Copyright Gerhard Hess - September 1993
 
 
 Kalendarisch-zahlenmythologische Angaben
zum Mond-Sonnenjahr
im nordisch-bronzezeitlichen Kunstwerk
 
 
Im Jahre 1902 wurden beim Pflügen im Trundholmer Moor nahe Nyköping auf Seeland / Dänemark die Bestandteile eines sechsrädrigen bronzenen Kultwägelchens ge­funden, dessen Gesamtlänge nach geglückter Wiederherstellung 60 cm betrug. Zu ihm gehört eine einseitig mit Goldblech belegte Diskusscheibe. Sie trägt auf beiden Seiten eingravierte Spiralen und kon­zentrische Kreise. Das Zugpferdchen mit ähnlichen Verzierungen auf Kopf, Hals und Brust war mittels eines Bändchens durch die Öse an der Sonnenscheibe so verbunden, dass der Ein­druck er­weckt wurde, als zöge das Tier die goldblinkende Sonne. Aus etwa glei­cher Zeit blie­ben Felsritzungen (z.B. Balken / Tanums­hede / Bohuslän / Schweden) und Zierbilder auf Rasiermessern (z.B. Viborg / Jütland) erhalten, welche ebensolche Sonnenpferdchen zeigen. Eine Messergravur (Ketting / Laaland / Dänemark) stellt das Rösslein mit dem Kopf nach unten dar, wie es die Sonne über das Weltenschiff zieht. Nach nordischem Mythos bewegt sich die Sonne bei Tage von Ost nach West (also für den Beobachter von links nach rechts) vom Pferde gezogen - mit oder ohne Wagen, bei Nacht zurück auf einem Schiff von West nach Ost. Auf­grund stilistischer Kriterien ordnet man das Trundhol­mer Kunst­werk der älteren Bronzezeit (1.700-1.000) zu; es wird auf 1.400 v.0 datiert.
 
Es darf davon ausgegangen werden, dass diese nordische Kultur von einer Zentralgewalt ge­lenkt wurde, denn politische Kleinstaaterei wäre unfähig gewesen, die archäologisch erkenn­bare, gleichar­tige Ausprägung über viele Tausende Quadratkilometer hervorzurufen (Prof. Müller-Karpe wäh­rend Tagung zum Chronolog. Projekt, Bonn, 21/22.2.1981). Rohmaterialien konnten von weit her erhandelt werden, doch gewiss waren auch schon eigene Kupfer- und Zinnvor­kom­men erschlossen. Zinn holte man aus England. Kupfererze baute man z.B. auf Helgoland und Hellerö / Schweden ab. Bei Hallunda, südwestlich von Stockholm, fand sich eine rechtec­kige Werkhalle für Bronzever­arbeitung von 20 m Länge mit Steinfundament. In ihrem Inne­ren standen nicht weniger als 12 Erzöfen aus gebranntem Ton. Der Bronzeguss verlangte grö­ßere Spezialwerkstät­ten und Fachleute, die sich ausschließlich mit diesem Hand­werk beschäf­tigten, die ihre eige­nen Beob­achtungen und die überlieferten Erfahrungen von Generation zu Gene­ration weiter­gaben und so einen neuen Stand zu hohem Ansehen brach­ten, den metall­bear­beitenden Künstler, den Schmied. Betrachtet man die Besonderheit einer solch frühen Schöpfung wie den Sonnenwagen von Trundholm aus mythisch-sakraler wie auch aus fertigungstechnischer Sicht, dann ist daraus zwingend die Berechtigung abzuleiten, jedes Detail auf eine möglicherweise vorhandene sym­bolische Aussage hin zu überprüfen. So ist es erfahrungsgemäß zulässig, die ornamentalen Bildele­mente als Zähleinheiten zu betrachten und aus­zuwerten. Die Zahlensprache der alten Zeit suchte ihre wesentlichsten Vorbilder im kosmi­schen Anschauungsunterricht der Gestirnsbe­wegungen. In den Zeiten von Sonne und Mond schienen sich Wille und Maß der höchsten göttlichen Kraftmächte abzuzeichnen.
 
An einem Septemberabend des Jahres 1993 machte ich es mir mit den exakten Darstellungen des „Sonnenwagens“ - die ich von meinem Freund, dem Archäologen Dr. Kurt Kibbert übernommen hatte - auf meiner Liege gemütlich, um die diversen Verzierungselemente des „Sonnendiskus“ durchzuzählen. Die Kirchturmsuhr schlug Mitternacht, als ich wie elektrisiert erfuhr, dass sich das von mir vermutete und erhoffte luni-solare Jahresschema im bronzezeitlichen Kunstwerk zu entschleiern begann. (Veröffentlichung u.a. 1994 in DGG, 42. Jg. Nr. 3 - ISSN 034-5710 -- Juni 1994 in Pen-Tuisto 34, ISSN 1015 - 1664)
 
Die Bestandsaufnahme der zählbaren Einheiten auf dem Trund­hol­mer Kunstwerk führt zu Ergebnissen, welche mit dessen kultspezifischem Charak­ter übereinstimmen. Der Ornamentalschmuck beider Diskusseiten besteht grobvisuell aus jeweils 6 konzentrischen Dekorringen die sich um den jeweiligen Mittelpunkt legen. 3 dieser Dekorringe auf beiden Diskusseiten sind gebildet durch Aneinanderreihungen von Medaillons, geformt aus zentrischen Liniengravuren, die wir als „Kreischen“ bezeichnen. Auch beide Mittelpunkte werden jeweils durch ein derartiges Kreischen gebildet. Es bietet sich an, diese Medaillons als Gestirnsdarstellungen bzw. als Sönnchen und/oder Möndchen zu deuten.
 
VORDERSEITE
 
Die Kreischen der goldbelegten Diskusscheibenseite erweisen folgendes Zahlenge­füge: Der innere Dekorring wird aus 8 Kreischen gebildet, der mittlere aus 8 Pärchen mit insgesamt 16 (2 x 8) Kreischen, der äußere aus 27 Kreischen. Insgesamt handelt es sich also um 52 Kreischen. 3 der Dekorringe bestehen aus Striche­lungen, 3 aus Kreischen, wir addieren den Mittelpunktkreis dazu und gelangen zu 7 Zähleinheiten. Multiplizieren wir 7 mit der Gesamtsumme von 52 Kreischen, resultiert daraus die altgebräuch­liche Annäherungszahl der Tage des Jahres: 364.
 
Die Gesamtzahl der Kreischen setzt sich aus vier Zähleinheiten (27 + 16 + 8 + 1) zusammen. Die 4 als Zahl der möglichen Lichtgestalten des Mondes, wie auch der jährlichen Haupt-Sonnenstände (Äquinoktien / Solstitien), vertritt Mond- und Jah­res­symbolismus. Das Jahr und die 13 galten als Sinnbilder der Zeit schlechthin. 13 war eine der signifikanten Zahlen des eranischen Zeitgottes Zervan. Da im luni-solaren Kalendersystem das notwenige Schaltjahr des 13. Regulationsmonates bedarf, wurde die 13 zum Zeit- und zum Ordnungssymbol. Bei Aufsummierung der 13 entsteht 91, welche mit 4 multipliziert auch zur Sonnenjahres-Tagezahl 364 hin­führt.
 
Die Lichtkörper-Kreischen der goldbelegten Seite des Diskus weisen unter­schiedli­che Größen auf. Sie sind in 27 + 1 = 28 größere sowie 16 + 8 = 26 kleinere Kreischen zu unterscheiden. Die Zähleinheiten 27 und 28 deuten auf den Zeitwei­ser Mond hin. Benötigt er doch für seinen Erdumlauf einen „siderischen Monat“ von 27,322 Tagen. Aber der „synodische Monat“, also die Zeit zwischen zwei Neumonden, beträgt im Mittel 29,531 Tage. In 28 sind die 4 Phasen des Nachtge­stirns vollkommen enthalten (4 x 7 = 28), welches nach Vorstellung der Alten in seinem Rundlauf auch 28 Stern­engruppen durchwandern muss. 13 Mondmonate von 28 Tagen ergeben das Jahr von 364 Tagen. Da jeder Monat 4 Phasen hat, ergibt sich eine zeitliche Feinrastereinteilung von 52 Mondzeitsegmenten („Wochen“) pro Jahr, mit der ersichtlich die nordische Bronzezeit ihre Kalenderordnung gestaltet hat.
Auch der Kalender der Essener-Kultgruppe bei Chirbet Qumran, vom Beginn heutiger Zeitrechnung, umfasste 364 Tage, eingeteilt in 4 Quartale je 91 Tagen. Von den 12 Monaten des Jahres hatten die 4 letzen Monate der Quartale jeweils 31 Tage, die restlichen 8 Monate 30 Tage. Jedes Jahr hatte 52 Wochen, ein neues Jahr begann immer mit einem Mittwoch. Das Jahr, die „Wanderung Gottes durch die Zeit“, ist zu verstehen als ein kosmisches Produkt aus Sonne und Mond. Bei des Sonnenjahres Wochenzahl von 52 (Quer­summe 7), à 7 Tagen, ist die Tagesanzahl also 364 und deren Quersumme 13, dem Zahlen­symbol des Jahreszeichens () im gemein­germanischen Kalendarium des ODiNG-FUÞARK-Systems.
 
RÜCKSEITE
 
Die Rückseite des Sonnendiskus besaß, nach Auffassung der Fachgelehrten, zu keiner Zeit einen Goldblechüberzug. Seine ornamentale Gestaltung gleicht mit wenigen Abweichungen der Vorderseite. Auf dem äußeren Dekorring reihen sich nur 25 Kreischen. So ergeben beide Dekorringe, der vordere und rückwärtige, schon jene Jahresmondphasenanzahl 52. Im mittleren Dekorring stehen hier 20 Kreischen. Addiert man die 16 Kreischen der Frontseite hinzu, ergibt das 36 - eine Summe, die neben ihrer arithmetischen Bedeutung (sie ist Produkt der ersten Quadratzahlen: 4 und 9) sich auch wieder als Jahres- bzw. Kreisbe­rechnungsziffer präsentiert. Tatsächlich stellte man sich den Kreisumfang (Himmelskreis) auf­grund sehr alten Herkommens in 360 gleiche Teile oder Bogengrade zerlegt vor. Die beiden Diskuszentren mit jeweils 9 Kreischen (1 Zentralkreischen, um den sich 8 Kreischen gleichabständig herumgruppieren) sind identisch; sie ergeben zusammen 18 mit Quer­summe 9. Die Addition sämtlicher vorhandener Kreischen erbringt 106. Dazugerechnet die beiden gleich­gestal­tigen Augen-Kreischen des Sonnenpferdchens, produzieren die Endsumme 108 (12 x 9) mit Quersumme 9, jener Zahl der gemein­ger­m. sowilo- / Sonnen­-Rune () im ODiNG-FUÞARK-Buchstabensystem. Das Dazuzählen der Pferdeaugen entspricht keiner Willkür, sie sind nicht als Tieraugen gestaltet, sondern eindeutig als Sonnen-Kreischen.
 
DIE ZAHL 108
 
Die Gesamtzahl aller Kreischen der goldbelegten Seite beträgt 52, die der Rückseite 54. Gleiche Zahlen er­hält man bei an­derer Addition. Die kleinen Kreischen von Vor- und Rückseite zusammenge­nommen ergeben 52, von großen Kreischen sind 54 vorhanden. Beide Zahlenwerte wurden demnach planvoll hineingearbeitet. Zusammengerechnet mit den Pferdeaugen-Kreischen erscheint die Zahl 108. Sie bliebe ohne Widerhall, wüssten wir nicht, dass sie in der hinduisti­schen und buddhistischen Tradition heiliger Zahlen eine bedeutende Rolle spielt. So tanzt die Sonneninkarnation Kris­hna im gewiss tiefsinnigen Symbolismus im Kreise mit solch einer Zahl von Gopis, die sich auf der höchsten Stufe der vollkommenen reinen Liebe und Hingabe be­finden. Für die Buddhi­sten ist es die Zahl der Arhats, jener verklärten, vollendeten Heiligen; aber auch der Perlen des Rosenkranzes sowie der Bände tibetanischer heiliger Schriften. Das ODiNG-FUÞARK-Runensystem etwa vom Beginn unserer Zeitrechung demonstriert mit 6 Vokalen und 18 Konsonanten (6 x 18) = 108 Urstammsilben der ger­manischen Sprache. Die Zahl 108 - Produkt aus 36 x 3, oder 6 x 18, oder 4 x 27, oder 12 x 9 - scheint demnach ein sehr altes heiliges Vollkommen­heits­symbol (Kreis­symbol) zu sein, das über die indogermanische Brücke nach Nordeuropa bzw. andererseits nach Zentralasien ge­langte.
 
SONNENRUNDJAHR UND MONDJAHR
 
Es führt darüber hinaus ein Rechenweg der Trundhol­mer Zahlenangaben zum Mondjahr von 354 sowie zum alther­kömmlichen Sonnen-Rundjahr von 360 Tagen. Das altindische und babylo­nische Jahr bestand ursprünglich aus 360 Tagen - und das Hinzufügen von 5 Festtagen zu den 12 ägyptischen Monaten legt nahe, dass das ägypti­sche Jahr einst auch 360 Tage umfasste. Auf diese Weise war die Kreisbahn der Sonne im Ekliptikgürtel auf der Himmelskugel in 360 Teile zerlegt, von denen jeder einem Tag und einer Nacht entsprachen. Gehen wir davon aus, dass die beidseitigen Kreischen in den Mittelpunkten der Diskusseiten die Posi­tion 1 vertreten, dann stehen die beiden kleinsten Dekorringe mit 8 Kreisen für Position 2, die beiden mittleren Dekorringe mit 16 bzw. 20 Kreisen lägen auf 3. Stelle und die beiden größten Dekorringe mit 27 bzw. 25 Kreisen stehen auf Platz 4. Multiplizieren wir nacheinander die Anzahl der Kreischen aller 3 Dekorringe mit dem Wert ihrer Ringpositionen, dann ergibt sich folgende Rech­nung:
 
Zwei Zentrums-Kreischen x 1 = 2; der beiden ersten Ringe 16 Kreischen x 2 = 32, der bei­den zweiten Ringe 36 Kreischen x 3 = 108; der beiden dritten Ringe 52 Kreischen x 4 = 208. Die Addition der vier Ergebnisse erbringt 350. Die hinzuzurechnenden beiden Pferdeaugen er­höhen auf 352. Nun übersah die ausgeklügelte kultische Mathematizität der alten Weisen keine De­tails, die uns Heutigen, bei dem soviel größeren Spielraum kommunikativer Möglich­keiten, leicht entgehen würden. Dem Trundholmer Kultobjekt dürfen wir eine kleinlich-ge­naue ma­thematische Symbolsprache unterstellen. Der gesamte zweiseitige Sonnen­diskus gleicht jedem einzelnen der hineingepunzten Kreischen-Gebilde. Mit diesen beiden Großkreischen erhalten wir die Tagesanzahl von 354 eines Mondjahres, bestehend aus 12 syn­odischen Mondläufen (von Neumond zu Neumond) à 29,5 Tagen.
 
Zusätzlich wurde die unvergoldete Diskusseite die exakte Halbsumme der Mond­jahreszahl hineingearbeitet: Zentrumskreischen x 1 = 1, plus kleine Kreischen 8 x 2 = 16, plus Mittelring 20 x 3 = 60, plus großer Ring 25 x 4 = 100, ergibt 177 (177 x 2 = 354). Da der Trundhomer Meisterschmied seine Schöpfung zweifellos als eine Ganzheit ansah die das Mond-Sonnenjahr symboli­sie­ren sollte, wäre sein Gedankengang in etwa nachvollziehbar: Die unvergoldete „sonnenlicht­lose“ Diskusseite ist unverkennbar beauftragt die Nachtzeit-Mondzeit zu vertreten - aber nur der Mondjahres-Halbwert von 177 Ta­gen darf erscheinen, weil auch die Diskus-Goldseite bei der vollen Zählung des Gesamtmondjahres beteiligt ist.
 
 
Will man sämtliche Kreischen-, Scheiben- und Radgebilde des Gesamtkunstwerkes erfassen, so muss man zur Summe 354 auch die 6 Räder des Wagens addieren und man erhält 360, die Tages­zahl des alten Sonnen-Rundjahres, gleichzeitig die Kreiszahl von 360°. Mit nachvollziehbarer Logik sind es gerade Radkreuze welche zur Tageszahl des Sonnenjahres ergänzen, ist doch das vier­spei­chige Rad als bronzezeitliches Sonnensymbol aus einer Menge von Bildbelegen der Klein­kunstwerke und der bronzezeitlichen skandinavischen Felsbilder bestens bezeugt. Der aufschlussreiche, fein gearbeitete Sonnenwagen scheint also nicht nur befähigt, ein Zeugnis abzulegen von hochentwickelter Ästhetik nordischen Kunstschaffens, sondern die Rechnungs­grundlage der Organisation eines frühgermanischen Mond-Sonnen-Jahres (lunisolares Schema) zu bezeugen.
 
QUERSUMMENZIEHUNGEN
 
Gesichert ist die Feststellung, dass in den Sonnenwagen die Zahlen des Mond- und des Sonnenjahres hineinge­arbeitet wurden. Als weniger glaubwürdig möchte man gern die zahlenmythologischen Deutungen bezeichnen die aufgrund von Ziffern­summen, also Quersummen­ziehungen, zustande kamen. Könnten die Mathematiker der nordi­schen Bronzezeit überhaupt schon Quer­summen­ziehungen zuwege gebracht haben, ist eine so frühe Zahlenmystik vorstellbar und mit welchem Rechensystem wird damals gearbeitet wor­den sein ?
 
In der Tat erscheinen Quersummenziehungen nur möglich innerhalb des heutigen Dezimal­stellensystems, welches über die Vermittlung der Araber von den Indern übernommen wurde und sich erst ab dem 12. Jh. n.0 zunehmend als Allgemeingut des Abendlandes ausweitete. Es ist fähig, mit den wenigen Zahlensymbolen von 0 bis 9 auszukommen; 10 ist dabei die Basis- oder Grundzahl - nur deshalb, weil eben der Mensch 10 Finger besitzt, die er natürlich be­nutzt, um die Dinge, die er auszählt, zu kontrollieren. Solche selbstverständliche Art der Zählweise, über 10 hinaus wieder mit einer höheren Qualität der 1 zu beginnen, zeigt sich bei vielen Indianerstämmen in dem Begriff für 11 = „Fuß-Eins“. Waren die 10 Finger er­schöpft, nahm man die Zehen zu Hilfe. Die Hochschätzung der 10 als Vollkommenheits- und Basiszahl ist von menschlicher Anatomie also zwingend vorgegeben und mithin älter als die Erfindung des indischen Dezimalstellensystems; sie basiert in Europa nachweislich auf sehr alter Tradition. Sie wurde von den Pythagoreern in der tetraktys, der „Vierheit“, ausge­drückt, da die 4 Grundelemente unserer Welt und die ersten 4 Zahlen die Summe der „heili­gen Zehnzahl“ ergibt. Und so, wie diese Schule von 10 Weltkörpern ausging, zeigt das viel­leicht gei­stesver­wandte Ritzbild auf dem bronzezeitlichen Rasiermesser von Hviving (Aar­hus / Dänemark) neben den bei­den großen Strahlenkreisen, die sicher Sonne und Mond dar­stellen, acht weitere, also insgesamt zehn Himmelskörper-Darstellungen, die um das „Wel­tenschiff“ herum grup­piert wurden. Wie zur Bekräftigung dieses Befundes zeigt der ge­schwungene Griff ein Orna­ment von zehn Gürtellinien. Und nach Platons Atlantisbericht wa­ren es 10 Könige, die das Reich der nordeuropäischen Atlanter regierten.
 
Die Griechen nutzten zwar ihr gesamtes Alphabet zur Zahlenbezeichnung, und auch die Rö­mer besaßen mehr als 10 Zahlzeichen; somit ist eigentlich eine Quersummenziehung, welche sich auf die 10 Grundzahlen verkürzen möchte, kaum denkbar. Trotzdem jedoch war sie im Ge­brauch und kann durchaus auch in germanischer Bronzezeit bekannt gewesen sein. Der römi­sche Schriftsteller Varro (116-27 v.0) beschrieb die Quersummenziehung als ein Mittel, um größere Zahlen - z.B. im Orakelbrauch - auf ihre besonderen beweiskräftigen Ele­mente hinab­zumindern, indem Zehner, Hunderter, Tausender als Einer gezählt wurden. Man nannte das regula novenaria, weil man dabei die je neun Zehner, Hunderter, Tausender in einheitli­cher Weise vornahm (Varro, de lingua latina IX, 49, 886 p. 166). Bereits im 4. Jh. v.0 ge­brauchte der griechische Philosoph Speusippos, der die Ideenlehre Platons zu einer Zahlen­theorie gestaltete, den Fachausdruck der Quersumme. Und der Neuplatoniker Theo­doros von Asine verwendete in der ersten Hälfte des 4. Jh. quersummierendes Verringern der Zahlenbuchstaben zu spekulativ-theoretischen Zwecken. Er übte also schon eine Re­chenopera­tion, welche sich erst in unserem Dezi­malsystem so sehr viel leichter durchführen lässt. Völlig auszuschließen ist es demnach nicht, dass die nordische Bronzezeit bereits mit Quer­summenrechnungen hantierte - dafür war kein Dezimalstell­ensystem erforderlich, sondern nur ein dekadisches Weltverständnis, welches Veranlassung gab, jene Zahlengrößen, die 10 über­stiegen, durch Quersummen­ziehung auf einen Wert unter 10 zu verdich­ten. Alle von mir vorgestellten zahlenmythologischen Gedankengänge liegen demnach im Bereich des Mögli­chen.