INGWAR VOR MIKLAGARD
 
Miklagard dämmert im Mittagsglanz,
in weißen Villen herrscht Spiel und Tanz.
Im Staub der Arena jagen die Rosse,
schnellrädiger Bigas bunte Geschosse.
 
Geldleiher Pöibus auf blauem Damast,
mit fettigen Fingern zum Braten fasst.
Hetären tanzen beim Zimbel-Schall,
rot leuchtet der Samos in seinem Kristall.
 
Miklagard ist wie ein marmornes Meer,
mit Schatztresoren vom Golde schwer.
In Häfen schaukelt ein Wald von Masten,
Trieren und Dromen mit köstlichen Lasten.
 
Solcher Reichtum lockte die Rus heran,
Fürst Ingwar befehligt vielhundert Mann.
Stark wie ein Bootsmast ist dieser Bär,
seine Axt misst drei Ellen so ungefähr.
 
Von Känugard rudert die Flotte gen Süd,
kein Rudergeselle der Rus wurd’ müd’.
Der breite Dnepr trägt Kiel, um Kiel,
das Schwarze Meer ist ein lockendes Ziel.
 
Normannen sind hohe, starke Gesellen,
stemmen die Boote um Stromesschnellen,
bald sind sie im Meer und vor Miklagard,
kein Wagnis erschüttert Waräger-Art.
 
Vor endlosen Mauern steht Ingwars Heer,
ein steinerner Wall ist der Griechen Wehr.
Droben, um Zinnen huschen Gestalten;
hofft Ingwar, dass sich die Bürger spalten ?
 
Keine Pforte öffnet sich zum Verrat,
bleibt die Fahrt eine nutzlose Heldentat ?
Der Norden griff weit in den Süden vor,
er schlug seine Fäuste an Miklagards Tor.
 
Hüte dich Ostrom vor Nordlands Griff,
ewiglich schützen nicht Mauern noch Schiff.
Doch ein geistiges Gift wirft die Rus in Fron,
erkannte Byzanz mit der Christen-Mission.
 
Der Warägerfürst Ingwar / Inger / Igor (879-945) war ein Sohn Ruriks, der die Herrschaft über die Kiewer Rus innehatte. Der Name Igor ist eine Variante vom germ. Ingwar mit der Bedeutung „Ingi“, dem Beinamens des Sonnengottes Frō-Freyr und zweitem Wortstamm „Harjaz / Warjaz“ = Krieger / Verteidiger. Rus ist eine Bezeichnung sowohl für Normannen wie für ihr Gebiet in Osteuropa (Ukraine, Weißrussland), das sie „Gardariki“ nannten. Der Rus-Name leitet sich ab aus „roðr“ für „Rudern, Rudermannschaft“. Die Rus, vornehmlich aus schwedischen Stammgebieten herkommend, nannte man auch Waräger.
 
Die nordische Saga-Literatur verwendet der Begriff „Garðr“ (Gehöft / Burgstadt), Kiew hieß „Kænugarðr“, Nowgorod „Hólmgarðr“, Konstantinopel „Miklagarðr (Groß-Stadt). Der Stadtnamen Kiew entstand demzufolge aus Kahn-Stadt (altnord. kæna / köna = Kahn, Boot, Schiff) - Igor unterwarf einheimische Stämme am Dnepr, festigte seine Herrschaft im Raum von Kiew, der heutigen Hauptstadt der Ukraine. Die Stadt war von enorm wichtiger strategischer Bedeutung am Handelsweg der skandinavischen Waräger bzw. Rus zu den griechischen Zentren wie Miklagard bzw. Konstantinopel. Schon die Waräger Askold und Dir hatten im Jahre 866 mit 200 Schiffen Konstantinopel angegriffen.
 
Im Jahr 941 machte sich Fürst Inger-Igor wohl von der „Schiffsstadt“ Känugard (Kiew) mit einer großen Flotte auf den Weg, um Miklagard  (Konstantinopel) zu erobern. Die Wasserstraße des Dnepr führt ins Schwarze Meer, in seinem Unterlauf machten damals noch seine Stromschnellen den Fluss auf einer Länge von um die 70 km unschiffbar. Über diese Strecken mussten die Normannenboote aus dem Wasser geholt und getragen oder über Rollenkonstruktionen vorangebracht werden. Ingwar erreichte Konstantinopel, dessen Name Byzantion ebenso üblich war, vermochte aber die große Stadt mit ihren etwa 300.000 Einwohnern nicht einzunehmen. Deren starke Befestigungswerke galten aufgrund der dreifachen Theodosianischen Mauern lange Zeit als uneinnehmbar und als die stärkste Festung der bekannten Welt. Es handelte sich um ca. 20 Kilometer lange Befestigungsanlagen bestehend aus Land- und Seemauern. Die Zufahrt zum Hafen konnte mit einer gewaltigen Kette versperrt werden. In der Chronik des Johannes Skylitzes aus dem 13. Jahrhundert findet sich eine Beschreibung des Angriffes der Rus und wie durch den Einsatz von Flammenwerfern des „Griechischen Feuers“ das Eindringen in den Hafen 941 verhindert wurde. Es gibt einen zeitgenössischen Bericht, dass gefangene Rus während einer Siegesfeier in der Stadt enthauptet worden sind. Auch der Historiker und Diplomat Luitprand von Cremona erzählt (V., 9.) wohl übertreibend, dass es mehr als 1.000 Schiffe gewesen seien, die durch das „Griechische Feuer“ vernicht worden wären. Der genussüchtige byzantinische Kaiser Romanos II. hatte tüchtige Mariner, wie den General Nikephoros Phokas. Ingers Truppen eroberten und verwüsteten das städtische Umfeld und werden mit reicher Beute zurückgekehrt sein. Sein Unternehmen bewies einmal mehr die Gefährlichkeit der normannischen Rus.
 
Während der Vorbereitungen zu einem neuen Kriegszug kam Inger-Igor 945 ums Leben. Seine Frau Helga (slawisiert zu Olga) regierte zunächst für seinen minderjährigen Sohn Swendoslev I. (slawisiert zu Swjatoslaw I). Swendoslev I. regierte als Großfürst (945-972) die Kiewer Rus. Auf erfolgreichen Eroberungszügen gegen die Wjatitschen und Chasaren dehnte er seine Herrschaft bis zum Don und der Ostküste des Asowschen Meeres aus. Im Westen eroberte er Preslaw, die Hauptstadt der Donaubulgaren.
 
Inger-Igors Frau Helga-Olga ließ 959 beim deutschen König Otto I. nachfragen, ob er ihr einen Missionar schicken könnte, denn sie wollte keine zu enge Abhängigkeit von Byzanz und suchte eine Verbindug zum artnäheren deutschen Westen. Daraufhin kam der Mönch Adalbert als Missionsbischof nach Osten. Schon 962 kehrte er jedoch wieder von den Rus zurück, „denn es war ihm nicht gelungen, das zu erreichen, wozu er ausgesandt worden war, und er sah seine vergeblichen Bemühungen. Auf dem Rückweg wurden einige seiner Begleiter getötet, er selber konnte sich mit großer Mühe retten“, heißt es im diesbezüglichen Bericht. Die Rus wollten nordische Heiden bleiben. Erst Swendoslevs jüngster und unehelicher Sohn, der Rurikide (Nachfahren des Rurik) Wladimir I. (aus Waldemar: „großer, berühmter Herrscher“) - der von 960 bis 1015 lebte - veranlasste in Form von Massentaufen den Übertritt der bis dahin heidnischen Kiewer Rus zum orthodoxen Christianismus byzantinischer Prägung. Damit verloren die Rus ihren unüberbrückbaren Gegensatz zur christlichen Welt und mithin ihre Gefährlichkeit.
 
Gemälde des russischen Malers Boris Olshansky, „Marsch auf Konstantinopel“