Zwei Zeichnungen vom Original-Tympanon von Grebehna
 
 
Oft ist eine Reform so schmerzlich wie ein chirurgischer Eingriff oder wie die hilfreiche, aber sprich­wörtlich bittere Medizin. Auch die von mir angeregte Reform (d.h. Wiederherstellung des Urzu­standes) des im deutschen Neuheidentum seit den 30er Jahren üblich gewordenen „Irmin­sul“-Symboles macht da keine Ausnahme.
 
Mit dem Erscheinen von Wilhelm Teudts Buch „Germanische Heiligtümer“, 1929, begann die dok­trinäre Idee aufzuleben, das gebogene Baumgebilde im Kreuzabnahmerelief des Externsteines bei Horn/Teutobur­ger Wald würde die altsächsiche Kultsäule/Allsäule, die „Irminsul“, darstel­len. Teudt gab an, seine Freunde Eugen Weiß und Oberregierungsrat Körner hätten diesen Ge­dan­ken erstmalig geäußert. Allerdings hatte der „Dilettant“ (wie er sich selbst bezeichnete) G.A.B. Schie­renberg, 1879, diese Möglichkeit auch schon einmal angedacht. Unbeeindruckt davon vertrat die offizi­elle Externsteinforschung bis heute die Meinung, es handele sich um eine „Palmette“, also ein Palmbäumchen, welches im Arrangement der Jerusalemer Hinrich­tungs­szene des Essener-Revo­luz­zers Jeshua/Jesus gewiss nichts außergewöhnliches wäre.
 
In dem bekannten Grundlagenwerk von Erich Jung, „Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit“, 1939, heißt es auf Seite 125 zum Thema der Irminsul: „Ich halte es auch nicht für richtig, daß die merkwürdigen Äste, auf denen Nikodemus bei der Kreuzabnahme steht, die umgebogene und gedemütigte Irmensul darstellen sollen, deren angeblich wahre Gestalt aufgerichtet man danach ergänzt hat. Der Gedanke, das heidnische Sinnbild derart in sichtlicher Darstellung zu demütigen, entspricht zwar durchaus der mittelalterlichen Auffassung; das kommt sehr vielfach zum Ausdruck, z. B. darin, wie der Bildhauer gedemütigte Dämonen als Stützen und Balkenträger am Kirchenbau verwendet; besonders auch als Träger des Taufbeckens, das ja eine Hauptwaffe der Kirche im Kampf gegen die unholden Mächte und heidnischen Abgötter darstellt; s. Freckenhorst, Limburg, Prenzlau. So hatte die Auffassung, daß die Stütze des Nikodemus auf dem Steinbild der Externsteine eine gebeugte Irmensul darstellen sollte, zunächst manches für sich. Dabei haben sich übrigens die Anhänger dieser Meinung sogar noch etwas entgehen lassen; nämlich die Nachricht, daß die Maylmenstütze, Weltstütze der Lappen, oben gespalten gewesen sei. Ich halte aber jetzt diese Wiederherstellung der Irmensul nach dem Relief der Extensteine trotzdem für falsch; erstens hat man gar zu viele Belege für ganz ähnliche Darstellungen, die sicher stilisierte Äste und Zweige bedeuten sollen, so z.B. an der erzenen Domtür von Hildesheim. Zweitens aber haben die Irmensulen m. E. nicht so ausgesehen; mindestens die meisten nicht;"
 
Unabhängig vom eigenen Standpunkt ist objektiv festzustellen, dass dieser Streit auf der einen Seite mit viel ideologischer Inbrunst und auf der anderen Seite mit etwas mehr Kompetenz ge­führt wurde. Zweifellos wollte der Externstein-Bildhauer ein Palmbäumchen nachbilden, gibt es doch weltweit keinen anderen Baum mit diesen gerippten, langen, zuweilen an der Spitze leicht einrol­lenden Blattwedeln sowie diesen symmetrischen Anordnungen der Altblattstrünke am Stamm hinauf, wie er es in schemati­sierter Form herausmei­ßelte. Für jeden Kenner der vielen natürlichen oder stilisierten Palm­baumbilder des antiken und mittelalterlichen Kunstschaffens ist das ein undiskutabler Fakt. Die Vertreter der Ir­min­sul-Theo­rie waren unbeschwert von Kennt­nissen über kunstgeschichtliche Traditionen. Sie ar­gumen­tier­ten, dass ein Palmbaum einen run­den und keinen quadratischen Stamm haben dürfe, wie ihn das Gebilde im Externstein-Christus­bild aufweist. Gegen diesen Vorbehalt fiel auch den Vertre­tern der Palmbaum-Theorie kein plausibles Argument mehr ein. Die Diskussion verlief letztlich für den laienhaften Betrachter un­ent­schie­den.
 
Beiden deutschen Parteiungen blieb es bis heute unbekannt, dass die vorderasiatische Kult­ikono­gra­phie, insbe­sondere die spätbabylonische und assyrische, den ihr heiligen Lebensbaum (die Dat­tel­palme) in Art und Weise so ausbildete, wie wir ihn detailgetreu im Externsteinbild wieder­fin­den. Ein Ausweichenwollen vor der endgültigen Erkenntnis, dass es sich im Externstein-Chri­stusrelief um den vorderasiatischen Kultbaum handelt, darf nach Inaugenscheinnahme des Ver­gleichs­bild­ma­te­rials als irrealistisch-illusionär bezeichnet werden.
 
 
Die Erklärung einer möglichen Motivation scheint sim­pel: Das Christentum nahm seinen An­fang im Vorderorient, wo es sich mit den altheid­nisch-semiti­schen-persischen Kultgruppen herum­balgte, denen die Abbildungen des Dattelpal­men-Le­bensbaums Inbe­griffe ihrer altherge­brachten Religiosi­tät waren. Erst christli­che Mönche und der wahrscheinlich ostmittelmeerisch-vorderasiatische Steinmetzkünstler des Extern­steinbildes haben diesen Verständ­nishorizont in den Teutoburger Wald getragen. Denn so gut bekannt die stilisierte Dat­telpalme im sumerisch-semiti­schen Kultur­kreis des Nahen Ostens ist, so unauf­findbar ist sie ver­ständli­cherweise im alteuro­päisch-nordi­schen. Das Christentum lehnte zwar die vorchristlichen, als heidnisch ge­brandmark­ten, orienta­lischen Lebensbaumkulte und -darstel­lungen entschieden ab, doch da es aus eben diesen Kulttradi­tionen selbst hervorge­gangen war, gebrauchten die ju­däochristlichen Schriften selbst das so griffige Gleichnisbild des Lebensbaumes und trugen es ins römisch-keltisch-germani­sche Europa (siehe: 1. Mose 2,9; 3,24; Offenbarung d. Johannes 2,7; 22,1f).
 
Es gibt natürlicherweise nicht nur keine urnordische Darstellung eines Palmbaumes (oder dessen Abkömmling, der heraldischen „Lilie“), es ist nicht einmal das Bild eines Lebensbaumes im sehr um­fänglichen Fundmaterial vorhanden. Die bronzezeitlichen skandinavischen Felsbilder ken­nen kei­nen Lebens­baum ! Es finden sich lediglich einige Fichten und ein Eibenbäumchen im nordi­schen Bildfun­dus. Zwar war es die griechische Kunst, die schon früh aus dem Orient das Palm­baum­ranken­motiv als Tempelschmuck annahm, doch erst die Bibel-Mission brachte den Begriff des „Lebensbaumes“ ins nordische Abendland. Unser keltisch-germanischer Kulturkreis erwuchs aus der Trichterbe­cher­zivilisation, deren agile adlige Oberschicht sich aus den Nord- und Ostseeanrainern, den Er­te­bölle-Hochseejägern, entwic­kelt hatte. Diesen Nordmenschen wurde der nordskandinavische Natureindruck eines sich über der unsichtbaren Stützsäule drehenden Himmelsdache, zum be­stimmenden Erlebnis. Aus ihm erwuchs der zir­kumpolar anzutreffende Weltsäu­lenkult, der in den My­then all der späteren indogermani­schen Völker fassbar blieb. Ausdrücklich heißt es von der alt­heidnisch-sächsischen Irminsul, es han­dele sich bei ihr um die Allstütze, die sinnbildliche Weltstütze (Annales regni Francorum, 772) und nicht um den „Lebensbaum“.
 
Manche Unver­drossenen argumentieren nun aber, es könne sich beim Externstein-Baum vielleicht um den auch in germanischer Mythologie nicht unbekannten Welten­baum (Yggdrasil) handeln. Er wird in den isländischen Edda-Schriften als Esche, im Kanon der Ru­nenbegriffe und der Religionsfor­schung als Eibe beschrieben. Keinem nüchternen Beobachter kann es entgangen sein, dass das umstrit­tene Pflan­zengebilde im Externstein-Christusbild zwar exakt den semitischen Dattel­palm-Darstel­lungen aber weder einer Esche, einer Eiche oder Eibe, auch nur im entferntesten, äh­nelt. Wie es nun dazu kommt, dass angesichts dieser Durchleuchtung der Faktenlage manche Diskutan­ten trotzdem diesen eindeu­tig über­holten, irrationalen Standpunkt beibehalten möchten,  bleibt absolut unverständlich.
 
Es wuchs in der Realität Nordeuropas zu keiner Zeit eine Pflanze, die die Bezeichnung „Lebens­baum“ (Baum der das Überleben garantiert) verdient hätte, und ebensowenig kann es solch einen Baum in nordischer Mythologie ge­ge­ben haben. Anders verhielt es sich bei den Stadtstaaten Vorderasiens. Sie lebten in hohen Maße von den kalorienreichen, schmackhaften, haltbaren Früchten der Dattelpalme und verehr­ten des­halb diesen auch optisch dominanten „Lebensbaum/Königsbaum/Gottesbaum“.
 
Zwischen der gebogenen Externstein-Dattelpalme und der altsächsischen Irminsul/Allsäule steht eine Welt unterschiedlichster Begrifflichkeiten. Das eine ist ein biegsamer Baum, das andere eine Säule, die zwar zu brechen, aber nicht zu biegen wäre ! Nun verhält es sich keineswegs so, dass uns, nachdem sich das Externsteinrelief als irreführender Wegweiser erwiesen hat, das Aussehen der wahren altdeutschen Irminsul unbekannt bleiben müsste. Eine Fülle von Darstellungen, so­wohl ger­manisch-heidnischer Originalzeugnisse wie auch von bewusst ungenau gehaltenen und ver­fälschten Sekun­därabbildungen aus christlichem Kunstschaffen klären uns zur Genüge über das Urbild der Ir­min­sul auf. Die Entstehungsgeschichte mancher dieser Zeugnisse ist unklar und ge­heimnisvoll, man­che scheinen aus der Zeit vor dem radikalen romkirchlichen Umorganisator Boni­fatius herzu­rühren, als die iro-schottische Mission noch ein Christentum anstrebte, welches keinen Bruch, son­dern ein Zusammenwachsen von Alt­heidentum und neuzeitlich-christoidem Gedan­kengut an­strebte. Das von einem zwar verständli­chen, aber doch unwissenschaftlichen Wunschdenken aus­gelöste, einseitig sture Starren auf das vermeindliche Irminsul-Abbild vom Ex­ternstein, hindert das deutsche Heiden­tum seit ca. siebzig Jahren, sich um die Erforschung der authentischen Irminsulgestalt zu bemühen.
 
Es ist mir bereits auf der Forschungsreise von 1983 möglich geworden, im südwestschwedischen Bohuslän das ca. 3.500 Jahre alte bronzezeitliche Felsbild von Kasen aufzuspüren, welches die nor­dische Kult­säule mit einem davor vollzogenen Stieropfer zeigt (s. DGG 4/86). Es lassen sich zwei grund­sätzliche Strukturmerkmale der germanischen Weltsäulen (oder Sonnenspiralsäulen) unter­schei­den: 1. Die senkrechte Stütze als symbolischer Himmelsträger. 2. Entweder die First­gabelung, als Halteelement in unter­schiedlichen Ausführungen, ohne oder mit darüber befind­licher Doppel­spi­rale, dem Sinn­bild des jährlichen Sonnenlaufes. Die Doppelspirale, nach oben oder unten ge­wendelt, kann eine unter­schiedliche Anzahl von Windungen besitzen. Zuweilen schwingen sich die Wurmlagen aus den beiden Haltestreben hervor, oder die gegenläufigen Spi­ralen liegen wie ein Dach der Allstütze auf. Eine der vielen originalen, in Sachsen ent­wendeten Irminsulen aus karlingi­scher Zeit, wurde von den triumphierenden Mönchen dazu verdammt, unter der Erde als Krypta-Tragesäule die Micha­elska­pelle in Fulda zu stützen; eine zweite befin­det sich im dortigen Dommu­seum.
 
Eine der schönsten Irminsul-Ab­bildungen befindet sich im Eingangs-Bogen­feld der unscheinba­ren sächsischen Landkir­che von Grebehna, nordwestlich von Leipzig (s. Abb.). Hier erscheint sie, die Sonnen-Spiralsäule, wie sie sich aus einer Reihe nachweisbarer Vorläufer in der schon bronze­zeitlichen nordischen Sakral­kunst entwic­kelt haben könnte. Während es kaum denkbar ist, dass eine wirkliche Nachbil­dung der altgläubigen All­säule/Irminsul im sächsisch-christlichen Macht- und Missionsbereich des Klosters Corvey - am Extern­stein - der Nach­welt erhalten worden wäre, könnte im damals abseits liegenden Raum von Leipzig tatsächlich eine echte heidnische Darstel­lung auf uns gekommen sein. Die Dorfkir­che zu Grebehna wurde 1180 im Zuge einer regen Bautätigkeit, auch in der gesamten Region Halle und Merseburg, errich­tet. Man geht davon aus, dass die Ritter von Grebehna und Zwochau einen gro­ßen Einfluss auf die Erbau­ung des ur­sprünglich turmlosen Gebäudes gehabt haben. Die Architekten, Maurer und Zimmerleute, die sich an den dortigen Bautätigkeiten beteiligten, wa­ren in der Regel Privatpersonen, nur in den seltensten Fällen Mönche. Dieser Um­stand ist befähigt zu erklären, warum jenes einzigartig ge­naue Irminsul­bildnis hier ent­stehen konnte. Es deutet exakt nach Norden, der Himmelsgegend die im damaligen Verständnis als „Heiden-Richtung“. Aber auch die Allsäule-Ir­minsul selbst wurde vom altgläubigen Mythos im hohen Norden un­ter dem Nordstern beschrie­ben.