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Langzeile der Gallehus-Runenhorns: „ek hlewagastiR holtijaR horna tawido
 
ODI-WATA - ODI-WALA
 
Nach meinen voranstehenden Erörterungen, Darlegungen und Nachweisen sind zwei Erkenntnisse als unumstößlich zu bewerten: 1.) Die germanischen Runen können von keinem der älteren Alphabetsystemen - phönizischen, iberischen, alpenländischen - abgeleitet worden sein; alle diesbezüglichen Erklärungsversuche wurden in dem Augenblick obsolet, an dem der Nachweis gelungen ist, dass sie primär einen luni-solar-kalendarischen Charakter haben. Reine Alphabete sind ableitbar aus vorbestehenden Buchstabenordnungen, aber ein aus diversen Buchstaben und Heilszeichen zusammengebauter Mond-Sonnen-Kalender kann nicht als abgeleitet bezeichnet werden. 2.) In ihrer ursprünglich rechtsbeginnenden linksläufigen Leseart wurden sie als eine sakral-kalendarische Festfolge-Kodierung geschaffen. Damit steht ihre Grundleserichtung von rechts nach links fest. Allein in rechtsbeginnender Weise sind sie als rechtens bzw. legitim verstanden worden, ihr Gotteslied zu singen, denn das Linke galt zu allen Zeiten und in sämtlichen Kulturen als das Nachgeordnete, als das Zweite, auch als das Geheimnisvolle, das Kryptische, das Verborgene. Vielleicht in dem Sinne wie die Hauptarbeits- und Schwerthand die Rechte ist, aber die Linke mit ihrem Schildarm und dem verborgenen Lebenszentrum des Herzens zwar zweitrangig erscheint, jedoch bei ganzheitliche Betrachtung nicht weniger wichtig und wert sein kann. Nur bei rechtsbeginnender Durchnummerierung der 24er Runenreihe passen die zahlenmythologischen Zuordnungen zum Sinn des Stabes, wie er sich im zugehörigen Runenbegriff und seinem festen Mond-Sonnenjahres-Kalenderort zu erkennen gibt. Aber sekundäre links-beginnenden also rechtsläufige Leseart war auch im Gebrauch, nach welchen Regeln die eine oder die andere bevorzugt worden sein könnte, entzieht sich bislang unserer Einsicht. Am 16. April 413 ereignete sich in der Gegend von Gallehus in Südjütland eine totale Sonnenfinsternis. Die zwei dort gefundenen goldenen Hörner zeigen die ikonographische Konstellation der Gestirne während des Ereignisses. (Willy Hartner, „Die Goldhörner von Gallehus“, 1969) Die runische Langzeile des Gallehus-Horns, des Wortlauts „ek hlewagastiR holtijaR horna tawido“, scheint im Wesentlichen rechtsläufig ausgetüftelt zu sein, aber linksläufige Anklänge waren darin sehr wohl auch zu finden. Ob von zufälliger oder durchdachter Art können wir kaum beurteilen -, entgangen sind sie dem gedankenstarken Zwerg Hlewagast mit Sicherheit nicht.
 
Zumindest einen rechts-beginnenden Leseanteil der Runenzeile hat der Schöpfer ganz bewusst eingebaut, nämlich den rechtsläufig letzten: tawido (germ. „machen / wirken“). Er wollte ersichtlich auch diese Runenzeile des Goldhornes im ur-echten Sinne weihen, indem er sie so mit der heiligen „DO“-Silbe enden lässt, wie die heilige Reihe korrekt zu enden hat, eben mit dem Begriff „DO“, welcher linksläufig als „OD“ zu lesen ist. Aus dem Wort „tawido“ wird dann in der Wendung ein „odiwat, aus dem nur zu deutlich das „Odi-Wasser“ bzw. „Odi-Trunk“ zu lesen wäre: germ. N „wata / watam“ = Wasser / Trunk. Sechs Stäbe gebraucht der meisterliche Hlewagast für das letzte Langzeilen-Wort „tawido“ und hat damit auch dem zahlenmythischen Grundkanon der 24-er Hl. Reihe Genüge getan, ist doch die Quersumme und Seelenzahl von 24 = 6. Die Kosmos-6 aber besteht inhaltlich - kosmogonisch verstanden - aus 1+2+3. Unter dem Anspruch der Korrektheit würde aber an dem „wat“-Begriff für „Wasser / Trunk“ noch ein „a“ fehlen, um es zum „wata“ zu vervollkommnen. Das bewerkstelligte der Meister durch das Anhängen eines zweiten Ärmchens linksseitig an den letzten Buchstaben des Wortes, also die „t“-Rune. Der letzte Stab ist demnach zunächst als „t“ und dann abschließend als linksläufig „a“ zu deuten-, was veranschaulicht wurde durch die Ärmchenanhängung zur Rechten, folglich nach Links zeigend. Die Addition und Quersumme von „odiwata“ = 84 = 12 = Gottes-3 -, ebenso wie die Addition aller 24 Runen 300 bzw. 3 ergibt. 
 
Recht besehen, rundet das rechtsläufig letzte Wort „tawido“, linksläufig als „odiwata“ gelesen, den gesamten rechtsläufigen Runensatz „Ich der rühmliche Hainpriester machte das Waldvater-Horn“ erst ab. Oder treffender ausgedrückt: dieses linksläufige Wort stellt erst die echte Satzaussage dar. Denn, dass der kleine Mathematiker, Runenkünstler und Kunstschmied die beiden weltwunderlichen Goldhörner schuf, es bekundet nichts als die Ruhmverkündung eines Könners, es besagt zu wenig für die Allgemeinheit, für die gläubige Gemeinde und die noch abseits Stehenden. Wo wäre der Hinweis auf die Nutzanwendung der Schöpfung geblieben ?! Wo bliebe die deutliche Verkündung der Asen-Religion, wo bliebe die Verkündung des Gottes Od, des Odin und seinem ODING ? Der weise Gnom Hlewagast vergaß über der Genugtuung die ihm sein grandioses Werk selbst schenkte, die Verdeutlichung seiner geistigen Sendung nicht. In dieses letzte und gleichzeitig erste Wort seiner Runenzeile „tawido-odiwata“ legte er seine missionarische Aussage hinein: „Mache den Odi-Trunk“ ! Oder: „Dein Geist trinke aus der Magie meines Hornes die/meine Lehre vom Heiltum des OD !“
 
Im weiteren Nachsinnen über die Runenfolge „tawido-odiwata“ eröffnet sich eine dritte linksläufige Lesevariante: „odiwala. Eine Odi-Wala wäre nach altnordischem Verständnis eine Seherin, Zauberin, Prophetin bzw. Schamanin der Odi- und der ODING-Mystik. Man nannte diese medialen Frauen Völva (altnord „vǫlr“ = Stab) oder Wala. Der Begriff Völva oder Wala meint wörtlich eigentlich „Frau mit Stab / Stabträgerin“. Der Zauberstab galt als ihr Symbol der Macht. Einer der ältesten germanischen Gesänge die die „Edda“ beinhaltet ist die apokalyptische Prophezeiung „Völuspá“ (altnord. „Vǫluspá“), was wörtlich „Weissagung der Völva“ meint. Die Völva heißt hier Heiði (Bedeutung: Artige / Artgerechte). Vermutlich schreibt die Dichterin dieses Götterliedes von ihrer eigenen Rück- und Zukunftsschau. Der altnordische Begriff für die Seherin ist Völva, doch der hier untersuchte Runen-Schriftzug ist aus dem Beginn des 5. Jahrhunderts, wir müssen demnach gemeingerm. Sprachregeln voraussetzen. Weder das „v“ noch der Umlaut „ö“ waren vorhanden. Deshalb verdeutscht der Ton- und Wortkünstler Richard Wagner in seinem „Der Ring des Nibelungen“ die altnord. Völva zur Wala. Das tat er aus gutem Grund. Eine germanische Seherin aus dem Stamm der Semnonen, namens Waluburg, wird auf einer Scherbe von der Nilinsel Elephantine genannt, welche durch den Althistoriker und Philologen Wilhelm Schubart entdeckt und 1917 erstmals wissenschaftlich erklärt wurde. Die Inschrift lautet: „Waluburg, Seherin aus dem Stamm der Se[m]nonen“. Das „m“ fehlt in dem Schriftfund. Die Semnonen galten nach Tacitus („Germania“, 39) als das Zentral- und Stammvolk der elbgermanischen Sueben, mit 100 Gauen an der mittleren Elbe, Oder und Warthe. Im Berliner Raum von Havel und Spree muss der kultische Mittelpunkt der Sueben, ihr Heiliger Fessel-Hain, gelegen haben, in dem die Abgesandten aller germanischen Völker zu bestimmten Festzeiten zusammenfanden. Er ist im Friesacker-Zootzen zu vermuten, einem geschlossenes Waldgebiet im Nordwesten von Brandenburg. Die Semnonin Waluburg diente im 2. Jahrhundert in Ägypten in einem römischen Heerlager, wohl als Begleiterin von zwangsrekrutierten germanischen Legionären. Da der Eintrag Waluburgs der letzte ist nach mehreren Namen römischer und griechisch-ägyptischer Soldaten, wird angenommen, dass die Frau Soldempfängerin in untergeordneten Diensten war. Für den Umstand ihrer Anwesenheit in Ägypten wird daher ursächlich eine Versklavung nach einer Deportation aus Inner-Germanien und Verschickung in afrikanische Militärlager vermutet. Das erste Glied ihres Namens ist „walu“ aus germ. „waluz“ für „Stab“, einem alten indogerm. Wort für „drehen / wenden“. „Walu“ ist Gemeingut in der Germania und belegt durch gotisch „walus“, altnord. „vǫlr“ und neben anderen altfriesisch „walu-bera“ für „Stabträger“. Die betreffende runische Buchstabenfolge auf dem Gallehus-Goldhorn ist, wie wir sahen, „odiwata“. Weil die Binderune „t-a“ auch als Binderune „l-a“ gelesen werden könnte, ist ebenso die eingangs genannte „Odi-Wala“ herauszulesen. Mit einem einzigen Schlüsselwort - noch dazu am schmächtigsten gezeichnet - beschwört der Erilar Hlewagast 1.) das „Machen und Bewirken, 2.) in Absicht der aus der Horn-Botschaft zu trinkenden Odi-Religion“ und er sagt 3. wem er die Verkündung besonders ans Herz legt: der „Wala“, also den Seherinnen, den heidnisch frommen Frauen, die dem Od-Zauber und dem Sinn für Heiliges und Geheimes immer näher standen als das gemeinhin raue männliche Kriegsvolk.
   
 
Gemälde: Wala am Altar