DER MAI IST GEKOMMEN
 
Er ist der blanke, unbändige Balder,
des hilfreichen Heiles heller Erhalter.

Jetzt sieht er hernieder aus seligen Höhen,
aus Wiesen lässt er sein Wesen erstehen.
Dort schlägt er unzählige Augen auf,
er schaut zum himmlischen Spiegel hinauf.

Er sucht seines Geistes Ebengebilde,
des maidlichen Maien mächtige Milde,
des blauen Blinkens flimmernde Flut,
des glastenden Glanzes minnigen Mut.
 
Da kommen durch weite, wonnige Wogen
die schimmernden Boten Balders gezogen.
Im weißen, schwingenden Schwanengefieder
erlebt sich die Gottheit am Himmel wieder.
 
All die Federn, die vielmals hinniedersanken,
umhegen die Herzen als heile Gedanken.
Jedes weise Wort, jeder rechte Rat,
jede helfende Hand, jede treue Tat,
sind ein liebender Ton in Balders Lied,
das machtvoll-fröhlich den Frühling durchzieht.
 
Die Hirne, die Herzen, in Blüte und Blast,
sie jubelnd und laden den Retter zu Gast;
die ganze Welt wiegt sich im Schwung,
jede Faser fühlt sich so jung, so jung.
 
Der Fruchtbarkeitsbringer braust über Berge,
er schüttelt schlummernden Wachstumszwerge,
tanzt in die träumenden Täler hernieder,
putzt seine Pelze und glättet Gefieder,
trommelt die Pauken, bläst die Schalmeien,
er springt durch gähnende, blinzelnde Reihen.
 
Doch was er da anrührt, lässt sich erwecken,
was er nur ansieht, das will sich recken.
Weich wallende Winde bläh’n seine Gewänder,
am Stößelstab fluttern die farbigen Bänder,
es tropfen ihm Blüten aus wehenden Haaren -
schon summen die Immen, die Süße zu wahren.
 
Da winden sich Wesen aus finsteren Kammern,
sprengen die Lichtsucher fesselnde Klammern;
sie tasten, sie taumeln, sie tappen hinauf -
und das Leben wagt seinen wirbelnden Lauf,
entfaltet die Segel, streckt seine Schwingen,
sich ein in den quirlenden Reigen zu ringen.
Des Werdens Walter weiß sämtliche Wege,
ob prächtige Bahnen, verschlungenste Stege.

Er findet die Faulen und fordert sie vor,
er sprengt jeden Riegel und pochet ans Tor.
Den Burschen straffen sich Sinne und Sehnen,
die Weibchen durchwabert ein wohliges Wähnen.

Tief drinnen spür’n sie den minnigen Meister,
Erreger, Beweger holdseligster Geister.
Da ergreift sie ein schwindelndes Schwanken,
sie winken mit Blicken wie blühende Ranken.

Welch köstliche Künste sind zu verstehen,
mit zitternden Wimpern und wippenden Zehen -
ihre Augen malen gar zärtliche Zeichen,
störende Strenge soll wanken, soll weichen.
 
Nun fasst es die Maiden mit sanfter Macht,
Blumen müssen hinaus in die blühende Pracht.
Und über die Äcker, die Almen, die Auen
flattern die Tücher von fröhlichen Frauen.
 
Und hoch auf die Hügel verlockt es hinauf,
im Frühtau zu Berge, zum steilen Stauf.
Kommt Göttliches nicht von oben gegangen ?
Gut lässt sich das Heil auf den Gipfeln empfangen.

In der minnemächtigsten Maiennacht
erwacht die Balborg zu prangender Pracht.
Wieder ist sie die Perchta, die Blütenbraut,
die der Balder mit seiner Liebe betaut.

Gebrochen der Bann, vorbei das Gebrest,
die Wuchskräfte feiern ihr Liebesfest.

 
PS: Der altdeutsche Gott Baldur (der „Schnelle/Kühne“) ist die Metapher für den Wonnemond -, für alles Holdselige, Feine, für das Gute schlechthin. -- Die Perchta ("Glänzende") bzw. Balborg/Walpurga (Glücksbergerin“ aus ags. wala/wela „Wohl/ Glück/Reichtum) sind Synonyme für die altdeutsche Frühlingsgöttin, die in der ersten Maienacht mit Balder das große Liebesfest feiert.