Die Deutung der berühmtesten Edda-Zahl
 
Wie lautete nun eigentlich die ODING-/ Asen-Lehre zusammengefasst ?: sie ruft unzweideutig auf zu einem tapferen Leben im Dienste Wodins. Wer die Gefährdungen, die vielfältigen irdischen Nöte bezwingt, die Anfeindungen, die notwendigen Lebenskämpfe, die Prüf­ungen besteht, der geht ein in Gimles „dritten Himmel“ der dauernden Seligkeit  (Gylf. 3 u. 51), unerreichbar für alles Niedere, Unholde. Wer sich jedoch für den schweren Weg des reinen Kriegers entschieden hat, und diesem Weg der Treue für das Rechte und Göttliche unbeirrbar bis zum Preis seines Kampftodes für Wodin zu folgen vermag, wird die Freuden Walhalls = „jenseitige Halle gefallener Kämpfer“ erleben. Was steht darüber geschrieben ?
 
Die bedeutsamste Zahlenangabe in unserem nordischen Weisheitsbuch „Edda“ findet sich im „Grim­nismål“, dem Grimnislied Vers 23. Da heißt es verdeutscht:
Fünfmalhundert(zwanzig) Tore und vierzig dazu sind in Walhalls weitem Bau; achtmalhundert(zwanzig) Einherier gehen aus einem Tor, wenn sie auszieh'n, zu wehren dem Wolf. 1)
 
Der mythologische Sinn dieser Strophe scheint unmissverständlich. Räumliche Gegebenheiten Walhalls werden hier beschrieben. Wir erhalten Angaben über die Bauweise der jenseitigen Totenhalle seliger Geister. Und es ist zu erfahren, dass aus einem jeden der himmlischen Tore 8 x 100/120 Lichtritter­seelen heraustreten werden, um den Endkampf gegen die wölfischen Fin­sternis- und Chaosmächte auszufechten.
 
Wieviele Tore Walhall aufweist, gibt die erste altnordische Strophe an: „Fimm hundruð dura - oc um fiórom togom.“ Die Deutung schien bei lässiger Übersetzung problemlos: „Fünfhun­dert Tore und vierzig dazu.“ Also 540 Tore sollen es sein. Multipliziert man diese Walhall-Zahl mit den 800 Ein­heriern, entsteht die Zahl 432.000. Eine Zahl, welche auf babyloni­schen Rechentafeln aus Nippur schon ca. 2000 v.0 erscheint. Nach der Lehre Altindiens sind 432.000 Jahre eine Weltalter-Epoche. Schon F. Magnusen, 1821, hatte für diese Edda-Zahl orientalische Vorbilder vermutet. F.R. Schrö­der, 1924, aber insbesondere der geniale O.S. Reuter, der so viele Erkenntnisse über unser germani­sches Altertum vermittelte 2), versuchten das Verständnis zu vertiefen.
 
Doch 432.000 galt, wo immer wir die Zahl antreffen, als Zeiteinheit; ausgenommen der Be­richt im eranischen Bundahis (II, 11), dass Ahura Mazda 15 x 432.000 kleine Sterne ge­schaffen habe, sowie die Angabe von der Anzahl der Silben des Veda, wenn nicht auch hier die Idee ausschlaggebend war, den Ewigkeitscharakter der Sternenwelt bzw. des heiligen Bu­ches herauszukehren. So ergibt die Multiplikation 4320 x 6 = 25920, das „Platonische Jahr“, also den durch die Präzession bedingten Zeitraum, welchen der Frühlingspunkt benötigt, ein­mal durch die gesamte Ekliptik von 360° zu wandern. Im Prinzip wäre es durchaus möglich, dass die von der Edda vorgestellte Walhalla-Zahl aus solchen orientalischen Anleihen entstanden sein könnte oder aus einem gemeinarischen Urwissen herrührt.
 
Ein schwerwiegender Einwand lässt indes den gesamten Fragenkomplex in anderem Licht er­scheinen. Es ergeben sich völlig neue Zahlenverhältnisse, wenn wir sprachwissenschaftliche Strenge walten lassen. Hätte der Autor der betreffenden Edda-Strophe wirklich allein die Zahl 100 nach dem Zehnersystem gemeint, so hätte er entweder „tio tiger“ oder „hundruð ti­rott“ geschrieben. Er gebrauchte jedoch die Bezeich­nung „hundruð“, die für das Großhun­dert von 120 Einheiten üblich war. 3) Schon der nicht unmaßgebli­che Hugo Gering interpre­tierte in diesem Sinne (Komm. I, 1927, S. 196). Der ältere Wortgebrauch ging von 120 Einheiten aus, der jüngere, wie auch im heutigen Island, von 100. Wollen wir das „Grim­nis­mål“ als eine eher urtümliche Dichtung verstehen, müssen wir mit den Anga­ben von 120er Werten zurechtkommen.
 
Wir wollen den Versuch wagen, unter Zugrundelegung der korrekten Übersetzung einen my­thischen Sinn jener nun sich ergebenden Zahlenverhältnisse zu ergründen. Die Walhalla-Zahl errechnet sich also: 5 x 120 = 600 und 40 dazu = 640. Und schon erhalten wir ein sehr viel sinnvolleres Ergeb­nis. Die erscheinende 64 ist eine hochbedeutsame Raumzahl, nämlich der Kubikwert der Grund­ord­nungszahl Vier; 4 x 4 x 4 = 64.
 
Die Quersumme von 64 ist 1, d.h. es handelt sich um den Gottesraum schlechthin, denn 1 galt nicht eigentlich als Zahl, sondern als Ursprung, als Geberin, Anfang und Fundament aller folgenden Zahlen. Diese Meinung vertraten die Pythagoräer, ebenso wie Euklit, bis hin zu den Mystikern des Mittelalters und beispielsweise dem deutschen Rechenmeister Köbel, 1537. Somit erklärt sich die geheimnisvolle Walhalla-Zahl als Metapher für das göttliche Urwesen und den göttlichen Urraum schlechthin.
 
64 Felder besitzt das aus Altindien stammende Schachspiel, das den ewigen Wettkampf zwi­schen Schwarz und Weiß, den Kräften des Lichtes und jenen der Finsternis, symbolisieren soll. Auch die Gesänge des Rigveda, die das gesamte heilige Wissen Altindiens in sich vereini­gen, führen den Namen „Die Vierund­sechzig“. Das aus 64 Hexagrammen aufgebaute „I-Ging“ der Chinesen ist fähig, die vielfältigen Erscheinungsformen der Welt und der Zeit symbolhaft ein­zufangen. Es handelt sich um eine rein zeichenhafte Beschreibung des Univer­sums.
 
Angesichts solcher Entsprechungen bzw. Seitenstücke aus der Geistigkeit anderer alter Kultu­ren, er­scheint die spätgermanische Walhalla-Zahl 640 sehr verständlich. Sie verkündet un­überhörbar die Bedeutung der Achtzahl, ist sie doch das Produkt aus 8 x 80. Diese Sinnge­bung wird verstärkt durch die „atta hundruð“ (8 x 120) für den Endkampf gegen die wölfi­schen Chaosmächte aus jedem Tor hervorgehenden Einhe­rier. Da die Zahl der streitbaren Lichtseelen, wie gezeigt, ebenfalls mit „atta hundruð“ angegeben ist, han­delt es sich um 8 x 120 = 960 Geistwesen, die aus jedem der 640 Walhallatore aus­ziehen. 96 ist, ebenso wie 64, eine Vielfache der altheiligen Gotteszahl 8, welche im ge­meingermanischen ODiNG-Runensystem den indogermanischen Himmelsgott Tiu/Tyr () sym­bolisiert. Er galt als Herr des Raumes und musste folgerichtig auch durch das zweite Runenzeichen, die Dop­pelaxt-Rune (), versinn­bildlicht werden, welche zur ersten Raumzahl hinführt: 2 x 2 x 2 = 8 ().
 
Nicht allein bei den Pythagoräern galt die 8 als die Zahl des vollen Körpers, der Himmels­harmonie und der Gerechtigkeit. Für die „beträchtliche Rolle“ der „Achtzahl in Runenkunst und Runenmagie“ ver­mochte auch W. Lange keine einleuchtende Erklärung anzubieten und stellte deshalb fest: „Die relative Häufigkeit und das Gewicht der Zahl muss also aus anderem Ursprung zu erklären sein.“ Die ODiNG-Runenerklärung hat auch diese Frage beantwortet. Die Bedeutung der 12 als Kosmos-Chiffre und Tyrkreisbilder- bzw. Ekliptikzahl ist bekannt. Folgerichtig weist die Runenphilosophie die 12 als Welten­baum-/Eibenbaum-Ideogramm () aus. Die runischen Zahlenzuordnungen des ODiNG-Sy­stems sind nicht zum Verwundern, sondern bestätigen überraschend genau lang vermutete Zusam­menhänge zwi­schen Zahl und Gottheit, gera­deso wie es Plutarch von den Pythagoräern berichtete: „Sie beehren Zahlen und Figuren mit den Namen von Gottheiten.“ (Iside et osiride c 76).
 
Doch schon indische und ägyptische Kultsysteme beruhten auf der Achtzahl. Der ägypti­sche Geist­gott Thot wurde „Herr der Acht“ genannt. Seine Gestalt des Heil- und Wissensspenders könnte im Grie­chen-, Römer- und Germanentum die Wesenheiten des Hermes, des Merkur, des Wodan mitbeein­flusst haben. Auch Wodan galt als Herr des achtbeinigen Weltenrosses. Die altheidnische Vorstellung, dass die Heroen­seelen in die vergöttlichende hochgeachtete Acht­heit, besser 8 x Achtheit, verklärt würden, über­nahm selbst der späte Christianismus, sagte doch der belesene Kirchenlehrer Clemens aus Alexan­drien: „Jene, die Christus wieder zum Leben gebiert, die werden in die Achtheit versetzt !“, d.h. in den geistigen Kosmos, den all­umfassenden für den Menschengeist aber letztlich unfassbaren Gottesraum.
 
Dass sich die ewige dreiwesige Gottheit („welche war, ist und sein wird“) in Gestalt ihrer Achtheit dreimal in das System der 24 kosmischen „Runenbausteine“ eingliedert - im Alt­isländischen „aettir“ genannt -, bedeutet uns heute nicht mehr als nur Spielerei. Für die alten zahlenmytholo­gisierenden Theosophen galt dies hingegen als Offenbarung göttli­cher Harmonie. Ebenso, dass die Quersumme von 24 wieder die Kosmoszahl 6 ergibt, die arithmetische Summe der 6 aber 21, mit Quersumme 3, und die Addition der Gesamtheit von 24 Runen als Quersummenwert wiederum die 3 präsentiert, das mutete wie eine zah­lenmäßige Gottesoffenbarung an. Die arithmetische Addition der 21, mit Ergebnis 231, weist die ersten drei Zahlen auf, wieder mit Quersumme 6. Solche Zahlen­sprache macht ohne weiteres klar, warum der Ase Wodan, die Weltseele, der heilige Gottesgeist schlechthin, im Runensystem mit der Zahl 21 () markiert wurde. Er erscheint gleichzeitig als Einund­zwanziger, als Herr der Achtheit und der Kosmos-Sechs und stellt selbst eine Gottestriade dar (21 = 2 + 1 = 3).
 
Die Einherierzahl 960 bzw. 96 ergibt sich aus 3 x 32. Man darf dabei an die 32 Spielkarten denken, die so weit verbreitet sind, oder an die Anzahl der Schachfiguren. Zwei Scharen, bestehend aus jeweils 16 Kämpfern, stehen sich hier gegenüber. Ein für den apokalyptischen Endkampf bereitstehendes Einherier-Heer, bestehend aus 60 x 16 = 960 Glanzseelen, müsste nach mythischer Logik altgläubi­gen Denkens als eine unüberwindliche Macht gelten. Insbesondere auch deshalb, weil die letzte Quer­summe bzw. Kernzahl von 960 wiederum 6 ist (9+6=15 = 1+5 = 6).
 
Nun heißt es aber, dass aus jedem einzelnen der 640 Tore Walhalls 960 Gottesstreiter dem Welten­wolf entgegentreten werden. Das wären 640 x 960 = 614.400 gute Geister; diese Menge ergibt in der Quersumme ebenfalls 6 (6+1+4+4 = 15 = 1+5 = 6). Die Frage erhebt sich: Welche my­thisch-symbolische Aussage liegt in der Zahl 614.400 bzw. 6144 ver­schlüsselt ?
 
In Anbetracht vergleichbarer religionshistorischer Anschauungen ist unzweifelhaft, dass die Seelen­gesamtheit der Gottesstreiter mit ihrer Gottheit weitestgehend identifiziert wurden. Unter Zugrunde­legung einer reifen, ethischen Hochreligion - und eine solche darf entspre­chend der Quellenlage für die urgermanische Gesellschaft in Rechnung gesetzt werden - gal­ten die lichtgeistigen Einherier als Erschei­nungsformen bzw. Teilwesenheiten des Lichtstreiter-Gottes selbst; sie waren gewissermaßen die Funken des großen, guten Geistfeuers, welches gegen die Finsternismächte auflodern sollte. Jeder irdische Held, beseelt vom göttlichen Glanzhauch, wurde im Tode zu einem Lichtalfen, zu einem Asen, zu einem „Licht des Heils“. Seine Lebenskraft floss mit dem irdischen Ableben zurück zur Ur­potenz der jenseitigen guten feurigen Weltseele; - so lautete die große erhebende Glaubenshoffnung.
 
Es gibt eine Erklärungstheorie, mittels der wir die Gedankengänge des Schöpfers der Edda-Strophe im „Grimnismål“ 23 nachvollziehen und damit seine Einherierzahl von 614.400 möglicherweise enträt­seln können. Erschien diese Zahl vielleicht deshalb so hochbedeutsam, weil sie zum einen die Quer­summe 6 trägt, gleichzeitig aber die Vielfache der wichtigsten mythischen Zahlen darstellt ? Sie ist durch 2, 3, 4, 6, 8, 12, 16, 24 teilbar; sie besitzt also 8 Divisoren innerhalb des (auch runischen) Systems der 24 heiligen Zahlen.
 
Die 24 bzw. 6 sind zu begreifen als Schlüsselzahlen der germanischen Gotterkenntnis. Jeder Spielwür­fel, wie sie auch in germanischen Gräbern der Völkerwanderungszeit gefunden wur­den, besitzt be­kanntlich 6 Seiten. Das auf dem wikingerzeitlichen Gokstad-Schiff abgelegte Spielbrett trug bei Rekon­struktion nach quadratischer Symmetrie auf 13 x 13 = 169 Qua­drateinteilungen 24 durch Verzie­rungen herausgeho­bene Spielfelder, ebenso das auf der Rückseite aufgetragene Mühlespiel, wel­ches bekanntlich 24 Spielpunkte besitzt. Alle diese Spiele entstanden zweifellos aus mystisch-mythi­schen, rituellen oder divinatorischen Urgrün­den und dienten auch ebensolchen Zwecken. Die 2-Par­teien-Spiele erwuchsen aus den Vor­bildern religiöser Ideen eines Weltverständnisses vom Kampf zwi­schen Weiß und Schwarz, zwischen „Gut und Böse“, - Geist und Materie.
 
Bei unserem Bemühen, das antike Zahlendenken nachzuempfinden, ist zu beachten, dass die Alten mit den einzelnen Zahlen zwar bestimmte Ideenbilder verknüpften, dass aber das Erleb­nis der Zahlen doch nicht ausschließlich und hauptsächlich vom Symbolwert einzelner Zahlen bestimmt war, sondern vom Verhältnis der Zahlen zueinander und der vernetzten Bezüge untereinander. Das war es, was die her­vorragende Bedeutung der pythagoreischen Zahlen­systematik ausmachte: mittels Zahlensysteme die Welt der Erscheinungen zu erklären und durch Nutzung solcher Hilfsmittel hochzuschließen auf das Transzen­dente, Jenseitige, Göttli­che, also den Weltlogos erfassbar zu machen. Den heidnischen Gott­suchern waren diese Zah­lenkräfte eine unbezweifelbare geistige Erfahrung. So ist es von den Griechen bezeugt und seit den Forschungsergebnissen Prof. Klingenbergs auch gesichert, dass die germani­schen Ru­nenmystiker den gleichen Weg gegangen sind. 4)
 
Die pythagoreischen Zahlenmystiker rechneten auch mit der Summe der Teiler, um Zahlen­verwandt­schaften, auch „Zahlenfreundschaften“ (griech. philoi arithmoi) genannt, herauszu­finden. Die 1 als Teiler wurde dabei mitgerechnet. Die Teiler von 6144 sind: 1, 2, 3, 4 , 6, 8, 12, 16, 24, 32, 48, 64, 96, 128, 192, 256, 384, 512, 768, 1024, 1536, 2048 und 3072. Die Summe dieser Teiler ergibt nun eine interessante Zahlenfolge, nämlich: 10236 mit Quersumme 12 bzw. 3. In der Sprache der Zahlen­mystik heißt das noch exakter, als es die Quersumme von 6144 bereits verkündete: Die Gesamtheit der Einherier ist iden­tisch mit der Lichtgeistmacht, die sich in der Zahl 3, der Lichttrinität, ausdrückt. Darüber hinaus wird die Reihe 1, 2, 3, 6 vorgeführt, die zur 6 hinführenden ersten drei zahlengestal­tigen Metaphern. Die überragende Bedeutung dieser Zahlen ist bereits vermittelt worden. Doch wir lassen unterstreichend Ernst Bindet zu Wort kommen, welcher erklärte: „... dass unter den vollkommenen Zahlen die 6 nicht bloß an erster Stelle, sondern auch an oberster Stelle steht, weil sie ihre Vollkommen­heit auf die grundlegendsten Zahlen überhaupt, auf die Zahlen 1, 2 und 3, stützt.“ 5) Derselbe Autor führte ebenfalls „Die Zahl 123 als Mittelpunkt­gebilde des Irrationalen“ vor. 6) Es han­delt sich um eine Zahl, welche Wegweiser ist zum Me­taphysischen, einer vom Menschenverstand letztlich unbegreiflichen Wesenheit, - ein Bezirk, der mit der Gottesidee zusammengeht.
 
Interessant ist, dass sämtliche Divisoren der Einherierzahl 614.400 bzw. 6144 als Zahlen­werte der „ersten drei Oktaven der Weltseele“ auftreten, wie sie in Timaeus Locris angege­ben werden, einem py­thagoreischen Werk, das einer kürzeren Version von Platons Timaeus ähnelt. 7) Es handelt sich dabei um eine fortschreitende Folge von 24 Tönen und Halbtönen, ausgedrückt in dafür cha­rakteristischen Zahlen. Die Annahme des Pythagoras von der „Musik der Sphären“ ging da­von aus, dass die einzelnen Töne eines jeden Planeten zusammenklingen würden, um eine universale Harmonie hervorzubringen - gewisser­maßen eine musikalische Ausdrucksform der zahlenmäßigen Struktur des Kosmos.
 
Es bietet sich neben all diesen Überlegungen aber eine viel naheliegendere Erklärung für diese Edda-Zahl an: 614.400 wäre aufzuteilen in 600.000 und 14.400. Die mythische Bedeutung der 6 ist hinrei­chend bekannt, der Sinn von 14.400 bzw. 144 aber weniger. Ein germani­sches Großhundert, von dem unsere zahlenmythologischen Feststellungen ausgingen, ins Quadrat gehoben (120x120) ergibt 14.400. 144 gilt als das „dicke Dutzend“, eine Verviel­fältigung der heiligen 12-Zahl. Die Multiplika­tion der beiden wichtigsten Zahlen des Ur-Ru­nensystems, 6 x 24, lässt ebenso 144 entstehen, wie auch die Addition aller ungeraden Zah­len von 1 bis 24 (1+3+5+9+11+13+15+17+19+21+23 = 144). Die soge­nannte Präzession, der jährliche Rücklauf des Frühlingspunktes, beträgt in 72 Jahren 1°. In 72 Jah­ren mal 360° läuft der Frühlings­punkt einmal um die gesamte Ekliptik. Die­sen Zeitraum von 25.920 Jahren nannte man ein Äon oder das Große- bzw. das Gottesjahr. In 1440 x 18 = 25.920 Jahren rundet sich das Gottesjahr, kehrt der Frühlingspunkt an seinen Aus­gangsort zurück. Die Zahl 1440 erweist sich also auch als eine nicht unwichtige Zeitrechnungsgröße - ebenso wie die alternative Edda-Zahl 432.000, das Produkt aus 3 x 144.000. Es besteht kein Grund zu erschrecken, wenn wir diese Zahlengrundlage in der jüdisch-christlichen Bibel wiederfinden, und zwar in gleichem Sinne wie in nordgermanischer Edda. In der „Offenba­rung des Johannes“ (14/1+3; 21/17), einer aus iranisch-indogermanischer Gnosis kom­menden, eigentlich ganz heidnischen Schrift, wird in visionärer Schau die kubusgleiche himm­lisch-gei­stige heilige Stadt (Jerusalem) beschrieben, die sehr wohl mit der germanischen Walhalla zu verglei­chen ist. Ihre Mauerhöhe soll „144 Ellen“, und 144.000 Stadien der Umfang der apokalypti­schen Himmelsstadt betragen. An anderer Stelle werden die 144.000 Auserwählten, die „Erstlinge Gottes“, gepriesen. Es sind jene, die vor Beginn des letzten Ge­richtes um ihren Gott geschart auf dem Nordberg stehen (hier Berg Zion genannt); die ihrem Geistvater verschrieben sind, ihm also bedin­gungslos angehören. Auf ihren Stirnen prangt sein Zeichen. Ebenso wie die zum „Letzten Ge­fecht“ bereiten Einherier Odins, sind das die reinen got­testreuen Menschenseelen, an denen nichts Falsches gefunden wurde. Ich denke, dass solche dec­kungsgleichen Übereinstimmungen kaum zufälli­ger Natur sein können, dass vielmehr eine Urüberein­stimmung mythischer Betrachtungen sichtbar wird. Wie so viele andere religiöse Mythen, Gleichnisse und Symbole kann die Bedeutung der „neu­testamentis­chen" 144 aus dem indogermanisch-iranischen Kult entlehnt worden sein. Andererseits jedoch müsste in jedem Religionssystem, in dem die Zwölfzahl Hoch­schätzung erfährt, die (12x12=)144 ge­steigerte Bedeutung erlangen. So benötigen die zorastischen Priester 144 Tage oder fünf Monate, um die Gesamtheit der 144 Ritualtexte (Yasnas) und 144 Ri­tualgesetze (Vendi­dads) des mazdayasni­schen Messopfers zu rezitieren. Als ursprünglich bzw. originär jüdisch-christlich darf diese Zahl also keinesfalls bezeichnet werden. 8)
 
Diese Untersuchung vermag sicherlich nicht zu entscheiden, ob als einzig rich­tige eddische Einherier­zahl 432.000 oder 614.400 ursprünglich gemeint war. Die erstere würde mit ihrer Quersumme 9 auf die 9. Rune, dem Sonnenstrahlsymbol (), hinweisen - die zweite aber mit ihrer letzten Quer­summe und Kernzahl 6 erzählt von der 6. Rune, dem kos­mischen Lichtross (). Man sollte von einem Entweder-Oder absehen und ein So­wohl-Als-Auch in Betracht ziehen. Ja, es scheint mir recht sicher, dass der Edda-Dichter beide Rechenmöglichkeiten erwogen hat und erkannte, dass sie zu sinnvollen Ergebnissen führen.
 
Schauen wir die beiden möglichen Rechenwege zusammen und wagen eine mythische Bewer­tung, dann läge sogar eine gegenseitige Ergänzung im Bereich des Denkbaren. Zum Son­nengeist () oder den Sonnengeistern gehört unbedingt der Lichthengst () bzw. seine Ver­vielfältigung. Erst aus sol­chem zahlen- bzw. runenzahlenmythischen Verständnis steigt uns Romantikern (aus katholischem Bild- und Liedgut wohl bekannt) visionär das Bild ein­stiger Wirklichkeiten in der Seele auf: das göttlich-schöne Bild eines waffenblitzenden, heiligen Heeres, beste­hend aus sonnenblondhaarigen, himmelsblau­äugigen Heroen, reitend auf schimmernden Schim­meln mit feuerflammenden Mähnen. Ein solches Heer von Gottesstreitern würde die Finsterlinge in den Boden hineinstampfen - in den Stoff zurücksenden, woraus sie allein entstanden sind. Fortgefegt würde der thursische Dä­mon (), der dunkle, stumpfe, herzenskalte mammonistische Drachenwurm mit­samt den flattern­den, leichten Lügengeistern und den ideologische Trugnetze webenden schwarzen Kreuzspin­nen. Dass dies die eddische Offenbarung für die Wissenden war, liegt aufgrund des Zahlen­befundes im Bereich realistischer Deutungsmöglichkeiten.
 
 
Goseck_Nebra.JPG
 Der 7.000-jährige Julzeit-Sonnentempel von Goseck (Gottesacker) bei Naumburg.
 Wurde Walhall, die jenseitige Totenhalle der germanischen Religion,
vielleicht geschaut als ein ins Transzendente ge­hobe­nes Abbild des weltberühmten,
Jahrtausende alten, vieltorigen nordischen Rundtempels Stonehenge ?
QUELLEN:
1) „Edda, Die Lieder des Codex Regius“, 1983; Hrsg. Gustav Neckel
2) O.S. Reuter, „Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube“, 1922, Bd. I, 62ff
3) W. Baetke, „Wörterbuch zur altnord. Prosaliteratur“, 1976, S. 281
Sprachwissenschaftl. Studienbücher, histor. Laut- und Formlehre des Altisländi­schen, Heidelberg 1951, S. 127+243
H. Gering, „Glossar zu den Liedern der Edda“, 1907, S. 88
4) G. Heß, „ODING-Wizzod Gottesgesetz und Botschaft der Runen“, 1993
5) H. Klingenberg, „Runenschrift – Schriftdenken“, 1973
6) E. Bindet, „Die ägyptischen Pyramiden als Zeugen vergangener Mysterienweisheit“, 1932, S. 30
6) dto., S. 197
7) J. Michell, „Alte Maßsysteme, Löhrbach“ 1979, S. 51ff
8) J. Jamshedji Modi, “The religions ceremonies and custums of the Parses”, Bombay, 1937