Die Deutung der berühmtesten Edda-Zahl
Wie lautete nun eigentlich die ODING-/ Asen-Lehre zusammengefasst ?: sie ruft unzweideutig auf zu einem tapferen Leben im Dienste Wodins. Wer die Gefährdungen, die vielfältigen irdischen Nöte bezwingt, die Anfeindungen, die notwendigen Lebenskämpfe, die Prüfungen besteht, der geht ein in Gimles „dritten Himmel“ der dauernden Seligkeit (Gylf. 3 u. 51), unerreichbar für alles Niedere, Unholde. Wer sich jedoch für den schweren Weg des reinen Kriegers entschieden hat, und diesem Weg der Treue für das Rechte und Göttliche unbeirrbar bis zum Preis seines Kampftodes für Wodin zu folgen vermag, wird die Freuden Walhalls = „jenseitige Halle gefallener Kämpfer“ erleben. Was steht darüber geschrieben ?
Die bedeutsamste Zahlenangabe in unserem nordischen Weisheitsbuch „Edda“ findet sich im „Grimnismål“, dem Grimnislied Vers 23. Da heißt es verdeutscht:
Fünfmalhundert(zwanzig) Tore und vierzig dazu sind in Walhalls weitem Bau; achtmalhundert(zwanzig) Einherier gehen aus einem Tor, wenn sie auszieh'n, zu wehren dem Wolf. 1)
Der mythologische Sinn dieser Strophe scheint unmissverständlich. Räumliche Gegebenheiten Walhalls werden hier beschrieben. Wir erhalten Angaben über die Bauweise der jenseitigen Totenhalle seliger Geister. Und es ist zu erfahren, dass aus einem jeden der himmlischen Tore 8 x 100/120 Lichtritterseelen heraustreten werden, um den Endkampf gegen die wölfischen Finsternis- und Chaosmächte auszufechten.
Wieviele Tore Walhall aufweist, gibt die erste altnordische Strophe an: „Fimm hundruð dura - oc um fiórom togom.“ Die Deutung schien bei lässiger Übersetzung problemlos: „Fünfhundert Tore und vierzig dazu.“ Also 540 Tore sollen es sein. Multipliziert man diese Walhall-Zahl mit den 800 Einheriern, entsteht die Zahl 432.000. Eine Zahl, welche auf babylonischen Rechentafeln aus Nippur schon ca. 2000 v.0 erscheint. Nach der Lehre Altindiens sind 432.000 Jahre eine Weltalter-Epoche. Schon F. Magnusen, 1821, hatte für diese Edda-Zahl orientalische Vorbilder vermutet. F.R. Schröder, 1924, aber insbesondere der geniale O.S. Reuter, der so viele Erkenntnisse über unser germanisches Altertum vermittelte 2), versuchten das Verständnis zu vertiefen.
Doch 432.000 galt, wo immer wir die Zahl antreffen, als Zeiteinheit; ausgenommen der Bericht im eranischen Bundahis (II, 11), dass Ahura Mazda 15 x 432.000 kleine Sterne geschaffen habe, sowie die Angabe von der Anzahl der Silben des Veda, wenn nicht auch hier die Idee ausschlaggebend war, den Ewigkeitscharakter der Sternenwelt bzw. des heiligen Buches herauszukehren. So ergibt die Multiplikation 4320 x 6 = 25920, das „Platonische Jahr“, also den durch die Präzession bedingten Zeitraum, welchen der Frühlingspunkt benötigt, einmal durch die gesamte Ekliptik von 360° zu wandern. Im Prinzip wäre es durchaus möglich, dass die von der Edda vorgestellte Walhalla-Zahl aus solchen orientalischen Anleihen entstanden sein könnte oder aus einem gemeinarischen Urwissen herrührt.
Ein schwerwiegender Einwand lässt indes den gesamten Fragenkomplex in anderem Licht erscheinen. Es ergeben sich völlig neue Zahlenverhältnisse, wenn wir sprachwissenschaftliche Strenge walten lassen. Hätte der Autor der betreffenden Edda-Strophe wirklich allein die Zahl 100 nach dem Zehnersystem gemeint, so hätte er entweder „tio tiger“ oder „hundruð tirott“ geschrieben. Er gebrauchte jedoch die Bezeichnung „hundruð“, die für das Großhundert von 120 Einheiten üblich war. 3) Schon der nicht unmaßgebliche Hugo Gering interpretierte in diesem Sinne (Komm. I, 1927, S. 196). Der ältere Wortgebrauch ging von 120 Einheiten aus, der jüngere, wie auch im heutigen Island, von 100. Wollen wir das „Grimnismål“ als eine eher urtümliche Dichtung verstehen, müssen wir mit den Angaben von 120er Werten zurechtkommen.
Wir wollen den Versuch wagen, unter Zugrundelegung der korrekten Übersetzung einen mythischen Sinn jener nun sich ergebenden Zahlenverhältnisse zu ergründen. Die Walhalla-Zahl errechnet sich also: 5 x 120 = 600 und 40 dazu = 640. Und schon erhalten wir ein sehr viel sinnvolleres Ergebnis. Die erscheinende 64 ist eine hochbedeutsame Raumzahl, nämlich der Kubikwert der Grundordnungszahl Vier; 4 x 4 x 4 = 64.
Die Quersumme von 64 ist 1, d.h. es handelt sich um den Gottesraum schlechthin, denn 1 galt nicht eigentlich als Zahl, sondern als Ursprung, als Geberin, Anfang und Fundament aller folgenden Zahlen. Diese Meinung vertraten die Pythagoräer, ebenso wie Euklit, bis hin zu den Mystikern des Mittelalters und beispielsweise dem deutschen Rechenmeister Köbel, 1537. Somit erklärt sich die geheimnisvolle Walhalla-Zahl als Metapher für das göttliche Urwesen und den göttlichen Urraum schlechthin.
64 Felder besitzt das aus Altindien stammende Schachspiel, das den ewigen Wettkampf zwischen Schwarz und Weiß, den Kräften des Lichtes und jenen der Finsternis, symbolisieren soll. Auch die Gesänge des Rigveda, die das gesamte heilige Wissen Altindiens in sich vereinigen, führen den Namen „Die Vierundsechzig“. Das aus 64 Hexagrammen aufgebaute „I-Ging“ der Chinesen ist fähig, die vielfältigen Erscheinungsformen der Welt und der Zeit symbolhaft einzufangen. Es handelt sich um eine rein zeichenhafte Beschreibung des Universums.
Angesichts solcher Entsprechungen bzw. Seitenstücke aus der Geistigkeit anderer alter Kulturen, erscheint die spätgermanische Walhalla-Zahl 640 sehr verständlich. Sie verkündet unüberhörbar die Bedeutung der Achtzahl, ist sie doch das Produkt aus 8 x 80. Diese Sinngebung wird verstärkt durch die „atta hundruð“ (8 x 120) für den Endkampf gegen die wölfischen Chaosmächte aus jedem Tor hervorgehenden Einherier. Da die Zahl der streitbaren Lichtseelen, wie gezeigt, ebenfalls mit „atta hundruð“ angegeben ist, handelt es sich um 8 x 120 = 960 Geistwesen, die aus jedem der 640 Walhallatore ausziehen. 96 ist, ebenso wie 64, eine Vielfache der altheiligen Gotteszahl 8, welche im gemeingermanischen ODiNG-Runensystem den indogermanischen Himmelsgott Tiu/Tyr () symbolisiert. Er galt als Herr des Raumes und musste folgerichtig auch durch das zweite Runenzeichen, die Doppelaxt-Rune (), versinnbildlicht werden, welche zur ersten Raumzahl hinführt: 2 x 2 x 2 = 8 ().
Nicht allein bei den Pythagoräern galt die 8 als die Zahl des vollen Körpers, der Himmelsharmonie und der Gerechtigkeit. Für die „beträchtliche Rolle“ der „Achtzahl in Runenkunst und Runenmagie“ vermochte auch W. Lange keine einleuchtende Erklärung anzubieten und stellte deshalb fest: „Die relative Häufigkeit und das Gewicht der Zahl muss also aus anderem Ursprung zu erklären sein.“ Die ODiNG-Runenerklärung hat auch diese Frage beantwortet. Die Bedeutung der 12 als Kosmos-Chiffre und Tyrkreisbilder- bzw. Ekliptikzahl ist bekannt. Folgerichtig weist die Runenphilosophie die 12 als Weltenbaum-/Eibenbaum-Ideogramm () aus. Die runischen Zahlenzuordnungen des ODiNG-Systems sind nicht zum Verwundern, sondern bestätigen überraschend genau lang vermutete Zusammenhänge zwischen Zahl und Gottheit, geradeso wie es Plutarch von den Pythagoräern berichtete: „Sie beehren Zahlen und Figuren mit den Namen von Gottheiten.“ (Iside et osiride c 76).
Doch schon indische und ägyptische Kultsysteme beruhten auf der Achtzahl. Der ägyptische Geistgott Thot wurde „Herr der Acht“ genannt. Seine Gestalt des Heil- und Wissensspenders könnte im Griechen-, Römer- und Germanentum die Wesenheiten des Hermes, des Merkur, des Wodan mitbeeinflusst haben. Auch Wodan galt als Herr des achtbeinigen Weltenrosses. Die altheidnische Vorstellung, dass die Heroenseelen in die vergöttlichende hochgeachtete Achtheit, besser 8 x Achtheit, verklärt würden, übernahm selbst der späte Christianismus, sagte doch der belesene Kirchenlehrer Clemens aus Alexandrien: „Jene, die Christus wieder zum Leben gebiert, die werden in die Achtheit versetzt !“, d.h. in den geistigen Kosmos, den allumfassenden für den Menschengeist aber letztlich unfassbaren Gottesraum.
Dass sich die ewige dreiwesige Gottheit („welche war, ist und sein wird“) in Gestalt ihrer Achtheit dreimal in das System der 24 kosmischen „Runenbausteine“ eingliedert - im Altisländischen „aettir“ genannt -, bedeutet uns heute nicht mehr als nur Spielerei. Für die alten zahlenmythologisierenden Theosophen galt dies hingegen als Offenbarung göttlicher Harmonie. Ebenso, dass die Quersumme von 24 wieder die Kosmoszahl 6 ergibt, die arithmetische Summe der 6 aber 21, mit Quersumme 3, und die Addition der Gesamtheit von 24 Runen als Quersummenwert wiederum die 3 präsentiert, das mutete wie eine zahlenmäßige Gottesoffenbarung an. Die arithmetische Addition der 21, mit Ergebnis 231, weist die ersten drei Zahlen auf, wieder mit Quersumme 6. Solche Zahlensprache macht ohne weiteres klar, warum der Ase Wodan, die Weltseele, der heilige Gottesgeist schlechthin, im Runensystem mit der Zahl 21 () markiert wurde. Er erscheint gleichzeitig als Einundzwanziger, als Herr der Achtheit und der Kosmos-Sechs und stellt selbst eine Gottestriade dar (21 = 2 + 1 = 3).
Die Einherierzahl 960 bzw. 96 ergibt sich aus 3 x 32. Man darf dabei an die 32 Spielkarten denken, die so weit verbreitet sind, oder an die Anzahl der Schachfiguren. Zwei Scharen, bestehend aus jeweils 16 Kämpfern, stehen sich hier gegenüber. Ein für den apokalyptischen Endkampf bereitstehendes Einherier-Heer, bestehend aus 60 x 16 = 960 Glanzseelen, müsste nach mythischer Logik altgläubigen Denkens als eine unüberwindliche Macht gelten. Insbesondere auch deshalb, weil die letzte Quersumme bzw. Kernzahl von 960 wiederum 6 ist (9+6=15 = 1+5 = 6).
Nun heißt es aber, dass aus jedem einzelnen der 640 Tore Walhalls 960 Gottesstreiter dem Weltenwolf entgegentreten werden. Das wären 640 x 960 = 614.400 gute Geister; diese Menge ergibt in der Quersumme ebenfalls 6 (6+1+4+4 = 15 = 1+5 = 6). Die Frage erhebt sich: Welche mythisch-symbolische Aussage liegt in der Zahl 614.400 bzw. 6144 verschlüsselt ?
In Anbetracht vergleichbarer religionshistorischer Anschauungen ist unzweifelhaft, dass die Seelengesamtheit der Gottesstreiter mit ihrer Gottheit weitestgehend identifiziert wurden. Unter Zugrundelegung einer reifen, ethischen Hochreligion - und eine solche darf entsprechend der Quellenlage für die urgermanische Gesellschaft in Rechnung gesetzt werden - galten die lichtgeistigen Einherier als Erscheinungsformen bzw. Teilwesenheiten des Lichtstreiter-Gottes selbst; sie waren gewissermaßen die Funken des großen, guten Geistfeuers, welches gegen die Finsternismächte auflodern sollte. Jeder irdische Held, beseelt vom göttlichen Glanzhauch, wurde im Tode zu einem Lichtalfen, zu einem Asen, zu einem „Licht des Heils“. Seine Lebenskraft floss mit dem irdischen Ableben zurück zur Urpotenz der jenseitigen guten feurigen Weltseele; - so lautete die große erhebende Glaubenshoffnung.
Es gibt eine Erklärungstheorie, mittels der wir die Gedankengänge des Schöpfers der Edda-Strophe im „Grimnismål“ 23 nachvollziehen und damit seine Einherierzahl von 614.400 möglicherweise enträtseln können. Erschien diese Zahl vielleicht deshalb so hochbedeutsam, weil sie zum einen die Quersumme 6 trägt, gleichzeitig aber die Vielfache der wichtigsten mythischen Zahlen darstellt ? Sie ist durch 2, 3, 4, 6, 8, 12, 16, 24 teilbar; sie besitzt also 8 Divisoren innerhalb des (auch runischen) Systems der 24 heiligen Zahlen.
Die 24 bzw. 6 sind zu begreifen als Schlüsselzahlen der germanischen Gotterkenntnis. Jeder Spielwürfel, wie sie auch in germanischen Gräbern der Völkerwanderungszeit gefunden wurden, besitzt bekanntlich 6 Seiten. Das auf dem wikingerzeitlichen Gokstad-Schiff abgelegte Spielbrett trug bei Rekonstruktion nach quadratischer Symmetrie auf 13 x 13 = 169 Quadrateinteilungen 24 durch Verzierungen herausgehobene Spielfelder, ebenso das auf der Rückseite aufgetragene Mühlespiel, welches bekanntlich 24 Spielpunkte besitzt. Alle diese Spiele entstanden zweifellos aus mystisch-mythischen, rituellen oder divinatorischen Urgründen und dienten auch ebensolchen Zwecken. Die 2-Parteien-Spiele erwuchsen aus den Vorbildern religiöser Ideen eines Weltverständnisses vom Kampf zwischen Weiß und Schwarz, zwischen „Gut und Böse“, - Geist und Materie.
Bei unserem Bemühen, das antike Zahlendenken nachzuempfinden, ist zu beachten, dass die Alten mit den einzelnen Zahlen zwar bestimmte Ideenbilder verknüpften, dass aber das Erlebnis der Zahlen doch nicht ausschließlich und hauptsächlich vom Symbolwert einzelner Zahlen bestimmt war, sondern vom Verhältnis der Zahlen zueinander und der vernetzten Bezüge untereinander. Das war es, was die hervorragende Bedeutung der pythagoreischen Zahlensystematik ausmachte: mittels Zahlensysteme die Welt der Erscheinungen zu erklären und durch Nutzung solcher Hilfsmittel hochzuschließen auf das Transzendente, Jenseitige, Göttliche, also den Weltlogos erfassbar zu machen. Den heidnischen Gottsuchern waren diese Zahlenkräfte eine unbezweifelbare geistige Erfahrung. So ist es von den Griechen bezeugt und seit den Forschungsergebnissen Prof. Klingenbergs auch gesichert, dass die germanischen Runenmystiker den gleichen Weg gegangen sind. 4)
Die pythagoreischen Zahlenmystiker rechneten auch mit der Summe der Teiler, um Zahlenverwandtschaften, auch „Zahlenfreundschaften“ (griech. philoi arithmoi) genannt, herauszufinden. Die 1 als Teiler wurde dabei mitgerechnet. Die Teiler von 6144 sind: 1, 2, 3, 4 , 6, 8, 12, 16, 24, 32, 48, 64, 96, 128, 192, 256, 384, 512, 768, 1024, 1536, 2048 und 3072. Die Summe dieser Teiler ergibt nun eine interessante Zahlenfolge, nämlich: 10236 mit Quersumme 12 bzw. 3. In der Sprache der Zahlenmystik heißt das noch exakter, als es die Quersumme von 6144 bereits verkündete: Die Gesamtheit der Einherier ist identisch mit der Lichtgeistmacht, die sich in der Zahl 3, der Lichttrinität, ausdrückt. Darüber hinaus wird die Reihe 1, 2, 3, 6 vorgeführt, die zur 6 hinführenden ersten drei zahlengestaltigen Metaphern. Die überragende Bedeutung dieser Zahlen ist bereits vermittelt worden. Doch wir lassen unterstreichend Ernst Bindet zu Wort kommen, welcher erklärte: „... dass unter den vollkommenen Zahlen die 6 nicht bloß an erster Stelle, sondern auch an oberster Stelle steht, weil sie ihre Vollkommenheit auf die grundlegendsten Zahlen überhaupt, auf die Zahlen 1, 2 und 3, stützt.“ 5) Derselbe Autor führte ebenfalls „Die Zahl 123 als Mittelpunktgebilde des Irrationalen“ vor. 6) Es handelt sich um eine Zahl, welche Wegweiser ist zum Metaphysischen, einer vom Menschenverstand letztlich unbegreiflichen Wesenheit, - ein Bezirk, der mit der Gottesidee zusammengeht.
Interessant ist, dass sämtliche Divisoren der Einherierzahl 614.400 bzw. 6144 als Zahlenwerte der „ersten drei Oktaven der Weltseele“ auftreten, wie sie in Timaeus Locris angegeben werden, einem pythagoreischen Werk, das einer kürzeren Version von Platons Timaeus ähnelt. 7) Es handelt sich dabei um eine fortschreitende Folge von 24 Tönen und Halbtönen, ausgedrückt in dafür charakteristischen Zahlen. Die Annahme des Pythagoras von der „Musik der Sphären“ ging davon aus, dass die einzelnen Töne eines jeden Planeten zusammenklingen würden, um eine universale Harmonie hervorzubringen - gewissermaßen eine musikalische Ausdrucksform der zahlenmäßigen Struktur des Kosmos.
Es bietet sich neben all diesen Überlegungen aber eine viel naheliegendere Erklärung für diese Edda-Zahl an: 614.400 wäre aufzuteilen in 600.000 und 14.400. Die mythische Bedeutung der 6 ist hinreichend bekannt, der Sinn von 14.400 bzw. 144 aber weniger. Ein germanisches Großhundert, von dem unsere zahlenmythologischen Feststellungen ausgingen, ins Quadrat gehoben (120x120) ergibt 14.400. 144 gilt als das „dicke Dutzend“, eine Vervielfältigung der heiligen 12-Zahl. Die Multiplikation der beiden wichtigsten Zahlen des Ur-Runensystems, 6 x 24, lässt ebenso 144 entstehen, wie auch die Addition aller ungeraden Zahlen von 1 bis 24 (1+3+5+9+11+13+15+17+19+21+23 = 144). Die sogenannte Präzession, der jährliche Rücklauf des Frühlingspunktes, beträgt in 72 Jahren 1°. In 72 Jahren mal 360° läuft der Frühlingspunkt einmal um die gesamte Ekliptik. Diesen Zeitraum von 25.920 Jahren nannte man ein Äon oder das Große- bzw. das Gottesjahr. In 1440 x 18 = 25.920 Jahren rundet sich das Gottesjahr, kehrt der Frühlingspunkt an seinen Ausgangsort zurück. Die Zahl 1440 erweist sich also auch als eine nicht unwichtige Zeitrechnungsgröße - ebenso wie die alternative Edda-Zahl 432.000, das Produkt aus 3 x 144.000. Es besteht kein Grund zu erschrecken, wenn wir diese Zahlengrundlage in der jüdisch-christlichen Bibel wiederfinden, und zwar in gleichem Sinne wie in nordgermanischer Edda. In der „Offenbarung des Johannes“ (14/1+3; 21/17), einer aus iranisch-indogermanischer Gnosis kommenden, eigentlich ganz heidnischen Schrift, wird in visionärer Schau die kubusgleiche himmlisch-geistige heilige Stadt (Jerusalem) beschrieben, die sehr wohl mit der germanischen Walhalla zu vergleichen ist. Ihre Mauerhöhe soll „144 Ellen“, und 144.000 Stadien der Umfang der apokalyptischen Himmelsstadt betragen. An anderer Stelle werden die 144.000 Auserwählten, die „Erstlinge Gottes“, gepriesen. Es sind jene, die vor Beginn des letzten Gerichtes um ihren Gott geschart auf dem Nordberg stehen (hier Berg Zion genannt); die ihrem Geistvater verschrieben sind, ihm also bedingungslos angehören. Auf ihren Stirnen prangt sein Zeichen. Ebenso wie die zum „Letzten Gefecht“ bereiten Einherier Odins, sind das die reinen gottestreuen Menschenseelen, an denen nichts Falsches gefunden wurde. Ich denke, dass solche deckungsgleichen Übereinstimmungen kaum zufälliger Natur sein können, dass vielmehr eine Urübereinstimmung mythischer Betrachtungen sichtbar wird. Wie so viele andere religiöse Mythen, Gleichnisse und Symbole kann die Bedeutung der „neutestamentischen" 144 aus dem indogermanisch-iranischen Kult entlehnt worden sein. Andererseits jedoch müsste in jedem Religionssystem, in dem die Zwölfzahl Hochschätzung erfährt, die (12x12=)144 gesteigerte Bedeutung erlangen. So benötigen die zorastischen Priester 144 Tage oder fünf Monate, um die Gesamtheit der 144 Ritualtexte (Yasnas) und 144 Ritualgesetze (Vendidads) des mazdayasnischen Messopfers zu rezitieren. Als ursprünglich bzw. originär jüdisch-christlich darf diese Zahl also keinesfalls bezeichnet werden. 8)
Diese Untersuchung vermag sicherlich nicht zu entscheiden, ob als einzig richtige eddische Einherierzahl 432.000 oder 614.400 ursprünglich gemeint war. Die erstere würde mit ihrer Quersumme 9 auf die 9. Rune, dem Sonnenstrahlsymbol (), hinweisen - die zweite aber mit ihrer letzten Quersumme und Kernzahl 6 erzählt von der 6. Rune, dem kosmischen Lichtross (). Man sollte von einem Entweder-Oder absehen und ein Sowohl-Als-Auch in Betracht ziehen. Ja, es scheint mir recht sicher, dass der Edda-Dichter beide Rechenmöglichkeiten erwogen hat und erkannte, dass sie zu sinnvollen Ergebnissen führen.
Schauen wir die beiden möglichen Rechenwege zusammen und wagen eine mythische Bewertung, dann läge sogar eine gegenseitige Ergänzung im Bereich des Denkbaren. Zum Sonnengeist () oder den Sonnengeistern gehört unbedingt der Lichthengst () bzw. seine Vervielfältigung. Erst aus solchem zahlen- bzw. runenzahlenmythischen Verständnis steigt uns Romantikern (aus katholischem Bild- und Liedgut wohl bekannt) visionär das Bild einstiger Wirklichkeiten in der Seele auf: das göttlich-schöne Bild eines waffenblitzenden, heiligen Heeres, bestehend aus sonnenblondhaarigen, himmelsblauäugigen Heroen, reitend auf schimmernden Schimmeln mit feuerflammenden Mähnen. Ein solches Heer von Gottesstreitern würde die Finsterlinge in den Boden hineinstampfen - in den Stoff zurücksenden, woraus sie allein entstanden sind. Fortgefegt würde der thursische Dämon (), der dunkle, stumpfe, herzenskalte mammonistische Drachenwurm mitsamt den flatternden, leichten Lügengeistern und den ideologische Trugnetze webenden schwarzen Kreuzspinnen. Dass dies die eddische Offenbarung für die Wissenden war, liegt aufgrund des Zahlenbefundes im Bereich realistischer Deutungsmöglichkeiten.
Der 7.000-jährige Julzeit-Sonnentempel von Goseck (Gottesacker) bei Naumburg.
Wurde Walhall, die jenseitige Totenhalle der germanischen Religion,
vielleicht geschaut als ein ins Transzendente gehobenes Abbild des weltberühmten,
Jahrtausende alten, vieltorigen nordischen Rundtempels Stonehenge ?
QUELLEN:
1) „Edda, Die Lieder des Codex Regius“, 1983; Hrsg. Gustav Neckel
2) O.S. Reuter, „Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube“, 1922, Bd. I, 62ff
3) W. Baetke, „Wörterbuch zur altnord. Prosaliteratur“, 1976, S. 281
Sprachwissenschaftl. Studienbücher, histor. Laut- und Formlehre des Altisländischen, Heidelberg 1951, S. 127+243
H. Gering, „Glossar zu den Liedern der Edda“, 1907, S. 88
4) G. Heß, „ODING-Wizzod Gottesgesetz und Botschaft der Runen“, 1993
5) H. Klingenberg, „Runenschrift – Schriftdenken“, 1973
6) E. Bindet, „Die ägyptischen Pyramiden als Zeugen vergangener Mysterienweisheit“, 1932, S. 30
6) dto., S. 197
7) J. Michell, „Alte Maßsysteme, Löhrbach“ 1979, S. 51ff
8) J. Jamshedji Modi, “The religions ceremonies and custums of the Parses”, Bombay, 1937