DAS WEISSE WEIB
 
Die Urzeit-Erde -, trostlos, dumpf -,
nur Wüste, Urwald, See und Sumpf
und Menschenhorden, tierhaft dunkel -,
allein vom Himmel, Stern-Gefunkel.
 
Der lichten Fernen Strahlen-Kranz,
besaß den Hort vom Höhen-Glanz -;
und nur ein kläglich’ Nachverstehen,
gelang dem Mensch’ im Feuer-Drehen.
 
Tagtäglich sah der Sonnen-Geist,
der das Gewürm mit Licht bespeist,
die finsteren Massen dort im Tal,
die hoffnungsarme Tiermensch-Qual.
 
Da rann aus mitgefühltem Schmerz,
ein Tränen-Tropfen niederwärts -;
dem Sonnen-Aug’ im Schöpfungs-Fall,
entsprang ein Tränen-Licht-Kristall.
 
Der Tropfen glitt durch Ätherdünste,
erfuhr des Heil’s geheimste Künste,
und tauchte ein in Urmeer-Wellen,
des Allgebärens emsige Quellen.
 
Kein Licht-Gedanke geht verloren -,
da ward aus dunklem Meer geboren,
ein blanker, himmels-schöner Leib,
das weiße blond-gelockte Weib.
 
Vom Himmel selbst ist es geschenkt,
damit die Sehnsucht - licht-gelenkt -
auf heilige Höhen hin sich wende,
der Sinn der Schöpfung sich vollende.
 
Das schöne Licht ist Gottes Maß,
das einst der Himmel nur besaß -;
es stieg im hellen Weib hernieder,
es spiegelt Himmelsglanz uns wider.
 
Seitdem formt sich auf dunklen Erden,
die Hoffnung auf ein lichtes Werden -,
das Sehnen, sich ans Licht zu binden,
den Weg zum weißen Weib zu finden.
 
Bild: Geburt der Venus von Brenda Burke