Peter Paul Rubens, „Saturn"
Die Thursen-Metapher im altrunenreligiösen Verständnis
In einem Akt der Devolution (Abwärtsentwicklung) des Göttlichen entsteht aus dem unnennbaren, unsichtbaren, großen Gottesgeist die Welt und der Mensch. Warum bleibt Gott nicht in seiner grandiosen Einsamkeit ? Die Gnosis versucht die Frage in diversen Erklärungen zu beantworten. Schon die vedistischen Denker erklären die Weltwerdung als Emanationsintervalle der göttlichen Urkraft, in Gestalt von Manifestationen der kosmischen 4 Elemente bis hin zur Menschwerdung. In manchen Richtungen der pessimistisch grundgestimmten Gnosis heißt der Schöpfer der materiellen Welt Jaldabaoth. Er ist dargestellt als schlangengestaltige, löwenköpfige Gottheit. Er bzw. sie galt als Demiurg, der die Menschen in dieser üblen Welt gefangen hält. Der Name ist wahrscheinlich vom hebräischen „jalda baôt“ = „Tochter des Chaos“, abzuleiten. Im „Apokryphon des Johannes“ ist es ein Name der erste von drei Namen des herrschsüchtigen Archons (Herrscher) neben Saklas und Samael. Nach der Materie erzeugte Jaldabaoth den Schlangengeist (Ophiomorphos), der Ursprung alles Bösen ist. Durch Strafen versuchte er die Menschen dazu zu bringen, ihn als Gott anzuerkennen. Wegen ihrer mangelnden Verehrung brachte er die Sintflut über die Menschen, aus welcher Sophia Noah rettete. In „Pistis Sophia“ hat er seinen Herrscheranspruch verloren und foltert in der Tiefe des Chaos zusammen mit 49 Dämonen die frevlerischen Seelen in einem glühenden Pechstrom.
Mit Abraham schloss Jaldabaoth einen Bund. Er sollte mit seinen Nachkommen ihm dienen. Jaldabaoth wird mit dem Gott Saturnus identifiziert. Hans-Josef Klauck, „Gnosis als Weltanschauung in der Antike“, 1993, schreibt, S. 65: „Jaldabaot enthält die semitische Wurzel jalad, erzeugen, gebären und sebaot, eine alttestamentarische Bezeichnung für himmlische Mächte, ein Attribut auch für Gott. Er ist der Herr Sebaot, der Herr der himmlischen Scharen. Ganz augenscheinlich spielt dieser Name ebenso wie die Beschreibung des Aufenthaltsortes mit der lichten Wolke und dem Thron auf den jüdischen Gott des AT, auf den Schöpfergott an. Genau das ist es, was Jaldabaot tut: Er schafft sich seine eigene Welt. Überaus deutlich tritt die Abwertung des Schöpfungsglaubens und die grundsätzliche Absage an das alttestamentarische Gottesbild zutage. So viel Material man in der Gnosis aus dem AT auch übernehmen mag, der fundamentale Dissens ist unüberbrückbar. Die Einstufung des Herren Sebaoth als Produkt eines Fehltrittes der Sophia impliziert eine scharfe Polemik gegen das biblische Judentum.“
Die Gnosis, wie auch der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930) darlegte, ist die erste Fundamentalkritik am „Alten Testament“, also der „Tora“ (verbindliches jüd. Gesetz, Gebot, Belehrung) als Basis des Moses-Glaubens. Carsten Dippel schreibt im Artikel „Zank ums Testament“, 2016: „Schon der Gnostiker Markion verwarf im 2. Jahrhundert die Schriften des Alten Testaments. Darin sei die Rede von einem fürchterlichen, kriegerischen Gott, der mit dem Gott des Neuen Testaments nichts zu tun habe. So könne das Alte Testament kein Buch der Kirche sein. Wenngleich Markions Position zunächst nur eine Strömung unter vielen darstellte und sich kirchenrechtlich nicht durchsetzte: Es war eine strikte Grenzziehung zum Judentum, an die spätere christliche Theologen anknüpften. Hier deutete sich dann eine über Jahrhunderte ziehende tiefe Judenfeindschaft an.“ Der Judengott wurde zumeist mit Saturnus gleichgesetzt. Das Wort Gott, ebenso wie der Name des Planeten Saturn, heißen im Aramäischen und somit auch im Hebräischen „EL“ (oder auch Elohim). Man liest: „Jehova wurde mit Saturn bzw. Vulkan identifiziert."
Einer der mächtigsten unter den 7 erschaffenden Engeln der 3. Ordnung (3. Strahl) ist Saturn, der beherrschende Genius unseres Planeten und der Gott der Hebräer, dem sie den 7. Tag oder Sabbath (unser 6. Wochentag oder Samstag) geweiht haben. „Saturn, Shiva und Jehova sind eins.“ Im römischen Tempel des Saturn, am Fuß des Kapitols, wurde der römische Staatsschatz („aerarium Saturni“) aufbewahrt. Saturn ist der sechste und im Altertum der äußerste (und somit der sich am langsamsten bewegende) der Planeten zugeordnet. Der Name des letzten Wochentages bezieht sich auf den Planeten Saturn, den Wochenbeschließer (engl. „Saturday“). In der griech. Mythologie fraß Saturn alle seine Kinder auf (siehe Rubens-Gemälde), bis auf sein sechstes Kind Jupiter, das vor ihm versteckt werden konnte.
Saturn galt in der Antike auch als Unglücksstern. In der mittelalterlichen Astrologie stand Saturn - traditionell mit einer Sichel oder Sense dargestellt - für Unglück: Kälte, Sorgen, Melancholie, Krankheiten und harte Arbeit. So nimmt es nicht Wunder, dass im mittelalterlichen isländischen Runengedicht der Saturnus als Identifikation des Thursen vorgeführt wird. Es heißt dort: „Thurse ist die Qual der Frauen- und der Felsen Bewohner- und der Ehemann Vardhrúnas - Saturnus - Führer des Things.“ Der Thurse / Eisriese / Utgardloki ist der Antigott im altgläubigen Runensystem. Er ist als ungezähmte Brachialgewalt (Titanen) aller Schwachen und vornehmlich der „Frauen Qual“. Er ist mithin der unzivilisierte „Felsen-Bewohner“, der Ehemann einer Unholdin, einer Zauberin (altnord: varðloki = Zauberer; varðlokkur = Zaubergesang). Der Thurse wird gleichgesetzt mit lat. Saturn, dem Herrn der Kälte, des Bösen und der unterirdischen Schätze. Er ist der gefährliche „Führer des Things“ der antigöttlichen Berater. „Die Astrologie kennt nur zwei Übeltäter, Saturn und Mars. Jenen nannte man im Mittelalter das große Übel, diesen das kleine“, schreibt Julius Schwabe in „Archetyp und Tierkreis“, S. 194.
In der ägyptischen Spätzeit wird der umstrittene Gott Seth menschengestaltig mit einem stilisierten Eselskopf dargestellt, als welches heute das Seth-Tier allgemein von den Ägyptern interpretiert wird. Die späthellenistischen Griechen setzten ihn - dem Mörder von Osiris - mit dem griech. Titan Typhon gleich. El Shaddai oder einfach nur Shaddai ist einer der Namen der jüd. Stammesgottheit. Der Name Schaddei erscheint 48 Mal in der Bibel, siebenmal als „El Shaddai“. Über die Begriffsbedeutung ist viel diskutiert worden, doch das Wurzelwort „shadad“ gehört unabweisbar, zu plündern, überwältigen oder trotzen. Dies würde Shaddai die Bedeutung von „Zerstörer“ geben, etwa wie sie der ind. Shiva besitzt. Der sich als der Zerstörer manifestiert. Er ist aufgrund dessen auch die Ursache für die Schöpfung, denn ohne die Zerstörung von dem alten Zyklus, kann es keine neue Schöpfungsperiode geben. Ähnlich wird er Saturn gesehen, der die Wochenzeit beendet, also „zerstört“, der mit seinem Attribut der Sense symbolgeschichtlich in die Nähe des Todbringers gerät, daher finden sich alte Darstellungen, auf denen Saturn häufig als Knochengerüst mit der Hippe zu sehen ist, das alles erbarmungslos niedermäht.
Publius Cornelius Tacitus (ca. 56-117 n.0) verfasste neben der „Germania“ z.B. auch die „Historien“, in denen er die Herkunftsgeschichten der Juden behandelt. In Kap. 2,2 heißt es: „Wie berichtet wird, sollen die Juden … das Küstengebiet Libyens besiedelt haben, angeblich in der Zeit, da der von Jupiter vertriebene Saturn sein Regiment aufgab. In der zweiten Herkunftsgeschichte gibt Tacitus eine jüdische Urgeschichte, wie sie auch Plutarch bringt: Typhon-Seth wurde von Horus, dem Isissohn, besiegt. Daraufhin floh Typhon sieben Tage auf einem Esel. Der Flüchtling zeugte zwei Söhne, Hierosolymos und Juda. „Einige berichten, während der Herrschaft der Isis habe sich die in Ägypten im Überschuss vorhandene Bevölkerung unter Führung eines Hierosolymus und Juda in die Nachbarländer entleert“. Weshalb beziehen antike Autoren diesen Mythos auf die Urgeschichte der Juden ? Saturn galt im Verständnis der Menschen des Altertums jedoch auch als der angebliche Herr des Sabbats, d. h. jenes siebten Wochentages, den die Juden heiligen. Was weist außer den Namen der während der Flucht gezeugten Söhne auf eine dergestalt fingierte jüdische Urgeschichte hin ? In einer Seminararbeit wird folgendermaßen kommentiert: „Die Parallelisierung der Typhon-Seth-Flucht mit dem Auszug des israelischen Volkes aus Ägypten, unter anderem durch den eselgestaltigen Seth mit dem Judenanführer Moses, der angeblich auf einem Esel ritt. Weiterhin könnte die siebentägige Dauer der Flucht als Hinweis auf die Bedeutung der Siebentagewoche und die angebliche Schlüsselrolle der Siebenzahl bzw. des Siebengottes im jüdischen Kultus gelten. Der Esel galt als Leit- und Helfertier in den Wanderungs- und Siedlungssagen der israelitischen Stämme und als versteckter Hinweis auf die angebliche Onolatrie [griech. Eselsdienst] der Juden. Ebenso gilt die Gestalt des Typhon-Seth selbst in der Rolle des Stammvaters der Juden als Indiz für das periodische Einwirken von lokalen kanaanäischen Baal-Kulten auf die israelitische Religion…“
Der Thurse-Saturn steht im ODING-Kalenderkreis überraschend stimmig auf 22. Position auf Mitte November, wodurch er sich als der „große Schädiger“ zu erkennen gibt, der die Welt, um die Zeit des Plejaden-Unterganges, „mit dorniger Rute“ in den Winterschlaf schlägt. Davon erzählt das eddischen Gedicht „Hrafnagaldr Óðins“ („Odins Rabenzauber“) - überraschend wieder im 22. Vers - wo es über den Unhold Thurisaz heißt: „Da hebt sich von Osten aus den Eliwagar - Des reifkalten Riesen dornige Rute - Mit der er in Schlaf die Völker schlägt - Die Midgard bewohnen, vor Mitternacht.“ Und noch einmal überraschend steht auf 22. Buchstabenreihe im hebräisch Konsonantenalphabet der Buchstabe „t“ = „Taw“ (sprich: „Tau“), Bedeutung = Kreuz, was ein Symbol für den Saturn sein soll. Astrologisch befindet sich der runenkalendarische Thurse im Sternzeichen „Skorpion“, im „Haus des Todes“ -, dort, wo man in der Antike - wie es z.B. Marcus Manilius tat - den Teufel „Typhon-Seth“ platzierte. Der in Rom zum Beginn unserer Zeitrechnung lebende Manilius schrieb ein Lehrgedicht in fünf Büchern, genannt „Astronomica oder Astronomicon libri V“, in dem er die damalige Astrologie umfassend erklärte. Auch das astrologische System der „Häuser“, von Manilius „Templa“ genannt, findet die erwähnte Berücksichtigung. Dem Gedicht ist zu entnehmen, dass der Autor zur Zeit der Kaiser Augustus und Tiberius, nach der Arminius-Schlacht 9 n.0 als Einwohner Roms gelebt haben muss.
Seth war ursprünglich ein Gott der Hyksos die einen Eselskult mit doppelten Eselsopfern betrieben. Die Hyksos im 16. Jh. v.0 waren von multiethnischer Identität, vorwiegend aber kanaanäisch-semitisch. Sie hatten den von Indoariern entwickelten Pferdekampfwagen übernommen und damit Im Nildelta Teile von Ägypten erobert und andere Gaue tributpflichtig gemacht. Der Seth wurde mit Saturn und dem Judengott im negativen Sinne zusammengeschaut. Nach einem antiken Mythos erwuchsen dem aus Ägypten vertriebenen Seth in Kanaan seine Söhne Judaios (Sem-Juda) und Jerusalem, wie es der griech. Philosoph und Apollo-Priester Plutarch (ca. 48-127 n.0) in „De Iside et Osiride“ und Tacitus in den „Historien“ erwähnen und Herbert Gabrielin in „Die Geschichte des Altertums in neuer Sicht“, Bd. 3, 2014, S. 133 kurz anführt. Auch die Zahl 22 hatte offenbar bereits zur römischen Kaiserzeit einen negativen Anstrich. Die verschiedenen im orientalischen Umlauf befindlichen Legenden um Alexander den Großen beinhalten den Sagenzug, dass er eine Schar von 22 bedrohlichen Völkern nördlich des Kaukasus gewissermaßen eingesperrt hätte, die aber zum Weltende fähig würden, die Sperre zu durchbrechen, um in den Nahen Osten und Palästina einzufallen. Diese apokalyptischen Völker werden auch in der Offenbarung des „Pseudo-Methodius“ erwähnt. Zwar entstand die Schrift in der 2. Hälfte des 7. Jhs. im oström. Syrien, doch sie ist auch Methodius, dem Bischof von Olympos, zugeschrieben worden, der 311/312 den Tod erlitt. Mit Sicherheit ist der Bericht von den fürchterlichen, abscheulichen 22 Teufelsvölkern älter, so dass sie der Runenschöpfer bereits vernommen haben könnte. Nach der Prophezeiung des biblischen Ezekiels (8,4-10), werden sie am letzten Tag der Welt, vor deren endgültigen Untergang, ins Land Israel einfallen. Die Gog und Magog treten als zwei von den 22 unreinen Völkern auf, die alle von Noahs Sohn Japhet abstammen sollen und vom Satan am „Jüngsten Tag“ befreit werden. Die gnostisch-christlich inspirierten Prophezeiungen verkünden, dass bei Jerusalem die Heerhaufen der Agogiten und Magogiten in einem großen Blutbad umkommen würden. Die hebräische Bibel spricht nicht nur vom Angriff Gogs von Magog, sondern auch vom Angriff des „Königs des Nordens“ und vom Angriff der „Könige der Erde“ (Hes., Dan., Offb.). Aus alledem wird ersichtlich, dass die Zahl 22 aus einer gewissen gnostischen Verständnisweise den Charakter des misantrophischen, seelenlos-bösen Materiellen trug und, dass der Runenschöpfer sie deshalb seiner Unhold-Chiffre zulegte.