SEELISCHE HYGIENE
ohne Schuldgefühle
 
Kein halbwegs unbefangener Mensch wird sich schämen, an einer Sehnenzerrung oder einem Herzfehler zu leiden, ebensowenig wird er es unter seiner Würde halten, ein solches Übel behandeln zu lassen -; der Kulturmensch besaß mit Sicherheit zu allen Zeiten ein hohes Maß an hygienischer Vernunft. Nur wenn es um seelische Zerrungen und Verwundungen, um charakterliche Verbiegungen oder Verrenkungen geht, ist die liebe Mitwelt im Allgemeinen bis heute erstaunlich prüde. Als ob es eine Schande wäre, wenn das zarteste aller Organe - die menschliche Seele - im Lebensgedränge Schädigungen davonträgt. Somatische Verletzungen, Entzündungen, Brüche oder Risse, sind im Vergleich zu den seelisch-geistigen Verwundungen oftmals noch das kleinere Übel. Als ob es ein Zeichen von Zimperlichkeit wäre, von Verweichlichung, echte Seelsorge für mindestens ebenso wichtig zu halten wie die Hygiene der äußeren Menschen !
 
Wer in der Welt etwas Ersprießliches ausrichten will, muss zuerst einmal mit sich selbst im Reinen sein; man kann weder recht wirken noch recht kämpfen, wenn man an schlecht verhehlten / verheilten Defekten oder Konflikten leidet, an geheimer Mutlosigkeit oder an offenen oder versteckten Schuldgefühlen. Nun sind wir aber - mit dieser Einsicht beginnt eigentlich erst ein tieferreichendes charakterkundliches Verständnis - durchaus nicht immer mit uns so im Reinen, wie wir es uns glauben machen möchten. Wir werden also gut tun, von Zeit zu Zeit in stillen Stunden, möglichst unbefangen in uns hineinzuhören, um zu prüfen, ob wir seelisch wirklich ganz und gar im Klaren und Reinen, wirklich im besten Sinne des Wortes „in Ordnung“ sind, ob es nicht vielleicht doch mancherlei zu richten und zu schlichten, auszufegen und auszulüften gäbe. Jede Maschine muss von Zeit zu Zeit einmal „überholt“ werden, ebenso auch der innere Mensch !
 
Grundregel sollte dabei sein, dass man sich vor falscher Scham ebenso nachdrücklich zu hüten hat, wie vor falscher Selbstsicherheit. Man wage es, wahr zu sein -, Irrtum Irrtum, Schwäche Schwäche, Unart Unart zu nennen; aber verfalle darüber nicht in den Gegenfehler fruchtloser Selbstzerfleischung und Selbstzerfaserung (Hyperanalysitis), wie sie uns Deutschen von übelwollenden Gegnern und ihren bezahlten oder sich freiwillig in gegnerische Dienste stellenden Selbstbeschmutzern seit Kriegsende aufgeschwätzt wird. Ist es doch eine der wichtigsten Erkenntnisleistungen der Psychologie, dass sie in vollem Umfange klargestellt hat, wie eng Schwäche und übertriebenes Auftrumpfen, Wundheit und Reizbarkeit miteinander verbunden sind.
 
Der wirklich starke Mensch wird immer vernünftig sachlich handeln, wird nicht eitel triumphieren, wenn ihm etwas gelingt, aber auch nicht gleich in Verzweiflung zusammenbrechen, wenn ihm etwas daneben geriet. Aus Niederlagen zu lernen und sich unter keinen Umständen den Mut rauben zu lassen, das nächste Mal es besser zu machen -, das ist die einzige Haltung gegenüber dem Misserfolg, die eines reifen Menschen würdig ist. Nicht der hat die bessere Aussicht auf wirklich haltbaren Dauererfolg, der sich über jede ernstliche Selbstprüfung erhaben dünkt. Es zeugt von viel tieferer Lebensklugheit, von viel gesünderer innerer Spannkraft und Zähigkeit, wenn ein Mensch immer wieder an sich  selbst arbeitet, wenn er gerade seine Fehlschläge zum Anlass neuen Lernens und Umlernens nimmt ! Man wende nicht ein, eine solche gelegentliche „Überholung“ des inneren Menschen sei unmännlich. Ein erfahrener Seelenkenner und Seelsorger wie Meister Eckehart hat den charakterkundlich höchst modernen Satz ausgesprochen: „Der Mensch würde wahrlich reich an Tüchtigkeit, wenn er sich prüfte, an welcher Stelle seine größte Schwäche läge, auf dass er hier besserte und seinen Fleiß daran kehrte, dies zu überwinden.“ Mir erscheint es, als sei einer der Hauptfehler der Deutschen ihre mangelnde Eigenliebe. „Nimm Dich wichtiger als andere Dinge !“, müsste man dem heutigen Mitmenschen zurufen, und: „Nimm Dich ernst, sei besorgt um Dich, siehe wie krank Du in Deiner Seele geworden bist, heile Dich !“
 
Gesetzt den gar nicht so abnormalen Fall in Deutschland, jemand schleppe von Kindesbeinen an irgend eine geheime Verstörung und Entmutigung mit sich herum, einen wunden Punkt seines Selbstwertgefühls und Lebensvertrauens, einen immer wieder aufflammenden Groll und Eigengroll (z.B. „Antigermanismus“, „Antisemitismus“) oder ein nagendes Schuldgefühl („Ausbeutung der Dritten-Welt“, „Kriegsschuld“). Oder harte Schicksalsschläge haben seinem Wesen einen Knick, eine „Delle“ gegeben. Was ist hier das Klügere, hygienisch Vernünftigere, wenn er den brandigen Fleck nicht nur vor anderen vertuscht, eine Unmenge Kraft verbraucht, nur um die immer wieder spürbaren Wirkungen seines verborgenen Gebrechens wett zu machen und schließlich doch bemerken müsste, dass sich in seelischen Problemstellungen auf Dauer nichts vertuschen lässt -, oder, wenn er dem guten Rat des Meister Eckehart folgt und ohne falsche Scham alle Hilfsmittel echter Seelenpflege dazu benutzt, um den heimlichen-unheimlichen Schaden auszuheilen ? Die Antwort versteht sich von selbst, für jeden, der auch nur eine blasse Ahnung empfing, von der abgründigen Tiefe geheimer Verstörungen und von Gesundheit bringenden Wirkungen durchgreifender charaterkundlicher Befreiungsarbeit.
 
Der Erfolg ist an eine Hauptbedingung geknüpft, die alle anderen Voraussetzungen einschließt: Man sei rückhaltslos ehrlich vor sich selbst, man habe den Mut, bis auf den Grund zu gehen und sich so zu erblicken, wie man wahrhaft ist. Die Einsichten, zu denen man dabei gelangt, mögen sicherlich nicht immer bequem, sie mögen unter Umständen erschütternd sein, aber diese Erschütterungen sind gewiss heilsamer als jener faule Frieden eines fragwürdigen Selbstbetruges.
 
Man wird beträchtlich über sich und manche Scheinwahrheiten umzulernen haben, manches allzu günstige Urteil als Vorurteil berichtigen müssen und manchen Pflock umstecken, um ihn weiter nach rechts bzw. zum rechten Lot hin zu korrigieren. Aber man wird bald erkennen, dass die Verarmung, in die man dabei zu geraten befürchtet, in Wirklichkeit eine Bereicherung sein wird, dass man nun erst festere Planken unter die Füße bekommt. Man wird auf's Neue die alte Erfahrung bestätigt finden, dass es nichts Beglückenderes gibt als echte Selbstbeschränkung und Selbstvertiefung und wir erkennen, dass wieder einmal Altmeister J.W. Goethe eine der wichtigsten seelenkundlichen Einsichten vorweggenommen hat, mit dem bedenkenswerten Lehrsatz: „Die schönste Heimkehr ist jene zu sich selbst !