Die heilige Neun
 
Da in der antiken Zahlenmystik die Zahl 3 als erste rein männliche Ziffer galt, musste die 9 als dreifache Triade, die „Erfüllung des Mann-Prinzips“ repräsentieren. Sie verdankt also ihre Hochschätzung zu allererst dem arithmetischen Umstand, dass der männliche Gottes- und Lichtwert 3 durch Multiplikation mit sich selbst 9 ergibt - so gelangt sie zur Bedeutung der „göttlichen Vollendung“.
 
Zum anderen wurde der siderische Monat von 27 Tagen einstmals in drei 9-Tage-Wochen eingeteilt. Zeiteinteilungen in 9-er Perioden zeigen die Feste für Apollo, die alle 9 Jahre in Delphi durchgeführt wurden. Ebenso feierte man nach 9-jährigen Fristen die großen heidnischen dänischen und schwedischen Opferfeste in Ledra und Uppsala, von denen „Thietmar von Merseburg“ und „Adam von Bremen“ berichteten. 9-tägige Andachten und 9-fache Opfer wurden dort dargebracht.
 
9 Nächte hing Odin verwundet im Weltenbaum, bevor er die Runen fand (Edda, Havamál 138). 9 Nächte muss der sonnige Freyr auf die Vereinigung mit seiner geliebten Gerda warten (Edda, Skirnirsmál 42). 9 Räume im Weltenbaum kennt die eddische Seherin (Völuspa 2). 9 Mütter gebären den göttlichen Lichtgeist Heimdall (Weltleuchte), so berichtet die Edda. 9 Götter brachte das göttliche Urprinzip der Altinder hervor (Atharvaveda XI. 4,10). 9 Götter, „die Neunheit“ als Bestandteil des Sonnenkörpers, schufen nach ägyptischer, heliopolitanischer Theologie das weltliche Leben. Nach hinduistischer Anschauung umkreist der Sonnengott auf seinem 9.000 Yojana breiten Wagen die Erde.
 
Wir sehen schon, dass sich die 9 zur Sonnenzahl verdichtet, ist doch die Sonne das sichtbarste, komprimierteste Gottesgleichnis überhaupt. In den griechisch-ägyptischen Zauberpapyri vom Beginn unserer Zeitrechnung zeigt es sich schließlich ganz unmissverständlich, da wird bei Quersummenziehungen (QS) die 9 als griechischer Buchstabe „Th“ für Theos (Gott) gedeutet und verstanden.
 
Im „Papyrus II, 125“ aus Anfang 4. Jh. heißt es: „Du, größter und mächtiger Gott, [...] du hast mir als Geschenk verliehen die Kenntnis deines höchsten Namens, dessen Zahlwert 9999 ist. [...] Dich rufe ich, karischer Apollon.“ Die QS von 9999 ist 36, die (Himmels-)Kreiszahl, wiederum mit QS 9. In anderem Papyros besteht der Geheimname des Sonnengottes aus 36 Buchstaben, die seine heilige Zahl 3663 (QS 9) ergeben und, von vorn wie von hinten gelesen, als sog. Palindrom die 36 Dekane der Ekliptik (12x3) enthalten. Der germ. Sonnengott war Frô, sein Wort bildet sich aus den Runenbuchstaben = 24 + = 20 + = 1; die Addition ergibt: Fro = 45 (QS 9).
 
So wie in mittwinterlicher ODiNG’scher Kalenderspanne der Sonnensohn (-ing-Rune) dem Urvater (-Rune) folgt, so muss auch in frühjährlicher Werdezeit die erblühte Sonne (-Rune) aus dem hochgereckten Frühlingshimmel (-Rune) hervorgehen, der antiken Vorstellung gemäß, dass die Luft das Feuer gebiert.
 
Sonnenheil liegt bei mythischer Betrachtungsweise in der 9. Deshalb helfen 9 Knoten in einem Band gegen Verrenkungen. Ein Neunmalkluger besitzt die geistige Sonnenhelle. Die Gründonnerstagsspeise, aus 9 Kräutern bereitet, ergibt „Negenstärke“, d.h. 9-fache Kraft.
 
Ein weiterer Verständnisbezug der 9-Zahl klingt schon in ihrem Namen an; in indogerm. Sprachen ist eine Übereinstimmung der Wortstämme für „neun“ und „neu“ zu erkennen. Ebenso besteht nach den Schreibungen der alten Pyramidentexte zwischen dem Zahlwort „neun“ und dem Wortstamm „p´sd“ der vom Neuerscheinen der Sonne im Osten gebraucht wird und auch der Benennung des Neumondfestes zugrunde liegt, ein Zusammenhang. Im sehr alten Tarockspiel „Minchiate von Florenz“ ist die 9. Karte „das Glücksrad“; das einzige große Glücksrad unserer Erde ist zweifellos das Sonnenrad.
 
Tatsächlich spricht die Volksmeinung von 9 Monaten menschlicher Schwangerschaft bis zur Neuwerdung des Lebens. Auch in eddischer Rigsðula 6, 20 u. 33 heißt es von menschlicher Schwangerschaftsdauer: „liðo meirr at Þat mánuðr nío...“ „allmählich vergingen der Monde neun. Darauf brachte Amma ein Bübchen zur Welt...“. Die von gynäkologischer Seite errechnete biologische Mutterschaft von ca. 265 Tagen und 9 Stunden stimmt recht gut überein mit 9 synodischen Lichtmondmonaten, von jeweils 29 Tagen, und weiteten l3 Stunden. Die menschliche Entwicklung im Mutterschoße dauert den Mittelwert von 9 Lichtmonden. Solches Wissen demonstriert der Runenschöpfer in seinem ODiNG’schen Kalenderkreis. Nach 9 Monden „gebiert“ die Große Mutter die urmütterliche Grundpotenz (7 -Rune > 1 -Rune), der Himmelsvater die uranische Urkraft (8 -Rune > 2 -Rune), der solare Siegeheros das Feuerkind (9 -Rune > 3 -ing-Rune). Die drei Anfangs-Runen „, , -ing“ gebären wiederum nach 9 Monden dies: Die Urmutter der Mütternacht > die Göttin der Herbst-Tagnachtgleiche (1 -Rune > 19 -Rune) -, der Doppelaxt-Jahresanfangs-Weihegott den Oktober-Wagenherrn (2 -Rune > 20 -Rune) und das Januar-Sonnenfeuer-Kind den Winteranfangs-Asen-Wodin (3 -ing-Rune > 21 -Rune). Nicht allein mythologisch stimmen diese runischen Metamorphosen, sie harmonieren auch nach arithmetisch-gematrischer Logik: Die 1 entspricht jungfräulicher 7, die 8 ist Kubikzahl der 2, die 9 ist potenzierte 3 -; die 1 hat gleiche QS wie 19 -, die 2 hat gleiche QS wie 20 -, die 3 hat gleiche QS wie 21. Ein religiöser Legendenkanon in Zahlen und Buchstaben !
 
Welche kosmische Bedeutung die 9-Zahl in der Antike besaß, erkennen wir auch am kosmischen Modell der damaligen Wissenschaft. Nur die Zählweisen unterschieden sie sich, von außen nach innen oder umgekehrt. Der röm. Gelehrte Plinius (23-79 n.0). der Verfasser einer vielbändigen „Naturgeschichte“, glaubte nicht nur – wie etliche griech. Wissenschaftler vor ihm - an die Kugelform der Erde, sondern vermutete auch die Existenz von „Antipoden“, also Erdbewohner auf der gegenüberliegenden Erdkugelseite.  Cicero (1006-1043 n.0) schrieb: „Das Weltall besteht aus 9 Kreisen oder besser aus 9 Sphären, sie sich ineinander drehen. Die äußere Sphäre ist die Himmelsphäre, von der alle anderen umfangen werden und in der die Sterne befestigt sind. Unter ihr rollen 7 Globen, die von einer Bewegung fortgerissen werden, die der Bewegung der Himmelsphären entgegengesetzt ist. Im ersten Kreis rollt der Stern, den die Menschen Saturn nennen; auf dem zweiten strahlt Jupiter, der den Menschen als wohltätiges und gnadenreiches Licht gilt, danach kommt Mars, der glänzt und Schrecken und Furcht erweckt; weiter unten inmitten des Weltalls, rollt die Sonne, das Haupt, der Herrscher, der Führer der übrigen Himmelslichter, die Seele der Welt, eine ungeheure Kugel, die erwärmt und Licht über das ganze Weltall verbreitet. Der Sonne nach, gleich zwei Begleiter, schreiten Venus und Merkur. Die unterste Bahn endlich nimmt der Mond ein, der sein Licht von der Tagesleuchte nimmt. Unter diesem letzten Himmelskreis ist alles sterblich und vergänglich. …Über dem Mond ist alles ewig. Unsere Erde, die sich im Mittelpunkt der Welt befindet und vom Himmel von allen Seiten getrennt ist, bildet die neunte Sphäre. Sie ist unbeweglich, und alle schweren Körper streben zu ihr.“