ZEITRAUM DER RUNE
 
Jetzt hat sich das linde Leben gestreckt,
da der MAIBAUM die mächtige Krone reckt,
um durch seinen hehren, heilkräftigen Segen
die Fruchtbarkeit flimmernder Fluren zu regen.
 
Welch barliches Gleichnis das Brauchtum trägt,
wenn es das Spiel um den Maibaum pflegt,
es ist ja der Tanz um den „Baum des Lebens“,
trefflichstes Sinnbild tagtäglichen Strebens.
 
Jener Baum ist gemeint, welcher niemals vergeht,
der als Urbild des Lebens im Kosmos steht,
der die Wurzeln ins wärmende Erdreich gräbt -
und den Wipfel empfangend ins Weltall hebt.
Dies geistige Bild, so behaglich vertraut,
ist in kultische Bäume hineingeschaut.
 
So ungleich die Völker und ihre Spuren,
vomHeiligen Baum“ künden viele Kulturen.
Die Legenden wirken, sie wandern und walten,
sie weben dem Mythos die vielen Gestalten:
 
Von der Tanne, Fichte, Pinie und Eibe,
mit gleichnishaft grünem, grüßendem Leibe,
von der Hoheit der Esche, Birke und Linde,
in denen vortreffliches Heiltum sich finde,
von der prächtigen Palme, der himmelhohen,
der flätigen, nährenden, früchtefrohen,
von der Sykomore und dem Asvattha-Baum
gemahnet der michelige Menschheitstraum.
 
Er raunt von der Eiche des Zeus in Dodona,
er raunt von der Donar-Eiche bei Geismar.
Er raunt von der Iburg, dem Eibenberg,
und desSachsenschlächters“ Zerstörungswerk.
 
Wer da in Verblendung dies Sinnbild zerschlug,
die Schuld an der Blendung der Wahrheit trug.
Wahrheit des Lebens, kein Wahn wird sie zwingen,
kein tumbiger Tor kann sie niederringen;
geblendet erblinden kann wohl das Wissen,
so dass wir die Währung der Wahrheit vermissen.
 
Das urfirne Wissen, die urfirne Wahrung,
den suchenden Seelen die tröstlichste Nahrung,
es wurde von denen blindwütig gewürgt,
die fremdartig-frevelndem Geist sich verbürgt.
 
Sie leisteten lästernde, lastende Lügen,
der Ahnen still tragende Treue zu trügen.
Sie schlugen ein redendes Relief hinein
in die Wand des Weihtums vom Externstein,
das sämtlichen sinnenden Zeiten zeigt,
wie der Lebensbaum sich vor der Lüge neigt;
vor dem „Kreuz des Todes“ und seiner Idee,
die auf Urweistum fiel wie ein Winterschnee.
Doch des Baumes Bild nur konnten sie biegen,
das Leben selbst wird nicht unterliegen !
 
 
Es rufen des Nordens belehrenden Lieder
zum tiefsten Urgrund der Mütter hinnieder,
an die Ufer des Urbornes rätlicher Quelle
zum Ursprung der wissenden, wispelnden Welle.
Dort sagt wohl die warnende Völva wahr,
was weiland in wankender Urzeit geschah.
Es weissagt die sehende Sälde-Sibylle
aus kundiger, klärlicher Kenntnisfülle,
allsichtige Ahnfrau, die Tochter der Erde,
sie rät das Geheimnis vom Stirb-und-Werde.
Sie kündet‘ vom Weltbaum, dem Immergrünen,
dem drei starke Wurzeln als Stützen dienen.
Die eine in gräßlichen Grüften mündet,
wo wüstes Gewürm im Gewürge sich windet.
Da nistet Nidhöggr, der neidische Drachen,
die Zeiten in Hader und Hass zu durchwachen.
Im Wipfel aber, so wonnig, so wahr, -
in der Höhe horstet der Sonnen-Aar.
Der „hasserfüllt Hauende“ dort im Grunde
erhält vom heilenden Himmelslicht Kunde.
Und dass nimmer die Feindschaft fürderhin rastet,
ein Hader-erhaltender Bote hastet.
Ratatosk, das Eichhorn, der „Bohrende Zahn“,
bringt die Lästerreden der Gegner heran;
zwischen Drache und Adler ist dauernder Streit;
nie wird der Weltkreis vom Kriege befreit !
 
Und dies ist des eddischen Mythos Sinn,
einsichtiger Hörer geheimer Gewinn:
„Es stützt sich, was gegeneinander strebt, -
friedsam vereinigtes Sein verlebt.“
 
Es liegt in der Gegensatzspannung nur
die verborgene Einhelligkeit der Natur.
Es währet das  webende Weltengetriebe
durch den Widerpart von Hass und Liebe.
Erkenntnis ist tief da hineingesponnen,
über die Empedokles einstens gesonnen.
 
Wenn der Baum des Lebens die Welt durchsprießt,
seinen Segen in sämtliches Sein ergießt,
seine Reiser und Wurzeln die Räume durchranken,
seinem Wuchs die Wesen ihr Dasein danken,
so stemmt er wie eine Stütze die Welt
und verhindert, dass ihre Schöpfung zerfällt.
 
Drum ähnelt er anderem Säulensymbol,
der Irminsul unter dem Himmels-Pol.
Wie eine Achse zwei Räder verbindet,
so erschien der Weltenbestand begründet.
Ein Stamm strebt empor aus dem Erden-Tale,
hebt hoch sich unter die Himmelsschale.
 
Die beiden Hälften, - das Unten, das Oben,
im Ur-Akt auseinandergehoben,
sie werden auseinander gehalten,
auch durch des lebendigen Baumes Walten.
 
Ein prächtiger Baum, der nie blattlos war,
wuchs am Heidentempel in Uppsala.
Der eddische Baum heißt YGGDRASIL,
ein Name, der erforscht sein will:
Igwja, die Eibe, - drasil heißt Stütze,
wird dies zum nahen Verständnis nütze ?
Jene Eibensäule trägt zweierlei Sinn:
„Todesbaum“ ist sie und „Lebensgewinn“.
Welch magische Macht ist ihr beschert,
grün bleibt sie im Winter, ganz unversehrt.
 
Sie trägt das Leben und bringt den Tod,
zum Zwirn gezwirbelt sind Nutz' und Not.
Das Leben bringt Tod, - der wieder Leben,
wie sich Begriffe verbindend verweben.
 
Gegensatz wird zum äffenden Schein
in Gleichheit von Nichtsein und Wiedersein.
Für die Gottheit sind beide Fäden gerecht,
nur Törichte achten den „Tod“ als “schlecht“.
 
Zum ewigen Ring ist alles gebunden,
bei Gott ist der Gegensatz überwunden.
Doch des Geistes Waage sei ausgewogen,
mit Weltflucht kommt wirbiger Wahnwitz gezogen.
Wer die Yggdrasil einstens zum Sinnbild gemacht,
hat der nicht heraklitisch gedacht ?!
 
Den „Weltenbaum“, den „Baum des Lebens“,
den sucht man im greifbaren Bilde vergebens.
Wer nach ihm fahndet, findet ihn in der Zahl,
wer ihn so erfährt, dem fehlet die Wahl:
 
Zwölf ist Gesamtzahl der Tiu-Kreis-Zeichen,
wo hinauf die Ranken des Baumes reichen.
Wie strahlende Früchte strotzen die Sterne,
in seiner Krone in kosmischer Ferne.
Die Welt war für unsre „platonischen Väter“
gleich dem allumfassenden Dodekaeder.
Doch der tiefeste, teuerste Gedanken
weist schlichte Bilder in ihre Schranken:
 
Feuer mal Wasser, oder drei mal vier, -
das gleicht dem „Adler mal Drache“ hier.
Will sich Geist mit Materie multiplizieren,
muss daraus der Weltenbaum resultieren.
 
Die Zwölf ist aber nicht mehr alsdrei“,
so ist der Geist doch allein dabei,
es gleicht das Gebild‘ einer höchsten Idee
von geistigen Gluten und Weltenweh.
 
Feuer und Wasser, - das Gegensatzpaar,
aus dem heraus sich das Leben gebar,
sie sind wie Adler und Drache so feind, -
und doch laben sie alles Leben vereint.
 
Ein kleiner Schritt nur führt zur Betrachtung,
da droht dem Drachen keine Verachtung.
Da repräsentiert er die rinnende Kraft,
die Lebensfeuchte, - den Lebenssaft.
 
Was da wider und wohl beieinander steht,
damit sich das Rad des Lebens dreht,
ist Ingo/Agni, - Adler, Sonne und Blitz,
er hat in Wärme, Funke und Flamme den Sitz.
 
Er ist die Lebensglut, die alles durchdringt
und den göttlichen Geist dem Lebendigen bringt.
Das zweite All-Leben in der Natur
zeigt in der nährenden Nässe sich nur,
im zeugenden Samen, - im Somatrank,
im Tropfen, der aus der Kelter sprang,
dem Labetrunk von der heilenden Pflanze,
dem Unsterblichkeitskraut im Mondesglanze.
 
Wenn die seligen Toten das Mondlicht trinken,
soll ihnen das ewige Leben winken.
Und die Lichtneige rinnt als Regen herab,
neues Leben lockt sie aus irdischem Grab.
 
Es ergänzt sich das Paar im gewaltigen Ring, -
Agni und Soma wie Yang und Yin.
Nur Namen, Bilder und Gleichnisse schwanken,
zugrunde liegen die gleichen Gedanken,
denn aus Lebens-Feuer mal Lebens-Saft
wird des Lebens-Baumes Lebens-Kraft.
 
Und wer es vermag, der darf es erfassen,
scheint es Dir wirr, so musst Du es lassen:
Soma, der Rauschtrank, ist „Lauch und Lache‘,
ist Mond, Herr des Winters sowie der Drache.
Gleich welche Runenphilosophie man nimmt,
die zahlenmythologische Logik stimmt !
 
Urwüchsige Runenweisen stimmen darein,
am deutlichsten sagt es der „deutsche Reim“.
Wir hören den Sinn seines hehren Halles:
„Yr al bihabet“ - „DIE EIBE IST ALLES“ !
Ein norrönes Lied hehlt deren Hoheit kaum:
„Die Eibe ist der wintergrüneste Baum.“
 
Wodan/Odin, der Geistgott, der „hangatyr“,
am Weltbaum verwundet nach weiser Gebühr,
war in alter Gottschau, so wie es scheint,
mit der Eibe, dem All-Baum, engstens vereint.
 
Doch ein zweites, göttliches Wesen zumal
haust in „ydalir“, heimet im Eibental.
Dort waltet Wulðus - Ullr, - der Ollerus,
doch gleich wie er gedieh, aus welchem Guss,
der „herrlich erhabene“ Herrscher der Eiben,
als tragendster Allgott lohte sein Leiben.
 
Des Lebens- und Weltbaumes Runenbild
erzeigt sich im ziemenden Zeitengefild‘.
Kein Kalenderplatz könnte sinnvoller sein,
das Jahr ist niemals erfüllter vom Schein.
 
In vollester Mond- und Sonnenlichtspende,
Vollmondzeit zum letzten Wadel vor Sommerwende,
Ende Mai da zieret der Baum des Lichtjahres Zinne,
wir erleben des Glanzganges mächtigste Minne.
 
Bis heut‘ blieb der Brauch dieser Zeit gesellt,
werden Maibäume, Mittsommerbäume erstellt.
Auf ragenden Stangen, am Wipfelplatz,
thront der Tannenbüschel, der Eibenersatz.
 
Das Sehen und Sinnen soll er uns leiten,
Segen und Fruchtbarkeit mag er verbreiten.
Ihn schmücken fürtrefflich Farben, Figuren,
wir ahnen, erkennen die deutbaren Spuren.
 
Zwei Hirsche äsen im „Baumesgeäst'“,
zwei Holzpuppen klammern am Stamm sich fest.
Den Mast wollen Männlein + Weiblein erklimmen,
lässt sich ein Sinnzeichen leichter bestimmen ?!
 
Hinauf in die Höhe geht alles Streben,
auf dem Gipfel des Weltbaums lässt es sich leben.
Des sinngrünen Baumes Gebot und Gedeihen
umreigen die Menschen zum „Hohen Maien“.