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„Abgehauene Wurzeln schlagen wieder aus, uralte Dinge kehren wieder, verdeckte Wahrheiten enthüllen sich; es ist ein uraltes Licht, das nach langer Nacht am Horizont unserer Erkenntnis wieder hervorbricht.“ - Giordano Bruno „De l’infinito, universo e mondi“, 1584.
 
 
 
DIE BESTÄTIGTE ODING-GRUNDTHESE
 
Seit 1982 vertrete und verkünde ich die Erkenntnis von der entstehungskonzeptionell rechtsbeginnenden Ur-Runen-Reihe von 24 Buchstaben, die mit den 24 Sonnenjahresmonaten derart korrespondiert, dass sie einen mondgebundenen (luni-solaren) altreligiösen Kalender erzeugt. Das darf nicht wunderlich erscheinen, denn nach antiker Vorstellung galten Gott und die Zeit als identisch. So war auch der solare, seinen Sternenmantel tragende Gott Mithras ein Inbegriff aller Tage des Jahres. Sein Zahlenwert, geschrieben in griech. Buchstaben, ergeben die Zahl der Jahrestage: 365.
 
Die rechtsläufige Fuðark-Reihe endet mit der Buchstabenfolge d-o, also beginnt die rechtsbeginnende Oding-Folge mit o-d. Dazu schreibt der Skandinavist und Erilar Heinz Klingenberg in „Runenschrift, die älteste Buchstabenschrift der Germanen“, Sonderdruck aus „Studium Generale“, Jg. 20, Heft 7, Berlin-Heidelberg-New York 1967, S. 442: „Die Mehrzahl der Forscher hat sich für die ursprüngliche Folge d/o ausgesprochen, die die Kylver-Reihe, als ältestes Futhark-Denkmal, zeigt: ergibt sich doch damit eine inhaltliche Entsprechung zwischen der letzten Rune mit Namen othala 'Land(besitz)' und der ersten Rune mit dem Namen fehu 'Vieh(besitz)'. Dann aber hätte der Meister von Vadstena geneuert mit der Folge o/d, und wir dürfen fragen: aus Vergeßlichkeit, aus lokaler Schultradition oder aus runenmeisterlicher Absicht ('d' ist unsichtbar, durch eine Öse verdeckt)." Der Grund für die Vertauschung der beiden letzten Runen auf dem Vadstena-Anhänger hat spezielle Ursachen, die aus beabsichtigter kalendarischer Demonstration zu erklären sind.
 
Bei rechtsgeginnender Lesung der Runen erzeugen die ersten drei Buchstaben  den Begriff O-D-ING. (Abb. 1, Kalender 1989/90) Es kann sich bei diesem sorgfältig erklügelten Runenstruktursystem um kein zufälliges Anfangs-Wort handeln, es muss ihm ein Sinn zugrunde liegen, welcher sich beim Hineindenken in die Runenlogizität rasch entschleiert. Die erste Urstammsilbe (von insgesamt 108 Schriftsystemsilben) - entsteht durch Kombination des ersten Vokals mit dem ersten Konsonanten: OD. Das Suffix ING bedeutet im Germanischen Kind / Nachkommen / Erzeugung. Somit kann das runische Urwort OD-ING nichts anderes meinen als Od-Kind. Ist Od als Gott, als Geist-Seelengott erkannt, muss die germanische Schrift naheliegenderweise als ein Kind aus dem Geist des Od-Gottes begriffen worden sein. In niederländisch Friesland (Goutum, Weidum, Jelsum) ist der Familienname Oding, Odink, Odinga nachweisbar, aber in Holland sind allgemein Namen wie Oedding, Ottink, Odingk, Otman zu finden. Der Landwirtschaftsbetrieb des Bauern Gerhard Odinga liegt bei Wybelsum in der ostfriesischen Küstenmarsch bei Emden (2014). Walter Odington war ein im 14. Jh. lebender englischer Mathematiker und Musiktheoretiker. Er lebte als Benediktinermönch in Evesham und Oxford. Er schrieb neben zwei astronomischen Abhandlungen die Schrift „De speculatione musices“. - Der heutige Südlohner Ortsteil Oeding im westlichen Münsterland geht auf die 1170 in Urkunden erwähnte Bauernschaft Nichtern mit dem Haupthof Oding zurück. Am 18.04.1353 verkaufte ein Ritter die „Burg, Mühle, Gebäuden, Fischteichen und ...“ an den Münsteraner Bischof. Auf einer Übersichtskarte (ca. 1.600, Gelders Archiv, Arnheim) schreibt man Odinck, auf dem Grundriss der Burg von 1680 Oding. - Die bayerische Ortschaft Oettingen im Ries, die sich aus einem alemannischen „-ingen“-Herrenhof entwickelte, wird schon um 750 im Güterverzeichnisse des Klosters Fulda als Besitzung in otingen aufgeführt. - Ein im Jahre 1000 urkundlich erwähntes Odingen (heute Oedingen / Lennestadt / Sauerland) liegt an der „Heidenstaße“, dem Fernweg von Köln nach Leipzig. Möglicherweise handelte es sich in einigen Regionen um eine Goden-Bezeichung bzw. um den ursprünglichen Kultname für heidnische Runen-Priester des Oding-Weistums. - Beispielhaft für meine Kultplatztheorie dürfte Altötting in Bayern sein. Der Kernbau dortiger Kirche ist um das Jahr 700 als wohl ältester noch bestehender Kirchenbau im rechtsrheinischen Deutschland anzusehen. Bis ins 20. Jh. hinein haben die Herrscher Bayerns nach ihrem Tode ihre Herzen in silbernen Urnen in den Wandnischen der Altöttinger Kapelle beisetzen lassen. Urkundlich tritt Altötting 748 ins Licht der Geschichte, unter dem Namen Autingas, der latinisierten Form von Ötting bzw. Oetingen, einer Pfalz der agilolfingischen Bayern-Herzöge. In der deutschen Version der „Historia Otingae, Munich“ von 1519 wird es „Stifft Alten Oting“ genannt. - Wie weit verbreitet der Begriff im alten Germanien war, siehe:  Woden- / Oden- / Gottes-Orte Auch in Island wird der Name im gleichen Sinne auffällig: Oddaverjar waren eine der mächtigsten isländischen Adelsfamilien im 12./13. Jh., deren Hauptsitz der Hof Oddi (oddi = Landspitze) war, welcher nach der Christianisierung zum Zentrum von Bildung und Gelehrsamkeit wurde. Zu dieser Sippe gehörte der Priester Sæmundur Sigfússon (Fróði = Gelehrter), der die Schriften der „Älteren Edda“ sammelte und dessen gelehrter Enkel, der Gode Jón Loftsson, in Oddi den Skalden, Historiker und Edda-Autor Snorri Sturluson ausbildete. Ob der ursprüngliche Begriff „Edda“ abgeleitet wurde von „Oddis-Buch“, oder von „oðr“, auch einem altnord. Wort für Poesie - also vom örtlichen Begriff für „Spitze (oddur = Speer-Spitze - Oddrún = Frauenname), oder von „Geist /Dichtung“ - ist wohl nicht zu entscheiden. Typisch für die alte Zeit - insbesondere für das runische Denken - war beim Gleichklang von Worten ein mehrschichtig deutendes Verständnis.
 
Eine der bestätigenden Grundlagen meiner Erkenntnisthese ist die Nachricht aus eddischer Mythologie vom Gotte Óð, Óðr. Der Umstand, dass er mit Óðinn nicht gleichgesetzt werden kann und als Ehemann der allgerm. Muttergöttin Feija-Freyja galt (Vsp. 25), erweist seinen Ursprung aus einer voraltnordischen, viel älteren, wahrscheinlich schon gemeingerm. Schicht. Auch Jan de Vries erklärte: „Óðr ist eine alte Gottheit, aus ihm ist Óðinn hervorge­gangen“. (Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, 1957, S.87) Sein Begriff weist ihn als Seelen- und Geistgott aus, denn altn. óðr ist das Seelen­leben und wohl auch der Verstand. In Vsp. 18,4 werden dem ersten Menschenpaar die Gottesgaben zuteil: „önd gaf Oðinn, óð gaf Hœnir, lá gaf Lóðurr oc lito góða“, „Atem gab Odin, Seele gab Hönir, Lodur die Wärme und gute Farbe“. Odin-Wodan schenkt Atem / Leben / Seele, während die beiden anderen göttlichen Erscheinungs­formen, Hönir („der Schwanen­gleiche“) und Lodur („der Fruchtbringende“; germ lôdiz, altn. lôð „Frucht / Ertrag“) Geist/Seele sowie Wärme und Farbe geben. (Der Schwan als Seelenbringer: Alarich Augustin, German­ische Sinnbilder als Hofgiebel­zeichen - Das Schwanengiebel­zeichen in Niederlän­disch-Friesland, 1942, S.90ff) Wie wären Sinn und Seele genau zu scheiden ? Dazu schreibt der Isländer Sigurdur Nordal: „önd, óðr: Hier wird eine Unterschei­dung gemacht zwischen dem Lebens­odem und der Seele. önd bestimmt die Lebens­funktionen, ist Teil des Lebens und ist Mensch wie Tier gemeinsam. óðr ist der ,göttliche Funke‘ im Men­schen, der auf höhere Mächte zurückgeht.“ (Sigurdur Nordal, Völuspa, 1980, S.48) Óðrörir, „Seelenerreger“, heißt der mythische Trank aus dem Speichel aller Götter, der höchste Gelehrsamkeit, Weisheit und Dichtkunst schenkt. Von diesem vortreff­lichen Met trank Odin, da begann sein Geist zu wachsen, er fühlte sich wohl, ein Gedanken führte ihn zum nächsten und er kettete Werk an Werk (Hávamál 140-141). Mit dem Begriff altn. óðr, germ. wôÞa „Gesang“, wurden Gesang und Dichtung bezeichnet und als Ad­jektiv beschrieb man damit Seelen­erregungen wie „erregt / wütend / rasend / toll“. Im heu­tigen schwed. Wortschatz gibt es noch odon, die „Rauschbeere“.
 
Zum glei­chen Wort­stamm gehören aengl. wôð „Ton / Stimme / Dichtung“, got. vods „angehaucht / begeistert / besessen“, germ. wôda, wôdaz „Wut / Zorn“,ahd. wuot „Wut / Hingabe / Begeisterung“, wuotgüssine „heftige Wassergüsse / Wol­ken­bruch“, altn. öðiveðr, „gewaltiger Wind“, norw. u. schwed. dial. oden „brüns­tig, sexuell erregt“, oda „Brunst / Lebensmut / Hitzigkeit“, mndl. woeden, „heftig begehren / in Liebe brennen / rasen / wahnsinnig sein“, neunorw. od „Raserei“. In diesem begrifflichen Rahmen kann die alleinige Bedeutung des Trankes Óðrörir nicht gelegen haben, welcher Odin zum sinnvoll-wirkvollen göttlichen Leben erwachen lässt und im be­zeichnenden Begriff des Gottes selbst verankert ist. Dieser wäre selbst dann nicht hinreichend ausgeschöpft, wenn wir ahd. wuot, altn. óðr im weiteren Sinne als Ver­zückung, Begei­sterung, Won­ne­rausch, Taumel, Glut, Inbrunst, Entbrennen, Hinge­rissensein, Aufruhr, Sturm, Be­seligung, Verklärung, Entrückung zu begreifen ver­suchten. Wir bedenken: „Götter sind seelische Mächte und daher nie einseitig bestimmt und im Grunde nur dem Erleben, nicht dem Begreifen zugänglich. Ihre Eigenart kann sich im Namen spiegeln und tut es zumeist, doch liegt sie nie im Wortbegriff, sondern im ganzen Umfang der Wortbedeutung. Nie wird es darum ge­lin­gen, von einer Seite oder einem Endbegriff aus ihr Wesen zu fassen." (Martin Ninck, Wodan und der ger­ma­nische Schicksalsglaube, 1935, S.32)
 
Jedenfalls dürfte der altgerm. Od-Gott der ODING-Epoche nicht sehr viel anders ver­stan­den worden sein als der hochmittelalterlich-eddische Óð-Gott, nämlich als Inkarnation sowie Spender von Geist und Seele, woraus sich auch seine Funktion als Schicksalsherr ergibt. Er ist der Gott jeglicher seelischen Erregung: Sturm­­gott und Erntegott, Kriegsgott, Runengott, Totengott und Herr der Dichtkunst, der Liebes­brunst, aber auch des Zaubers, der Tücke, der Maskeraden, der mensch­lichen Hingabe, der Ekstase und der Menschenopfer. Und kein Betrachter darf dabei über­sehen, dass Gottesseele und Menschenselbst immer ineinander aufge­hend und verwoben betrachtet wurden. Der arioind. Atman ist Seelengeber-Gott und Men­schen-Seele selbst. Ebenso wie es noch ein griech. Zauberpapyrus des 5. Jh. aus­drückt: „Erhöre mich, Hermes [...] denn ich bin du und du bist ich, dein Name ist der meinige [...] Denn ich bin dein Abbild.“ (Karl Preisendanz, Die griech. Zauber­papyri, Bd. 2, 1928-31, S. 46f u. 123) Hermes-Mercur wurde dem röm. Verständnis gemäß dem germ. Wodanaz gleichgesetzt.
 
Die germ. Lautfolge od, altd. ôd, ôt, altn. óð ist die Zentralsilbe der diversen Formen des Gottesnamens: Uuothanaz, Wodanaz, Wuotan, Wodan, Wodin, Vodan, Vodams, Guodan, Gudan, Voden, Godan, des Óð, Óðinn, Odin und Chrodo, Krodo, Lóður. Die Anlautformen auf „w“ oder „g“ sind sekundär, die Kernsilbe des germ. Wortes wod-god ahd. got, nhd. Gott war „od“; Gott ist: – Od. In Wuodan(az) verehrten die germanischen und keltischen (Teutates) Völker die lebendig wogende, wütende Seele, die allen Lebewesen innewohnt und sie dazu treibt, selbst in aussichtslosen Lagen einen trotzigen Kampf ums Dasein zu führen und ungeachtet aller widrigen Umstände mit ungeheurer Vehemenz zu kämpfen, zu lieben und zu wachsen. Sein Geschenk an die Menschen ist die heilige Lebenswut, die sie über sich und ihre Ängste und Schwächen hinauswachsen lässt und sie befähigt, ihr Schicksal und damit das Gesetz des Lebens bewusst und mit Leidenschaft zu erfüllen. An Wodans Rolle als Frucht­bar­keits­spender erinnert das niederbairische Wort wueteln für „sich regen und be­wegen / wimmeln / üppig wachsen und gedeihen”. Zum Krodo gab Conrad Bothe in seinen i.J. 1492 in Mainz gedruckten „Cronecken der Sassen" den Hinweis darauf, dass dieser „vergessene Gott" der Hauptgott der Sachsen gewesen sei. Die Ost­sachsen in der Harzburg riefen trotzig dem Frankenkönig Karl entgegen: „krodo, krodo is unse got !“ Die Sachsenchronik bringt eine Abbildung der von Karl umge­stürzten Krodo-Statue, die den Allgott im Spannungsbogen vom Sonnen-Rad bis zum Wasser-Fisch vorstellt. Er hebt das sechsspeichige Sonnen- oder Zeitrad em­por, den Gabenkorb trägt er als Motiv beglückender Fruchtbarkeit, sein wehendes Gürteltuch weist auf den Wind, den Odem dieser Welt, der alles am Leben erhält; die Gestalt steht auf einem großen Fisch, als dem Sinnbild für die Nahrungsfülle aus dem Wasser. Ein Großteil dieser, von jeglichem Universalgott erhofften Gottesgaben, die in Gestalt göttlicher Attribute verbildlicht wurden, müssten sich im begrifflichen Kern des Gottesnamens - im „od“ - wiederfinden lassen. „Krodowird aber eine mittelalterlich-kirchenchristliche Verballhornung bzw. Entstellung der ursprünglichen sächsischen Gottesbezeichnung „Odo / Od“ sein, denn „Krodo“ zielt auf Kröterich.
 
Dass sich der ruhige oder erregte Seelenzustand im Atem / Odem oft genug wider­spiegelt, lehrt der Anschauungsunterricht. Die Seele, als lebensspendendes geisti­ges Prinzip, wurde wie in griech. psychä, pneuma und lat. anima, als Lebens­hauch verstanden, als unsterbliche Verlebendigungskraft, welche auch das Wesen, Gemüt, den Intellekt und Wille bestimmt. So stehen die Begriffe ags. ôðian, öðian „atmen, riechen“ im folgerichtigen Verständnisrahmen, zusammen mit aengl. æðm „Atem / Hauch / Luft / Dunst / Wehen“, as. âðom, ahd. âtum, âdum. ostmd. Odem, ai. âtmán „Atem / Seele / Geist“. Ebenso das in der alten nordischen Poesie ge­brauch­te ôðala, welches „Gemüt / Natur / Wesen“ bedeutet. Im Ahd. wären daneben ­zu halten ôth, ôd „Neigung / Streben“ und Begriffe die Sinnes­arten beschreiben: ôdî „Leich­tigkeit / Freiheit / Möglichkeit / Gewandtheit / Leut­seligkeit“, ôthi, ôdlîh „leicht (zu tun) / willig / bereitwillig / geneigt / freundlich“, ôdmuot „demütig“, ôdmuoten „demütigen / erniedrigen“.
 
Die Wortwurzel von ahd. wuot bzw. altn. óðr („Seele / Geist / Gemüt“) ist zwar sprachgeschichtlich zu trennen vom Begriff der „o“-Rune ôðala, der „Eigentum und Erbe“ meint, doch nicht nur der altn. Poesiebegriff óðala („Gemüt / Natur / Wesen“) zeigt, dass nicht etymologisch, aber in der Ausdeutung beide Wortideen zu­sam­menflossen. Zum unveräußerlichen Landeigentum gehörte auch die gottgegebene unveränderliche Sippenseele, die charakteristische Väterart. Zur germ. Vorstellung von ererbter Sippenart, Sippenehre und Sippenseele schreibt W. Grönbech: „Zur Natur gehört der Körper. Wenn die Mutter ihr Kind geboren hatte, wurde es zum Vater getragen, damit er sehen sollte, welcher der alten Verwandten hier wieder ans Licht gekommen sei. [...] Die Seele verändert sich nicht. Kraftvolle Glieder, scharfe Augen, gelockte, helle Haare waren keine zufälligen Eigenschaften der Heldenseele, so wenig wie die Härte und Kälte eines Steins zufällige Eigenschaften sind, die eine Steinseele als Kleid anlegt. [...] Wenn eine Seele wiedergeboren wird, formt sie einen Menschen um sich mit solchen Gliedern, solchen Augen, solchen Haaren, denn anders vermag sie es nicht. ... Alle diese verschiedenen Bestimmungen von dem Wesen einer Seele verschmelzen in dem einen Wort: Heil. Die Seele ist Heil in dem allzusammen­fassenden Sinne, der sich uns auftut, wenn wir geduldig ihre Tätigkeit in ihrem ganzen Kreis verfolgen. Wenn das Heil zu Ende ist, dann, das wissen wir, ist das Leben zu Ende. [...] Die Verwandten bildeten zusammen eine Seele – und doch waren sie natürlich so und so viel Individuen. [...] Ein Mann der allein denkt und handelt, ist ein  moderner Begriff. [...] Ein Mann stand fest im Sippengehege und nur, was sich erreichen ließ, ohne diese Kette zu zerreißen, war überhaupt erreichbar.“ (Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, Bd. I, 1954, S.266ff, 279ff)
 
Insofern waren in alten Zeiten altn. óðr von ôðala nur schwerlich voneinander zu unterscheiden und zu trennen und ahd. uodal von Uuodanaz bzw. óðala von Óðinn ebenso wenig -, denn Gott galt letztlich als schenkender oder nehmender Schick­salsherr der Seele wie auch des Besitzes. Ahd. uodal, odhil, aegl. œðel, ôðel, as. ôðil, ais. ôðal bezeichnen „Vaterland / Heimat / Erbbesitz / Stammgut“, altn. ôðal „Eigentum / freier erblicher Grundbesitz einer Familie / Stammgut / Landeigentum der Odalsbauern / Heimat / Vaterland“. Wie unmittelbar mit dem Landbesitz Seelisch-Wesenhaftes verknüpft wurde, geht aus altn. óðalborinn, ais. aðalborinn, „von freier, edler Geburt / durch Geburt be­rechtigt“, hervor. Zur gleichen Wortfamilie gehören altn., ais. aðal „Art / Natur / Beschaffenheit / Wesen / Anlage“, nach anderer Quelle: „Begabung / Erbgut / Eigentum“; urn. aðalingaR,  germ. aðalingaz „Fürst / Edler“. Der freie Schollen­besitz adelte, dem Grundbesitzer legte man die besten Wesensarten bei. Ausgehend vom Begriff des „uodal / ôðal“, dem ländlichen Erbbesitz, wurden Ad­jektive für menschliche Eigenschaften gebildet, die germ. Vorstellungen ent­sprech­end, aus seelischen Kraftströmen herrühren: aengl. æðele „adlig / edel / vornehm / be­rühmt / herrlich / glänzend / kostbar / kräftig / jung / angenehm / natürlich / pas­send“, æðeling „Edler / Adliger / Fürst / Prinz / Held“, altn. öðlingr, eðlingr, urn. aðulinaR, germ. aÞalingaz „Herrscher / Fürst / Edler“. Man unterstellte mithin enges Ver­wobensein, ja ein gegenseitiges Bedingen von freiem Landbesitz und wesenhaft-seelisch-geistigen Qualitäten des Landeigners.
 
Da neben uodal die ahd. Form ôdhil („Besitztum / Heimat / Vaterland“) belegt ist, wird ahd. ôt, ôd „Erbe / Besitz“ daher abzuleiten sein. Die daraus gebildeten Namen sind Odo, Otto, Otfried, Ottokar. Der Vornamen Oda war vor allem im Mittelalter im as. Raum verbreitet, jedoch ist die hochdeutsche Form Ute bekannter. Erstmals erwähnt wird ahd. All-od in der fränkischen Lex Salica um 508, dann wieder im frühen 7. Jh. in der ebenfalls fränk. Lex Ribuaria sowie mehrfach in der Lex Baiu­variorum (743-748). In fränk. Zeit verstand man darunter insbes. das Familienerbgut, das sich vom Kauf- und vom Lehensgut unterschied. Dass mit Erbe und Besitz Wohlstand und Reichtum einherzugehen pflegen, versteht sich von selbst, und doch stammen die Begriffe ahd. ôd („Erbe-Besitz“) und ahd. ôd („Reichtum“) aus unterschiedlichen Stämmen: Das lautlich sehr verwandte got. aud, auda, aisl. auðr, ahd. ôd, ôt, aengl. éad, bedeutet „Vermögen / Schatz / Gut / Reich­tum / Glück / Wohlstand / Fruchtbarkeit / Gedeihen / Segen / Erfolg“. J. Grimm (GDM 890) erklärt es mit lat. felicitas. Ahd. ôtmahali, eigentl. „Reichtums­versprechen“ bzw. „Reichtum / Hab und Gut / Nutzen / Vorteil / körperliche, geistige, moralische Vor­züge / Tugenden“. In diesen Wortstamm gehören altn. auðna „Reichtum / Fülle / kost­bares Gerät“, auðstafr „Schatzstab“; altn. auðigr, as. ôdag, ahd. ôtag „reich / glücklich / selig“.
 
In der nordischen Mythologie (Gylf. 5) entstand die Urkuh Auðumla („Füllespenderin“) aus dem tauenden Urreif vor allem anderen Leben. Im weiteren Bericht (Gylf. 10) gebar Nôtt, die personifizierte Urnacht, drei Kinder, ihr erster Sohn war Auðr („Reichtum / Fülle“) oder Uðr. Die dann geborene Tochter hieß Jörð („Erde“), als drittes Kind erschien Dagr („Tag“). Uðr ist ein Beinahme Odins (Grim. 46). Wer mit Ud und Aud gemeint ist, dürfte deutlich sein: Odin, die Reichtum und Fülle spen­den­de Urseele. Als sie ins Sein trat, gab es noch keine Erde und keinen Tag, öde, wüste Leere breitete sich aus. Es wäre denkbar, dass deshalb altn. auðn „Ödland / Wüste / Mangel / Leerheit“ bedeutet. Dazugehörende Adjektive wären altn auðigr „öde“; wo nichts ist, braucht mit Widerstand nicht gerechnet werden, deshalb: altn. auðmjûkr „leicht zu bewegen / willig / demütig“. Germ., got. und altn. „au“ ist im Ahd. zu einem einfachen langen „ô“-Laut geworden. W. Hauer führte aus: Sowohl ôdal, wie auch die anderen germ. Entsprechungen mit auðna („Schicksal / Glück“) und auðr („Reichtum“) gehen auf die indogerm. Wurzel audh zurück. (J. Wilhelm Hauer, Schrift der Götter, 2006, S.126f, 199)
 
Aufschlussreich ist die Weltenstehungsfolge wie sie im eddischen Gylfaginning 10 berichtet wird. Hier ist die alte Vorstellung von der Urwerdung zu hören: Aus dem Unlebendigen - mythologisch umschrieben durch den altn. Riesen Narfi („Toter“) - erwuchs die Urnacht (altn. „Nött“), diese hatte nacheinander drei Kinder: Auð („Fülle / Reichtum), dann Jörd („Erde“) und Dag („Tag“). Mit Auð beginnt die altnord. Genesis, so wie in der über tausend Jahre älteren Runenreihung des ODING die Werdung der Dinge mit Od anfängt. Weder kann Auð an dieser Stelle nur allein Reichtum bedeutet haben, es sei denn, man verstand darunter nicht nur materielle Güter, sondern auch die geistige Fülle an Urideen und göttlichem Genius aus denen die weitere Schöpf­ung erwuchs -, noch kann Od zum Runenreihenbeginn allein „Besitz / Landgut“ ge­meint haben, es sei denn man habe darunter mehr als nur stoffliche Besitztümer im Sinne gehabt. Im Althochdeutschen soll ot, od, oda „Besitz“ bedeuten und ōt „Glück“. Im Nibelungenlied, dem deutsch-germanischen Nationalepos ist Uote / Uta / Ute die Mutter der Burgunderhelden und Siegfrieds Frau Kriemhild. Da die epischen Bur­gunder symbolhaft stel­lver­tretend für das gesamte germ. Volk auftreten, darf auch die Uta-Oda als Urstammmutter verstanden werden. Ihre Namens­bedeutung wird ebenso wie bei Odilie / Odile / Odilia / Ot­tilie, germ. auch Oda, als „Erbgutherrin / Besitzerin“ bezeichnet, von ahd. ot-od-oda „Ur­be­sitz“.
 
Die katholische Kirche befeiert in ihrem Kultkalender einige hervorragende „Heilige“ des Namens, so die Odilia / Ottilie von Köln, Oda von Amay, Oda von Brabant, den Odo / Odilon von Cluny, Odo von Cappenberg; ein Odo oder Eudes war im 9. Jh. Frankenkönig. Eine Odilia gilt als Gefährtin der Ursula von Köln, eine andere heilige Odilia soll von 1165 bis zum 14.12.1220 in Lüttich gelebt haben. Ihr Gedächtnis wird örtlich am 14.12. gefeiert, während die Merowinger-Prinzessin Odilia, die im 7. Jh. lebte, am 13.12. ihren Gedächtnistag erhielt. Die Sage berichtet, sie sei als Tochter des Frankenherzogs vom Elsass blind zur Welt gekommen, und hätte erst während ihrer Taufe das Sehen wiedergefunden. Ihr Vater ließ das erste Frauenkloster im Rheintal erbauen und seine Tochter Odilia wurde dessen Äbtissin. Später habe sie ca. 40 Kilometer von Straßburg in den Mittelvogesen die Abtei von Hohen­burg auf dem nach ihr benannten 763 m hohen Odilienberg gegründet. Als Schutzpatronin der Blinden und Augenkranken wurde sie seit dem Mittelalter als Heilige verehrt. Ottrott heißt das Dorf am Fuße des Odilienberges. So bieder vertrauenheischend und zuverlässig die christenkirchliche Legende der Heiligen Odilie streckenweise auch klingen mag, sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eine seltsame Bewandtnis mit dieser Person hat. Die Realität muss anders ausgesehen haben, wir können die Wahrheit nur erahnen. Denn so wie das vorchristlich geschaffene kalendarische ODING-Runensystem mit Od beginnt und die eddische Weltwerdung mit Auð, so beginnt das kirchenchristlich redigierte Kultjahr zum tiefsten mittelalterlich geglaubten Lichtjahresstand des 13. Dez. mit der „Heiligen Od-ilie“. Kein vernünftiger Mensch wird glauben können, die „Heilige“ sei zufällig an einem 13.12. gestorben. „Rein zufällig“ müsste dann auch die zweite „Heilige“ zum gleichen Termin ver­schieden sein, die Luzina / Lucia / Lussi, welche genau wie die Odilie das Augenpaar als Attribute besitzt, beide führen die Symbole der Erdgöttinnen: Kessel oder Krug; die Lucia noch dazu den Stab der germanischen Seherin, der Völva („Stabträgerin“). Ein alter Bauern­spruch gibt Bescheid, warum die beiden allegorischen Gestalten Augenprobleme haben müssen: „Veit [15.06.] hat den längsten Tag, Luzia die längste Nacht vermag.“ Aus den „Blind­nächten“ des tiefsten Son­nen­­standes und des Schwarzmondes (bei lunisolarer Kalen­derrechnung), ge­schieht die spätere Heilung der rol­lenden Him­mels­augen Sonne und Mond. Sie werden wieder sehend und das Odal, die Hei­materde, erneut erhellen. Luzia bedeutet lat.  „die Leuchtende“ und die Odilia wurde als „Mädchen des Lichts“, oder „Botin des Lichts“ bezeichnet. Allzu deutlich haben die beiden in der geglaubten Wintersonnenwende stehenden heiligen Kalender-Frauen die Funktion lange vor ihnen verehrter Volksgöttinnen übernehmen müssen. Beda Venerabilis, der angelsächsische Kirchenschriftsteller des 8. Jahr­hunderts, informierte uns, dass seine/unsere germ. Vorfahren in der Winterson­nwende das Fest der Modraniht („Nacht der Mütter“) gehalten hätten. Unschwer erkennen wir in den Kalen­der­müttern die alten Göttinnen wieder, - nur ein wenig christlich überformt. Zumindest wäre anhand der Namen dieser beiden verhehlten altgläubigen Ersatz-Göttinnen die hohe Bedeutung einmal des Od-Begriffes ablesbar, zum andern ihr enger Bezug zum Licht, zur Erhellung, besser gesagt zur Erleuchtung im weitesten Sinne, - nicht allein im stofflich-sinnlichen oder astro­nomischen, vielmehr im übersinnlichen heiligen Verständnis höchster Gottes­ge­heimnisse. 
 
Das „Oding-Wizzod“ dürfen wir als unser germanisches Allod begreifen. Der Begriff Allod ist zusammengesetzt aus ahd. al (= alles / ganz) und ôd (= Gut / Vermögen / aber auch Geist und Seele). Erstmals erwähnt wird Allod in der fränkischen Lex Salica um 508, dann wieder im frühen 7. Jh. in der ebenfalls fränk. „Lex Ribuaria“ sowie mehrfach in der „Lex Baiuvariorum“ (743-748). In fränk. Zeit verstand man darunter insbes. das Familienerbgut, das sich vom Kauf- und vom Lehensgut unterschied. Da der Geist-Seelenbegriff mit der altheimisch-heidnischen Religion verbunden war, trat er in christlicher Zeit zurück und wurde schließlich ganz verdrängt. Immer mehr bezog sich der Begriff auf liegende Güter. Immer mehr auch wurde Allod (al[l]odium) als im vollen Eigentum stehender und unbelasteter Besitz in Gegensatz zum Lehen (beneficium, feudum) als abgeleitetem Besitz gestellt. So wurde z.B. 1226 in einer Schenkung an die Kirche Frienisberg (Kanton Bern/Schweiz) betont, die Vergabung erfolge „non per beneficium sed per proprietatem als liberum allodium“, d.h. „nicht zu Lehen, sondern im Eigentum als freies Allod“. Weil wir odingische Neuheiden aber den ganzheitlichen Begriffsinhalt von Allod wieder gültig sein lassen wollen, verstehen wir darunter den frei verfügbaren geistigen Besitz unserer Runenbotschaft aus dem unmittelbaren Munde der Ahnen -; niedergelegt im „ODING-Wizzod“.
 
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