspekt des germanischen heidnischen Glaubens sensibilisiert war und die systematische Bedeutung der Erwartung einer nachtodlichen Existenz der Seele für die Wertehaltung und Lebenseinstellung der alten Germanen gegenüber dem Tod erfassen konnte. Diese Vorstellungen sind keineswegs als „esoterisch“ abzuqualifizieren, indem die abendländische Esoterik eben dieser in Alexandrien beheimateten Religionsphilosophie entstammt, welche die bedeutendste der heidnischen Antike war. Wenn also Entsprechungen zwischen griechischen oder germanischen heidnischen religiösen Vorstellungen und denen der Esoterik beobachtbar sind, so beruht das auf gemeinsamen Wurzeln. Ebenso wenig sind Appians Beobachtung über den Glauben der heidnischen Germanen an eine nachtodliche Existenz christlich beeinflusst, sondern genuin heidnisch. Die alexandrinische Religionsphilosophie hat vielmehr selbst das Christentum - insbesondere in seiner orthodoxen Ausprägung - stark beeinflusst, so dass Affinitäten zum „Seelen“-Glauben des Heidentums keineswegs zufällig sind. In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass das Wort „Seele“ selbst ein germanisches Wort ist. Erstmals wurde im 3. Jahrhundert das entsprechende gotische Wort „saiwala“ mit griechisch: „psyche“ übersetzt, und von dort aus auf Althochdeutsch „seula“ übertragen. Diese Übersetzung durch Wulfila beruht auf wesentlichen Entsprechungen zwischen den germanischen und griechischen Vorstellungen, wie sie im griechischen Kulturraum wahrgenommen wurden, und ist ohne Vermittlung der mittelalterlichen lateinischen Kirche und ihrer spezifischen Seelen- und Erlösungslehre erfolgt. Sie dürfte daher sachgemäß sein und den gotischen, germanisch-heidnisch geprägten Seelenvorstellungen entsprechen. Appians Feststellung über den Glauben der heidnischen Germanen an ein nachtodliches Weiterleben ist somit durchaus im Bezug zum Begriff der „Seele“ zu sehen, d.h. im prägnanten und individuellen Sinn, und nicht etwa im Sinne der alten Stoa als Eingehen in die Stofflichkeit der Welt zu interpretieren. Der Kern von Appians Aussage ist, dass die alten Germanen so sehr mit einem nachtodlichen Leben ihrer „Seelen“ rechneten - wie immer die Bandbreite ihrer Vorstellungen zu diesem Bereich bestimmt war - dass sie eine bemerkenswerte Gelassenheit im Hinblick auf ihren physischen Tod an den Tag legten. Damit hat er wohl einen wesentlichen Aspekt ihrer Wirklichkeitssicht und der darauf beruhenden Praxis erfasst. Dass die so verstandenen Seelen in der alten germanischen Wirklichkeitserfahrung eine erhebliche Rolle spielten, bezeugen etwa Berichte, dass diese zuweilen Schiffe an ihre Bestimmung führten. Eine Reihe von Tabu-Vorschriften war mit dem Seelenglauben verbunden. So sollte eine im Schlaf aus dem Leib getretene Seele nicht am Wiedereintritt [40] in den Körper gehindert werden. Bei einem im Schlaf Erschlagenen fürchtete man die „heimatlose“ Seele, von der man wohl annahm, dass sie über den neuen Zustand des ihr zugehörigen Leibes nicht orientiert war. Die Begräbnisbräuche waren ebenfalls darauf ausgerichtet, dass die Toten keine unheilvolle Wirkung auf die Lebenden ausübten. Mit den Seelenvorstellungen war auch die germanische Divination und Mantik verbunden, die man etwas ungenau als „schamanisch“ bezeichnen könnte. Zu ihr gehörte die Vorstellung der „Beseelung“ auch anderer Wesen, wie Tiere und Pflanzen. Ebenso war die Vorstellung eines „Geisterheeres“ lebendig. Ein knapper Blick auf diese Zeugnisse genügt, um zu ermessen, wie wichtig die Eigenschaft Wodans als Führer der Toten-Seelen für seine Wahrnehmung in der heidnischen Religiösität war. Seine Ersetzung durch den Erzengel Michael bestätigt diese Einschätzung. Daraus ergibt sich für die Schäferkapelle als Kultheiligtum des Wodans, dass hier wahrscheinlich Feste und Riten begangen wurden, die mit dem Tod und dem Übergang in eine nachtodliche Existenz, mit der Befriedung der nachtodlichen Seelen und mit der Pflege der weiter bestehenden Verbindungen zu ihnen verbunden waren. Sie dürften eine erhebliche Bedeutung für die religiöse Praxis gehabt haben. Die Toten-Feste des Christentums, die heidnischem Kalender folgend in den späten Herbst gelegt wurden, dürften ein Echo dieses Kalenders und seiner Riten sein. Die „Rauhnächte“ haben wohl den Abschluss dieses Zyklus gebildet. Diese Feste und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen dürften Aufschluss über die an dieser Stätte praktizierten Kulte geben.

Bräuche zu Michaelis und verwandten Festen

Eine Reihe von Bräuchen hat sich in Verbindung mit dem Michaelsfest (Michaelis, am 29. September) erhalten. So führt S. Gräfin Schönfeldt aus: „Bei den Germanen war sein Tag der Herbstthing, der Herbstgerichtstag und leitete die sogenannte Gemeinwoche ein, in der die Sachsen ihr großes Herbstopferfest begingen. Viele Feiertagsgerichte und Festlichkeiten weisen heute noch auf ein ehemaliges Opferfest hin, das am Ende der Ernte und des Sommers dem Wotan als Spender des Erntesegens gewidmet wurde. In Erinnerung an diese großen vorchristlichen Zusammenkünfte im Freien wurden in Schweden ebenso große Märkte gehalten und in England der Bürgermeister gewählt. Das Michaeli-Fest ist bis heute mit dem Essen einer „Michelsgans“ verbunden. Dabei verbindet sich dieses Brauchtum mit dem des Hl. Martin (am 11. November), dessen Fest ebenfalls in die Zeit eines dem Wodan gewidmeten „Herbstdankfestes“ gelegt wurde. Auch andere herbstliche Heiligenfeste werden mit den Wodanstraditionen in Verbindung gebracht. Kern sind jeweils Motive, die Entsprechungen in der Mythologie Wodans haben. Die Opfer, etwa einer „Martinsgans“, der Heilige als Reiter, das Anführen einer „Wilden Jagd“, wie im „Knecht Rupprecht“ symbolisiert, können hier angeführt werden. Alle diese Traditionen verweisen darauf, dass reichhaltiges Brauchtum in vorchristlicher Zeit mit dieser Gottheit und ihren Festen im Kreis des bäuerlichen Jahres verbunden gewesen sein dürften.

Sagenüberlieferungen von Wodan als Anführer der „Wilden Jagd“ und der Aspekt des „Totengottes“

In süddeutschen Überlieferungen ist Wodan mit dem „Schimmelreiter“-Motiv verbunden und erscheint in verschiedener Gestalt als wilder Reiter, zuweilen auch als Jäger. Als Anführer der „Wilden Jagd“ erscheint er besonders in den „Rauhnächten“, den zwölf Nächten ab Heiligabend. Auch diese sind mit reichem Brauchtum verbunden. Hierzu wieder S. Gräfin Schönfeldt: „Man glaubte, dass in dieser Zeit die Götter über das Land gingen oder in Wotans wilder Jagd über die Wolken brausten. Man blieb deshalb zu Haus, lud sich Freunde ein, um den Schutz des Hauses noch zu verstärken und feierte nach Herzenslust, aber auch um die Götter zu erfreuen. Die meisten unserer Weihnachtsgerichte und Gebäcke gehen auf alte Tier-, Haar- und Getreideopfer zurück, zu denen sich Dinge mit christlichem Bezug gesellt ... haben.“ Ergänzend kann man an die Riten zur Austreibung des Bösen denken, die mit dem Namen „Rauh-Nächte“, also mit den Räucherungen zur Reinigung und Erneuerung von Haus und Hof, zur Segnung und Schadensabwehr, verbunden sind, die in dieser Zeit praktiziert werden. Mit der „Wilden Jagd“ ist jedoch auch der Bezug zur „Anderswelt“, dem Bereich der Seelen gegeben. Im christlichen Brauchtum ist dieser Bereich mit den Totengedenkfeiern zu Anfang November verbunden. Dies verweist auf weitere Bedeutungsräume, Riten und Feste, die mit diesem Heiligtum wahrscheinlich verbunden waren. Der Schwerpunkt der Wodansfeste liegt in der Zeit zwischen dem Ende der Ernte, dem heutigen Michaelistag und der Jahreswende. Der Kultkontinuität entspricht auch, dass „Wodans- oder Donarsberge(n), ... mit Vorstellungen von Totenbergen (Grabhügeln) verbunden werden können“. Dass die Michaelskirche von Rasch von einem Friedhof umgeben ist, ist auch ein christlicher Brauch. Vor dem Hintergrund der Eigenschaft Wodans als „Anführer der toten Seelen“, also als „Totengott“, wirkt es abgründig, dass die Schäferkapelle heute als Leichenhalle verwendet wird. Es ist, als wirke die ursprüngliche Weihung und Bestimmung dieses Heiligtums bis in die Gegenwart fort. Indem Wodan als komplexe Gottheit einen Bezug zum Totenreich hat, wie aus „Odins Runenlied“ (Havamal - des Hohen Lied, Teil 3) hervorgeht, ist es, als sei der „genius loci“ selbst, nur wenig verhüllt, erneut wirksam geworden. Es spricht einiges dafür, dass diese Widmungszeichen, im Schatten der Michaelskirche von Rasch erhalten, etwas von ihrer magischen Kraft bewahrt haben, den Ursprung der Schäferkapelle zu vergegenwärtigen.

Gefjon als Göttin der Fruchtbarkeit im Tempel der Schäferkapelle von Rasch und matriarchale Traditionen der Schäferkapelle und Michaelskirche

Indem der Tempel von Rasch, sofern man die Schäferkapelle als solchen ansprechen kann, jedoch auch mit anderen Gottheiten, mit Ing und Gefjon, verbunden war, ist anzunehmen, dass der Festkalender dieses Heiligtums zu anderen Festen eher mit diesen Gottheiten verbunden gewesen sein dürfte. So ist insbesondere Gefjon mit dem Aufkeimen und Wachsen der Vegetation verbunden, als der Zeit des Frühjahrs und des Sommers, insbesondere mit der Mittsommernacht, worauf ein alter Beiname der Göttin verweist. Indem auch die Liebe und Fruchtbarkeit sowie die Geburt zu ihrem Bereich gerechnet wurden, dürfte sie in diesem Heiligtum auch in privater Andacht aufgesucht worden sein. Der spätmittelalterliche Flügelaltar der heutigen Michaelskirche - vermutlich von Michael Wolgemuth geschaffen - enthält die Darstellung von drei der vierzehn Nothelfer, die als „heilige drei Maderln“ eine besondere Gruppe bildenden Katherina, Barbara und Margaret, sowie die Hl. Magdalena. Das ist insofern bemerkenswert, als der Patron dieser Kirche der Erzengel Michael ist. Unter der Annahme von Kultkontinuität verweist dies darauf, dass in dieser Kirche nicht nur die Wodanstradition als eine Repräsentation des männlichen Sakralen - abgelöst durch den Erzengel Michael - bestimmend für die hier praktizierte Anbetung und angerufenen „transzendenten Wesenheiten“ war, sondern auch eine einflussreiche Tradition des weiblichen Sakralen, die in diesem Flügelaltar deutlich zu Tage tritt. Die „vierzehn Nothelfer“ sind eine Gruppe von Heiligen, die sich im Spätmittelalter besonders im fränkischen und ostbayrischen Raum herausbildete, von wo aus sie sich weiter verbreiteten. Bemerkenswert an der Michaelskirche von Rasch ist die Auswahl einer Gruppe von drei Frauen unter ihnen, die um die Hl. Magdalena ergänzt wurde. Das könnte auf das Fortbestehen einer germanischen „Matronen“-Verehrung hinweisen: „Bei der stark verbreiteten Verehrung der Vierzehn Nothelfer ist zu beachten, dass sich unter ihnen nur drei weibliche Heilige befinden: St. Barbara, St. Katharina und St. Margarete. Auch sie können nach Ansicht mancher Forscher als Nachfolgerinnen der Matronen gelten.“ In der Literatur erscheinen verschiedene Namen als Repräsentantinnen dieser Triade. Sie sind aus römerzeitlichen Funden am Rhein und bei Tacitus bezeugt. Die Gruppe dieser Heiligen, der Hl. Katharina, der Hl. Barbara und der Hl. Margareta, hat besondere Bezüge zum Leben der Frauen. Das Fest der Hl. Margareta wird am 20. Juli gefeiert. Sie gilt als Helferin der Gebärenden wie der Frauen mit Kinderwunsch, ebenso der Bauern und Hirten. Die Hl. Katherina gilt als Beschützerin der Mädchen. An ihrem Festtag, am 25. November, endete die Viehweide; es begann die Schafschur. Es war Zahltag für Knechte und Mägde und Beginn der stillen Zeit vor Weihnachten. Die Hl. Barbara gilt als Nothelferin der Sterbenden - und als Patronin der Bergleute. Der Festtag der Hl. Barbara ist der 4. Dezember, verbunden mit dem Brauch, „Barbara-Zweige“ zu schneiden, die auf das kommenden Frühjahr verweisen und die als Orakel verwendet werden können. Die Hl. Maria Magdalena gilt als Patronin der Frauen, der Verführten und der Sünderinnen. Ihr Festtag ist der 22. Juli und war verbunden mit dem Beginn der Ernte. Es ist auffällig, dass ihre Feste mit markanten Punkten des bäuerlichen Jahres verbunden sind, mit Ernte und Fruchtbarkeit - worauf in schöner Weise die Barbarazweige voraus weisen. Sie alle könnten Aspekte der Gefjon aufgenommen haben, ob in bewusster Ersetzung oder in unbewusster Kontinuität der Anrufungspraxis dieser Kultstätte und anderer Orte.

Die laut Rascher Überlieferung, „wundertätige“ Muttergottes aus dem 15. Jahrhundert ist offenbar nach ihrer Entfernung aus dem Mittelteil des Hauptaltars der Michaelskirche in die Schäferkapelle ausgelagert worden. 1845 wurde sie in die nahe gelegene römisch-katholische Ortschaft Berg i.d. Oberpfalz verkauft. Es ist überliefert, dass die Muttergottes nach Entfernung ihrer Figur weiterhin in der Kapelle und Kirche gesehen worden sei. Schließlich habe man sich entschlossen, eine ordentliche rituelle „Überführung“ des Gnadenbildes vorzunehmen. Seitdem sei sie nicht mehr in Rasch gesehen worden. Ähnlich wie im Bezug der heutigen Nutzung der Schäferkapelle als Leichenhalle zu Wodans „Feld“, des Anführers der toten Seelen, ist hier ein Fortwirken der ursprünglichen kultischen Bestimmung denkbar. Die Denkmöglichkeit solcher Annahmen im Bezug auf Phänomene des Sakralen hat die Wissenschaftlerin Olivia Kleinknecht wie folgt formuliert: „Das Heilige liegt nun typischerweise nicht in der materiellen Beschaffenheit des Gegenstands, sondern entweder in seiner Geschichte in den individuellen oder kollektiven Erfahrungen, mit denen er einmal verknüpft war. Oder das Heilige entsteht durch die Weihung des Gegenstands... Der Gegenstand behält diese praktisch im Gedächtnis. Das klingt in subtiler Weise in einer Begebenheit an, die mir Pfarrer Gerhard Böck über die erneute Weihe der Schäferkapelle als Begräbniskapelle zu seiner Dienstzeit erzählt hat: „Zur erneuten Einweihung der Kapelle spielte die Blaskapelle der Gemeinde, draußen, im Freien. Plötzlich kam ein heftiger Wind auf, eine richtige Bö, welche die Eicheln von den Eichen schüttelte, so dass sie den Bläsern in die Instrumente prasselten.“ Dergleichen „Korrespondenzen“ sind aus spirituellen Kontexten mehrfach überliefert. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Begebenheit darin signifikant, dass Bezüge zu Wodan als Sturm- und Wetter-Gott, sowie zu den mit den Eichen und der Fruchtbarkeit verbundenen Göttinnen und Göttern erkannt werden können.

Abschließendes

Der Sinn der vorliegenden Deutung der Schäferkapelle von Rasch in religionswissenschaftlicher Perspektive besteht nicht allein im Nachweis von weitgehend erhaltenen Zügen eines germanischen heidnischen Tempels und ihrer Deutung. In dieser Perspektive gehört diese Kapelle wohl zu den ganz wenigen baulich erhaltenen heidnischen Kultstätten aus germanischer Zeit in Deutschland mit ihren einzigartigen Runen und dem Wodanssymbol an ihrer Südseite. Liest man die erhaltenen baulichen Merkmale als „Zeichen“ jedoch in Verbindung mit den durch Kultkontinuität lebendig gebliebenen und oft nur wenig veränderten Riten und Traditionen, entsteht ein recht lebendiges Bild der vielfachen Bezüge dieses Heiligtums in vorchristlicher Zeit. Dabei erhellen sich auch religiöse Vorstellungen und Aspekte der Gottheiten dieser Zeit. Eine Vorstellung des religiösen Lebens an dieser Kultstätte im Laufe eines Jahres stellt sich ein. Ebenso werden die spirituellen Kräfte erahnbar, die an diesem Ort angerufen und gesucht worden, und verlangen den ihnen gebührenden Respekt, wie er inzwischen zur interreligiösen Etikette gehört. Angesichts der Kritik, dass das Heidentum vielfach als Projektionsfläche für spirituelle und weltanschauliche Orientierungsprozesse der Neuzeit und ihrer Krisen diene, ist diese „Erdung“ sinnvoll - oder, um es mit der Ikonographie der im Tempel von Rasch verehrten Gottheit zu sagen: nicht nur der „luftige“ Wodan als Gottheit der Divination, des Sehertums und der unheimlichen wie heldenhaften Höhenflüge ist hier verehrt worden, sondern ebenso die „geerdeten“ Gottheiten der Liebe und der Wachstumsprozesse mit ihren erdverbundenen Riten. Es ist, als hätten schon jene Altvorderen auf solches Gleichgewicht geachtet. Die mittelalterliche Kirche hat Wesentliches davon mit dem Programm der hier verehrten Heiligen übernommen. Nimmt man abschließend die Metapher aus „Nostra Aetate“ vom „Strahl jener Wahrheit ..., die alle Menschen erleuchtet“ auf, so erscheint er in der Religionsgeschichte der Schäferkapelle in eigentümlicher „Brechung“, in Farben, die es wert sind, „erinnert“ zu werden.

Zum Verfasser: Ullrich Kleinhempel ist evangelischer Theologie und lebt in Fürth. Studien der Ev. Theologie, Germanistik, Psychologie und Religionswissenschaft Akademische Lehraufträge in Religionswissenschaft im In- und Ausland. Mitglied der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW)