ALTERSMORALITÄTEN

So ist's meistens mit den Frauen,
die sich in der Jugend trauen,
wie besessen, ohne Hemmung,
ohne leiseste Verklemmung,

ihren Trieben nachzujagen,
aber dann in alten Tagen
plötzlich die Moral entdecken,
um vor dem zurückzuschrecken,

was sie einstmals oftmals taten,
worum sie die Männer baten,
ihnen selber Freude machte,
ihren Urtrieb froh entfachte.

Spät, nach wilder Lebensreise,
werden manche Damen „weise“,
meistens erst wenn sie ergraut
und kein Kerl nach ihnen schaut;

keiner mehr den Popo zweckt,
wird’s Gebetbuch erst entdeckt,
keiner mehr den Busen packt,
dann erst wird er eingesackt.

Da die Triebe nimmer sprossen,
trägt die Dame hochgeschlossen,
bis zum Halse zugeknöpft -;
und sie gibt sich gern erschöpft.

Rennt dann oft zur Kirche hin,
liest die Bibel „mit Gewinn“,
ist für die Gemeinde tätig,
gibt sich christlich, hochkarätig.

Spricht auch vom Migräneleid -;
jedes Ding hat seine Zeit:
Von den Liebeskummer-Herzen,
bleiben später nur die Schmerzen.

Zum Glücke gibt’s die zweite Sorte,
heute auch an jedem Orte,
die sich ganz natürlich gibt
und bis zum Tode lacht und liebt.

PS: „Tine Knopmager mit Bibel“, 1884, dt. Maler Hans Peter Feddersen (1848-1941)