



RUNENRÄTSEL VON ROSENGAARD
Die Goldhörner des Hlewagast-Holtijar
Sicherlich die bedeutendsten germanischen Kulturzeugnisse der frühen Völkerwanderungszeit sind die beiden zusammengehörenden Goldhörner von Rosengaard, dem späteren Gallehus/Galgenhaus (weil hier der Galgenort von Mögeltondern lag), einer kleinen Ansiedlung im deutsch-dänischen Grenzbereich. Das runenlose Horn wurde 1639, das beschädigte unvollkommene, sogen. „Runenhorn“ 1734, etwa an gleicher Stelle, im Bereich des Landweges von Ribe nach Tondern, gefunden. Sie gelangten in die königl. Kunstkammer zu Kopenhagen, aus der sie 1802 von einem gewöhnlichen Dieb gestohlen und eingeschmolzen wurden. Ihr Aussehen blieb nur deshalb sehr genau überliefert, weil vier zeitgenössische Kupferstiche vorhanden sind. Der reiche figürliche Bilderschmuck der Kunstwerke (Sösdala-Stil) lässt eine zeitliche Einordnung etwa um das Jahr 400 zu. Das unbeschädigte Goldhorn wog 6 Pfund, war 67,6 cm lang und an der Spitze offen, so dass die Kopenhagener Museumswärter darauf zu blasen pflegten. Es war indes nicht schwierig, die kleine Öffnung zuzuhalten, um es als Trinkhorn zu nutzen (Fassungsvermögen 1,3 Liter). Beide Hörner maßen im oberen Umfang 30 cm. Der eingepunzte und aufgelötete Bilderschmuck überzog sie so vielgestaltig und ist nur zu einem geringen Teil unstrittig deutbar, weshalb bisher noch keine umfassende widerspruchsfreie Erklärung angeboten werden konnte. Wir wollen uns hier auf einige Punkte gesicherter Betrachtungen beschränken.
Das beschädigungsfreie runenlose Kultgerät war so gebaut, dass über den eigentlichen Goldhornkern 13 reich verzierte Goldreifen gestreift waren. Auch für das unvollkommene Runenhorn sind im ursprünglichen Zustand 13 Reifen anzunehmen. Der zu untersuchende Runenschriftzug lautet: 
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, d.h. ek hlewagastiR holtijaR horna tawido, zumeist übersetzt: „Ich Ruhmesgast Holtijar (Sohn des Holt) Horn anfertigte“. Es scheint sich, oberflächlich betrachtet, um eine schlichte Herstellerinschrift bzw. um das Signum eines Werkmeisters zu handeln - allerdings in stabgereimter Form; dreimal erscheint der h-Anlaut. Wer Runen deuten will, darf aber nie vergessen, dass er einen Verrätselungswillen vor sich hat, dass in der Regel ein mehrschichtiges Geheimnis gelöst werden will. Von der weitreichenden Vieldeutigkeit jedes einzelnen Wortes muss ausgegangen werden. Ich komme nicht umhin, die übliche Übersetzung anzuzweifeln. Zumindest ist anzunehmen, dass sich ein Könner von der Höhe des Holtijar nicht ohne tiefsinnige Begründung in selbstüberhebender Manier „Ruhmesgast“ benannt haben wird. Der Begriff gastiR, „Gast“, wurde nach Befund diverser Inschriften nicht im Sinne von „Fremder“ genutzt, sondern etwa wie „Geselle/Gefährte“ verstanden. Sein eigentlicher Name Holtijar kann zwar „Sohn des Holt“ meinen, ebensogut auch „Abkömmling/Angehöriger der Holsten“, jener germanischen Stammesgruppe, die dem Holstengau/Land Holstein die Bezeichnung lieferte. Geradeso gut ist die Ableitung von germ. holta, aisl. holt = Wäldchen, Gehölz vorstellbar, dann wäre sein Hauptname: „Der vom (heiligen) Holt/Hain“ (Hainpriester). Wenn er sich zusätzlich als Hlewagast bezeichnete, so denke ich dabei eher an got. hlaiw = Grab, an. hlaiwa = Grabhügel, also „Grabhügelgast“. Spricht er doch durch das Medium seiner herrlichen Kulthornschöpfung als Grabhügelgast, als Jenseitiger zur Nachwelt - auch zu uns. Wer solch ein Werk erschafft, der ist besessen von dem Wunsch, ein Zeugnis seines Denkens weit über den eigenen Tod hinaus zu hinterlassen - der erhofft, dass er über Jahrhunderte hinweg als sprechender Toter vor lebendigen Lauschern stehen wird. Da die Heruler Schleswig-Holsteins, Jütlands und der dänischen Inseln sprachlich eine Brückenstellung zwischen den nord-, west- und ostgermanischen Sprachgruppen innehatten, wären mundartliche Übergänge von „æ“ in „ä“ bis ins gotische „ë“ nicht auszuschließen. Genau ist die sprachliche Stellung der Rosengaardschen Runeninschrift nicht zu bestimmen. Es könnte sich im hlewagastiR auch eine herulische Form des aisl. Adjektivs hlævi, lit. sleiva-s, idg. kleio = „krummbeinig“, verstecken; er wäre dann der „Krumm-/Kurzbeinige (Geselle/Gast)“. Das überrascht und müsste zunächst Unwilligkeit hervorrufen, aber auf dem zweiten Ring des runenlosen Hornes hat sich der Meister selbst - sein herrliches Werkstück, das gottesdienstliche Weihehorn tragend - abgebildet: mit vollem Kinnbart, der hohen Stirn des alternden Mannes, mit weit über den Rücken wallendem Haar (oder starkem Zopf), mit normalproportioniertem Oberkörper, zu dem das Beinwachstum nicht passen will - sicherlich aufgrund einer Kindheitserkrankung, wenn nicht ein Erbfehler vorlag. Er war gewiss das was man einen Zwerg nennen würde. Vergleicht man seine Körperhöhe mit dem vorgehaltenen Horn, dessen Länge wir ja kennen, dürfte er nicht viel mehr als 1,3 Meter gemessen haben (Abb. 2. Gestalt von rechts). Der wissensgewaltige, kunstsinnig-schmiedende Zwerg erfuhr wohl eher ein tragisches Lebensgeschick. Sein Gottsuchertum kann auch eine Art Notschrei, eine Verzweiflungsbitte an die Schicksalsmächte gewesen sein. Wer gab dem körperlichen Zwerg und Geistesriesen Holtijar die Menge des Rohgoldes, damit diese Kunsthörner geschaffen werden konnten ? In den Jahrzehnten zuvor war von den Goten her viel Gold aus Beutegewinnen und Tributzahlungen nach dem Norden geflossen. War Holtijars Kultgemeinde so reich, oder stand er im Dienst eines mächtigen Fürsten ? Fragen entfalten sich, auf die wir noch keine Antworten wissen.

































Wenn nach Holtijars Kalkül sein Beiname (hlewagast) auch - oder in erster Linie - der „Ruhmvolle“ bedeuten sollte, so wird sich dieses schwülstige Adjektiv nicht auf seine Person, sondern auf die Buchstabenanzahl dieses Begriffes bezogen haben. Er setzte diese von ihm selbst geschaffene Worteinheit mit dem hohen Sinngehalt der Zahl 13 in eins. Das mag seltsam klingen - ekhlewagastiR (ich Hlewagast) wurde ohne Worttrenner mittels 13 Runen geschrieben. Im altgermanischen Schriftdenken waren die Buchstaben dreigesichtig: Sie verkörperten Lautwerte, ebenso Begriffs- und Zahlwerte. Der linksläufige Gesamtzahlenwert jener 13 Buchstaben beträgt 169, das ist 13 x 13. Damit ist dieser Anfangsteil der Runenhorn-Inschrift als eine Art Herzstück der priesterlichen 13er-Gematrie des Hlewagast-Holtijar zu begreifen. Die Gesamtinschrift besteht aus 13 verschiedenen Runen, geordnet in 13 Silben; der doppelt geritzte hervorgehobene Inschriftteil beinhaltet 2 x 13 Runen. 13 aufgelötete menschliche Gestalten, 13 Vierfüßler und 13 eingepunzte Fische zeigt das Runenhorn. Wir wissen seit der Veröffentlichung von Heinz Klingenbergs grandiosem Buch 1, dass dem Schriftzug, wie auch dem reichhaltigen ornamentalen Sternchen- und Zackenschmuck, allein die Aufgabe zugewiesen war, Zähleinheiten beizusteuern, um damit das nicht endende Loblied der 13 zu singen. Immer wieder erscheinen Zahlen, welche keine andere Bedeutung besitzen, als dass es Vielfache der 13 sind, sich also durch 13 restlos teilen lassen.
Die Gesamtinschrift umfasst 32 (Quersumme 5) Runen. Beim ersten Buchstaben von tawido, dem
, handelt es sich aber um eine Binderune, welche unter dem linken Abstrich einen zweiten aufweist, so dass ein linksgewendetes
erscheint (s. Abb. Schriftzug). Auf diesem einem Stab stehen mithin zwei Buchstaben, das „t“
und das „a“
. Auf sämtlichen Kupferstichen ist der zweite Abstrich zu erkennen, besonders deutlich auf der Originalzeichnung von G. Krysing, 1734. Dann handelt es sich also eigentlich um insgesamt 33 (Quersumme 6) Runen. Das Unglaubliche ist Realität: Der Zahlenwert dieser Inschrift, zuzüglich ihrer 16 Trennungspunkte, beträgt 429, also 33 x 13. Das Wort tawido transportiert demnach einen weiteren Begriff, nämlich atawido. Darin stecken die Nomina „at(t)a“ d.h. „Vater“ sowie „wido“ d.h. „Wald/Holz/-Baum“; zusammen vielleicht „Waldvater“. Es könnte sich sehr wohl um einen Männernamen handeln, führt doch die Scheibenfibel von Soest den Namen „Atano“ vor - und nordische Personennamen „WidugastiR“ (Waldgast) sowie „Widu- hu(n)daR“ (Waldhund / Wolf) sind belegt; in der Lex Salica (Fö. 1568) findet sich ein „Widogast“. Legt man die Prinzipien der vorangestellten Deutung zugrunde, müsste das neue Wort atawido vor tawido eingefügt werden, denn sein Anfangsbuchstabe „a“
steht in rechtsläufig zu lesender Langzeile vor dem „t“
. Die nur in Gedanken vorhandene Runenzeile würde lauten: ek hlewagastiR holtijaR horna atawido tawido - übersetzt: „Ich Ruhmesgast Holstensohn (der vom Hain) Horn Waldvater anfertigte“. Dieser Satz klingt bedeutend gefälliger und verständlicher als die bisherige Übersetzung, bei der immer der Eindruck herrschte, als würde eine echte Satzaussage - über Mitteilung der Hornerschaffung hinaus - fehlen. So beantwortet sich die Frage, ob uns damit die Bezeichnung des Runen-Goldhornes bekannt gemacht wurde, fast von selbst: Der Hainpriester schuf das berühmte Horn „Waldvater“. Bekanntlich war es in alter Zeit gern geübter Brauch, den Gerätschaften und Waffen, z.B. Schwertern, Individualnamen zu geben. In dem isländ. Märchen von „Thorstein Hofkraft“, lautet eine Stelle: „Da wurden zwei Hörner in den Saal gebracht, kostbare Kleinode, dem Jarl Agde gehörig, die hießen Hwitingar, sie waren zwei Ellen hoch und mit Gold beschlagen.“ Es ist recht beachtlich, dass es sich im nordischen Märchen ebenso um ein Paar von Goldhörnern handelt, wie bei den echten Fundstücken. Trotz des zusätzlichen Wortes - dem wahrscheinlichen Geheimnamen des Rosengaardner-Zauberhornes - bleibt davon die vorgestellte Gematrie unberührt, denn gezählt wurden nur die faktisch vorhandenen Buchstaben und nicht die dazuzudenkenden.






Selbst wenn ernüchternd in Rechnung gestellt wird, dass das Fundament dieser Erkenntnisse allein die irrtumsfähigen Kupferstiche sind - nicht aber das Originalkunstwerk -, dann bleibt trotzdem die Tatsache einer unzweifelhaften Hochschätzung der 13 als religiöse Symbolzahl. Ebenso unangefochten ist die Gestalt der Inschrift, bis auf ein einziges Pünktchen. Die Kupferstiche von G. Krysing, 1734, und R. Frost, 1736, zeigen nicht 4, sondern 5 Trennungspunkte hinter „horna“, so dass eine Zähleinheit mehr vorhanden wäre, welche einige Rechnungen zunichte machen würde. Ich denke aber, dass man - in Anbetracht dessen, dass sich Holtijar von dem Gedanken leiten ließ, jede offene Darstellung der Zahl 5 im Schriftzug sorgsam zu vermeiden - weiterhin von einstmals nur 4 Trennungspunkten im Originalhorn ausgehen darf. Beim 5. Punkt muss es sich um eine kleine Verletzung gehandelt haben, die o.a. Kupferstecher irrtümlich als reales Bildelement berücksichtigten. Klingenberg zog in voller Berechtigung die zeichnerisch sorgfältigste und zuverlässigste Darstellung von J.R. Paulli, 1734, heran.
Die neue Schau der Runen-Langzeile von Rosengaard befähigt zusätzlich zum Basisverständnis germanischer Runengematrie, welche doch eigentlich der Zahl 6 höchste Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Schließlich gehören 24 Runen (Quersumme 6) mit 6 Selbstlauten zum Gesamtsystem und die Aufsummierung der 6 (= 21) führt zum Sinnzeichen des Asen-Gottes
, des mythischen Runenschöpfers Wodanaz. Auch Hlewagast-Holtijar huldigte nicht allein der 13 und der Weltallzahl 5, sondern ebenso der anderen, jüngeren theologischen Kosmoszahl, der 6. Führt doch die 5 aus sich heraus zur 6 hin: Die Aufsummierung der 5 ergibt 15 mit Quersumme 6 - geradeso wie bei den 33 Runen von Rosengaard mit ihrem Zahlen-Gesamtwert 429 die Ziffernsummen jeweils 6 ergeben. Dass derartige Techniken von den Griechen der Antike geübt wurden, bestätigt ein hervorragender Kenner: „So benutzte man neben der Einsetzung der üblichen Zahlenwerte für die Buchstaben auch die Ziffernsumme, die sich ergibt, wenn man den Stellenwert der Buchstaben außer acht lässt und die Zahlen 1-24 durch a - w ausdrückt. ... Wollte das Ergebnis nicht genau stimmen, so wurden Buchstaben ausgelassen oder hinzugefügt, ja man änderte auch das ganze Wort oder den ganzen Satz.“ 2

Klingenberg geht bei Durchzählung der Runenreihe, also der Zahlenzuteilungen für die germanischen Buchstaben, von einem rechtsläufigen FUTHARK-Verständnis aus. Die bisher angegebenen 13er Werte wurden nach linksläufigem ODING-Runenverständnis 3 erzielt. Nach Klingenbergs rechtsläufiger Berechnung erscheint für ekhlewagastiR zwar auch ein 13er Wert, jedoch nur ein schwächeres 11 x 13. Und sein krönendes Spitzenergebnis 169 (13 x13) wird erbracht durch Zusammenziehung der Worte holtijaR horna, zu deren Zahlenwerten noch die zwischen ihnen befindlichen 4 Trennungspunkte hinzuaddiert werden müssen, um das Gewünschte zu erreichen. Ein zweites Mal wird das Ergebnis erzielt durch Addition der Anlautrunen aller 13 Silben mit Zuschlagung der 4 Worttrenner. Trotzdem - unbestreitbar gelang es Klingenberg, in einem geistreichen Verfahren, ein rechtsläufig-gematrisches Regelwerk im Runenschriftzug überzeugend glaubhaft zu machen. Es bleibt aber festzuhalten, dass die einzige von Holtijar konzipierte - durch Trennungspunkte abgeteilte und als solche hervorgehobene - Worteinheit von 13 Runenbuchstaben nach ODING-Zählweise das Optimalergebnis (13 x 13) vorführt. Die von Klingenberg geoffenbarte Mathematizität der Runeninschrift von Rosengaard zeigt sich in ihrer ganzen Kompliziertheit eigentlich darin, dass die Multiplikatoren der 13 in den vier von ihm vorgeführten Inschriftteilen (mit Zuzählung der Trennungspunkte) immer gleich der Runenanzahl in diesen vier Buchstabengruppen sind (S.30). Oder anders ausgedrückt: Sooft die 13 in einer Wortgruppe enthalten ist, soviele Runen besitzt diese Wortgruppe auch. Das ist so unglaublich, dass entweder ein fast unwahrscheinlicher Zufall seine Hand im Spiel gehabt haben müsste oder aber der Schöpfer dieses planvoll durchmathematisierten Runenwerkes einen schier übermenschlich anmutenden Intellekt einbrachte.
Es kommt noch besser: Der gesamte Langvers ist durch Punkte in vier Abschnitte geteilt. Der erste Abschnitt zählt 13, der zweite 8, der dritte 5 und der letzte, „tawido“, 6 Runen. Im Gegensatz zu den doppelstrichigen Runen der ersten drei Abschnitte ist „tawido“ einfach geritzt, weshalb wir seine Runenzahl halbieren und auf den Wert 3 gelangen. Die Inschrift stellt ja einen geschlossenen Kreis dar - nach „tawido“ folgt wieder das zweibuchtabige „ek“ und dann das Anlaut-h von „hlewagastiR“. Dieses Anfangs-h
hob der Werkmeister heraus, indem er bei ihm, im Gegensatz zu den beiden folgenden h-Anfängen, den Querbalken nach rechts abfallen ließ. Damit ergibt sich eine Zahlenreihe: 13 - 8 - 5 - 3 - 2 - 1. Was Holtijar hier vorführt - bzw. der kongeniale Klingenberg -, ist die Zahlenfolge des „Golden Schnitts“, der im Altertum bekannt war, in Vergessenheit geriet und erst von dem Italiener Fibonacci (1180-1250) wiederentdeckt wurde. Die Fibonacci-Reihe - man müsste sie von nun an eigentlich Hlewagast- oder Holtijar-Reihe nennen - hat die Eigenschaft, dass sich die folgende Zahl aus der Addition der zwei vorangegangenen Zahlen dieser Reihe ergibt. Über (oder unter) den nach Goldenem Schnitt gegliederten Buchstabengruppen lassen sich nun Sterne - Pentagramme - konstruieren, indem das geistige Auge mit den gegebenen Zahlenwerten Kreise schlägt und die Schnittpunkte verbindet (S.336ff). Es entsteht eine Folge von Pentagrammen (Weltallsymbolen), die ins Endlose führt - sowohl ins menschlich und untermenschlich Geringe, wie anderseits ins kosmisch Weite und Göttliche. Nicht umsonst nannte man den „Goldenen Schnitt“ auch divina proportio, „göttliche Teilung“ einer Strecke. Ein Hauch der Unendlichkeit weht uns an, denn in der Holtijar-Reihe weisen die jeweiligen beiden Endwerte immer auf den nächst größeren Wert - es gibt immer noch ein Größeres, niemals ein Größtes. Solche sinnvolle Wortreihung zu erklügeln, welche diesen Buchstaben-Zahlendom entstehen lässt, muss - ohne Einschränkung - als ein geistiges Weltwunder bezeichnet werden.

Wie unser Ohr gewisse, durch Zahlen ausdrückbare Schwingungsverhältnisse der Töne als besonders angenehm empfindet, so erscheinen auch dem Auge bestimmbare Raumaufteilungen als besonders gefällig. Seit den Pythagoreern versuchte man deren Gesetze durch die Regel des „Goldenen Schnitts“ zu erklären: In seinem Sinne heißt eine Strecke dann geteilt, wenn ihre kleinere Teilstrecke zur größeren in demselben Verhältnis steht wie die größere Teilstrecke zur ganzen Strecke. Der Grund für seine Bevorzugung liegt aber nicht so sehr auf mathematischem als auf philosophischem Gebiet. Aus pythagoreischer Schule stammt die Lehre, dass die Schönheit und Vollkommenheit der Schöpfung durch mathematische Formen erklärbar sei. Diejenigen Dinge, an denen Figuren von mathematisch höchster Vollkommenheit zu finden sind, spiegeln danach am reinsten die durch Gott gesetzte Ordnung und Schönheit im Weltall. Zu diesen Gebilden zählte man die regelmäßigen Figuren, die in zweifacher Art, als ebene und als räumliche Gestalten, auftreten. Während es in der Ebene unendlich viele regelmäßige Vielecke gibt, finden sich im Raum nur 5 regelmäßige Vielflächner, also ebenflächig begrenzte Körper, bei denen alle Kanten und alle Winkel gleich sind: Tetraeder, Kubus, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder. Das Dodekaeder, dessen 12 Begrenzungsflächen aus regelmäßigen Fünfecken gebildet ist, wurde sogar zum Sinnbild der gesamten Weltraumordnung. Die fünf sogenannten „Platonischen Körper“ zogen natürlich die Aufmerksamkeit auf ihre Begrenzungsflächen. Regelmäßige Drei- und Vierecke sind rasch zu finden. Das regelmäßige Fünfeck ist bedeutend schwerer zu erreichen. Man gelangt dazu erst bei tieferem Einstieg in die mathematische Wissenschaft, mit Hilfe der Teilung durch den „Goldenen Schnitt“. Damit erklärt es sich, dass man gerade mit dem regelmäßigen Fünfeck 2 (
) manche Vorstellungen von geheimnisvollen Kräften und Eigenschaften verband. Da nun das Verhältnis des „Goldenen Schnitts“ an das regelmäßige Fünfeck gebunden ist, so verknüpften die alten Weisen mit ihm den Begriff der Vollkommenheit und Schönheit und projizierten diese Maßverhältnisse in die himmlische, jenseitige Welt ihrer religiösen Vorstellungen. Das Pentagramm war nach spätpythagoreischer Lehre (Lukian, De laps. 5) Symbol des Heiles und der Rettung !

Deshalb wölbt sich um die Rosengaardsche Runenzeile ein ins unendlich Große wachsendes und ins unendlich Kleine weisendes Sternenzelt - bestehend aus Pentagrammen -, das nur vom mathematischen Verstande geschaut und begriffen werden kann (s. Abb. 5). Ein Gotteslob, wie es irrationaler und abstrakter nicht auszudenken ist. Der Fünfstern war das Geheimzeichen der Pythagoreer und, wie wir erkennen, auch der germanischen Runenmeister. Ihm hat man einen solch hohen Geheimnisgrad zugemessen, dass er als Schlüsselgedanke zwar gehandhabt, aber nicht ins Bild gesetzt wurde. Den fünfzackigen Stern verbarg man bewusst. Holtijar brachte Sterne der verschiedensten Anzahl von Zacken auf das Runenhorn, doch nicht einen mit fünf Spitzen. Er punzte dreispitzige Sternchen, deren Linien nicht - andere aber sehr wohl - zum Pentagramm (mit zwei Spitzen nach oben) ausgezogen werden können (S. 333ff). Die konsequente Verschleierung des geistig oder faktisch Vorhandenen wurde ebenso im Gefüge des Runensatzes beachtet. Er besteht aus 5 Wörtern, doch durch Nutzung von nur vier Worttrennern, also durch Zusammenziehung von ek hlewagastiR zu einem Zeilenblock, entstanden die vier Buchstabenfolgen/Wörter, mit denen der Meister operierte. Aus diesen Beobachtungen am Runenhorn des Holtijar wird einmal mehr die Bestätigung für eine parallellaufende runenmeisterliche Verständnistradition linksläufiger ODING-Zählweise ersichtlich: Die linksläufig 5. Rune ist das mannaz-Urmensch-Zeichen (
), welches das einzige runische Lineargebilde ist, welches sich (bei aufeinanderzulaufenden Standstäben) gedanklich zum Pentagramm/Drudenfuß (
) vervollkommnen lässt. Es ist nur folgerichtig, wenn wir daraus eine Aussage germanischer Theologie schöpfen: Der Mensch trägt nicht nur anteilhaftig den Kosmos in sich - im Sinne der Hermetiker: „Mikrokosmos gleich Makrokosmos“, sondern er gilt als grundsätzlich befähigt, sich ins Unendliche hinauf-, aber auch hinabzuentwickeln.


Ein Anflug des tieferen Verständnisses erreicht uns mit dem Wort des Griechen Solon, der im Altertum zu den sieben Weisen gerechnet wurde: „Viel Gewaltiges gibt es auf Erden, doch das Allergewaltigste ist der Mensch.“ Und Aristoteles legte dar, dass allein der Mensch der reinen theoretischen Betrachtung fähig sei und diese Qualität dem göttlichen „Denken des Denkens“ gliche. In sämtlichen indogermanischen Sprachen hat das Wort „man“ seine Wurzeln in der Bedeutung „denken, geistig erregt sein“; das ist auf „Mensch“, also auf Mann und Männin, Mann und Frau, gleichermaßen bezogen. So fällt es nicht schwer, jene religionsgeschichtliche Verknüpfung nachzuvollziehen, die die hellenistischen Glaubenssysteme, insbesondere gnostische Schulen, durchzieht, dadd nämlich der „Urmensch“ und die „Weltseele“ identisch seien. Unter dem „Urmenschen“ verstand man die inkarnierte Gotteskraft, also eine mit Weltmaterie vermischte göttliche Emanation. In der Gnosis, insbesondere im Manichäismus spielte die 5-Teilung die entscheidende Rolle: Wie die Lichtwelt, so bestand der Ur-mensch (
) aus 5 Gliedern, die jedes für sich auch als selbständige Gottwesen gefasst wurden, und diese Art der Teilung setzte sich durch alle Eigenschaften Gottes oder der Seele oder der Welt fort. Nach jenen altgläubigen Betrachtungen ist mit der urzeitlichen Vermischung von irdischem Stoff und göttlichem Geist auch die Menschensehnsucht nach Erlösung von der Materie und ihren körperbedingten Krankheiten erzeugt worden. In die Idee vom Urmenschen projizierten die Gläubigen ihr eigenes erlösungsbedürfiges Menschsein hinein und erhofften, dass er - ihr androgyner Urstammvater - als Heilbringer wiederkommen möge, um sich und seine Menschenkinder in einer gotterbarmenden Rettungstat zu erlösen. Bekanntlich gelang es der einzig auf den Juden Schaul/Paulus zurückverfolgbaren christianischen Hoffnungskonstruktion, diese breite iranisch-hellenistische Glaubensströmung für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, indem sie einen der vielen galiläischen Wanderprediger (Jehoshua/Jesus) als diesen wiedergekommenen „Urmenschen“-„Menschensohn“ bezeichnete. Dass der uns namentlich unbekannt gebliebene altgermanische Runenschöpfer mit seinem „Urmensch“-Symbol:
(das die Bezeichnung 




mannaz trug) Gedanken verband, die jenen angeführten sehr verwandt gewesen sein müssen, erweist allein jener Umstand, dass die gematrischen ODING-Wortwerte von mannaz und von Seelen-/Geistgott wodanaz identisch sind: m 5 + a 21 + n 15 + n 15 + a 21 + z 10 = 87 sowie: w 17 + o 1 + d 2 + a 21 + n 15 + a 21 + z 10 = 87. „Urmensch“ und „Allvater“ müssen demnach als weitgehend deckungsgleich erachtet worden sein. Wir sehen aber auch, dass sich der geniale „Holtijar“ in diese geistige menschlich-göttlichen Wesenseinheit eingebunden fühlte: h 16 + o 1 + l 4 + t 8 + i 14 + j 13 + a 21 + R 10 = 87. Die geheimnisvolle, uns nebulös anmutende Hochschätzung der Zahl 5 im Runenkunstwerk des Hainpriesters Hlewagast-Holtijar ist also bei Berücksichtigung der antiken Glaubensinhalte nicht mehr gar so unverständlich.








Da die rechtsläufig 13. Stelle der runischen FUTHARK-Buchstabenreihe von der Eiben-/Weltbaum-/Weltraum-Rune eingenommen wird, geht Klingenberg naheliegenderweise davon aus, die Preisung der 13 bezöge sich auf den germanischen Weltenbaum, dem Sinnbild der Allerhaltung. Liest und numeriert man die Runenreihe jedoch linksläufig, steht an 13. Stelle die Jahr-/Weltzeit-Rune
. Dann erst ergibt sich Deckungsgleichheit zwischen Zahl und Begriff. Die 13 ist im antiken Denken unstrittig ein Zeitsymbol. Der Mondlauf gliedert sich in einen 13-Tage-Rhythmus - bekanntlich ist der siderische Monat um mehr als zwei Tage kürzer als der synodische, so dass der Mond etwa 13 Tage über und 13 Tage unter dem Äquator weilt. Das 13-Monats-Jahr reguliert als Schaltjahr die Ordnung der Zeit - die 13 war heilige Zahl des arisch/eranischen Zeitgottes Zervan. Vier Worteinteilungen zum Lobe der 13 nahm Holtijar vor; 4 x 91 (= Aufsummierung der 13) ergibt 364, die Annäherungszahl der Sonnenjahrestage. Ein beliebtes Spruchrätsel vom 13-Monats-Jahr läuft durch die germanischen Sprachen: „Ich weiß einen Baum hoch auf dem Gebirg mit 13 Ästen, vier Zweige auf jedem Ast...“, so heißt das Jahrbaumrätsel im Mecklenburgischen. Bestätigt wird diese Vermutung vom Runenhorn selbst, es hält eine schlüssige Jahreszeitrechnung bereit: In den drei obersten Bildreifen - Klingenberg definiert sie als Spiegel der Götterwelt - stehen 49 (Quersumme 13) Himmelslichter/Sterne mit 365 Zacken, d.h. die genaue Tagesanzahl eines Sonnenjahres (S.403). Er schreibt (S.64): „Die machtvolle Dreizehn könnte zur Jahresmystik gehören“ und (S.402): „Zur räumlichen Ordnung („Welteibe“) tritt die zeitliche Ordnung des Kosmos“.

In auffälligster Weise korrespondiert das Runenhorn von Rosengaard mit dem Bisonhorn, welches die „Venus von Laussel“ (Dordogne) in ihrer Hand hält. Das Relief ist von einem Künstler des Aurignacien vor 16 bis 20 tausend Jahren modelliert worden. Es handelt sich um eine der ältesten fülligen Frauengestalten, die als „Venusfiguren“ in die Literatur eingingen. Das Bisonhorn von Laussel trägt 13 Einkerbungen, weshalb es als Mondsymbol verstanden und mit dem 28tägigen Mondkalender in Verbindung gebracht wird (28 x 13 = 364). Demnach verknüpfte schon der steinzeitliche Mensch im fruchtbarkeitskultischen Sinnbildverband den Mond (Mondhorn) mit dem Stier (Stierhorn) und der beleibten Allmutter. Dass die Zeit gut sei, füllig und fruchtbar werde, darauf laufen schließlich alle menschlichen Hoffnungen hinaus. Die germanische Rune des „Guten Jahres“, der „Guten Zeit“, ist eben dieser 13. Buchstabe
, der in seiner Form (insbesondere bei runder Schreibweise) nichts anderes darstellen wird als die beiden Mondsicheln/Mondhörner des zu- und des abnehmenden Mondganges - galt doch der Mond als Meister der Zeit, als Regulator des Jahres.

Mit dem Dargelegten klärt sich das Verständnis des Runenpriesters Holtijar hinsichtlich seiner „angehimmelten“ 13. Unter diesem Zahlwert verbargen sich die beiden wichtigsten religiösen Begriffe überhaupt: Raum und Zeit - verkörpert von zwei Schriftzeichensymbolen, dem einen für Eibe
= Welten-Baum/-Raum und dem anderen für Jahr
= Welten-Jahr/-Zeit. Daraus ergibt sich die Folgerung, dass Holtijar- andere Runenweise werden es geradeso gehalten haben - die beiden möglichen gematrischen Runensysteme gleichzeitig beobachtete. Es ist somit denkbar, dass man den Umstand, für jede Rune - je nach links- oder rechtsläufigem Leseverständnis - zwei Zahlenwerte bereitstellen zu können, als gegenseitige Ergänzung begriff - im Sinne, dass jedes Ding zwei Seiten habe. Der Raum hat ein Oben und ein Unten - die Zeit kennt nur Vergangenes und Zukünftiges - der Tag besteht aus Hell und Dunkel, das Jahr aus Sommer und Winter - die Runenreihe beinhaltet eine links- und eine rechtsgewendete Betrachtungsweise.


Allein aus jener ursprünglichen Mond-/Zeit-Bezogenheit der 13 ist ihre ambivalente Wertung in den verschiedenen Weltkulturen und letztlich auch ihr heutiger vorwiegend übler Ruf erklärbar. So launisch-wechselhaft sich das Mondwesen darstellt, so steigt und fällt die Zeit - mal macht sie die Menschen satt und dann lässt sie uns wieder hungern. Die 13 ist weder „gut“ noch „böse“, sie ist hauptsächlich ein Symbol der wechselhaften Dauer, des kreisenden Auf- und Ab, dem die materiellen Dinge unterworfen sind. Der Weltenbaum besitzt Wurzel und Krone, das Jahr bringt mit seiner Wärme und Fruchtbarkeit das Leben, und es bringt mit seiner Kälte und Dürftigkeit den Tod. Die 13 rief den Wissenden einstmals das für Menschenhirne Schmerzhafteste in Erinnerung: die vergängliche Flüchtigkeit aller Erscheinungen - auch, und insbesondere die Endlichkeit ihrer eigenen Körper. Wer gewillt war, einen 13er-Zauber oder ein 13er-Gebet zu senden, der beabsichtigte nicht, das „Böse“ zu bannen, sondern er bat um Aufschub des Endes, er bat um Bestand des (harmonischen, durch die 5 oder 6 versinnbildlichten) Weltgefüges - vielleicht bat er sogar um den Erhalt der sich gegenseitig bedingenden Weltpolaritäten.
Eine Auffälligkeit der Rosengaardschen Inschrift ist die Nichtbeachtung, mithin die relative Zweitwertigkeitserachtung der rechtsläufigen Runenlesung, die bekanntlich mit den 6 Buchstaben 




= fuðark, beginnt. Die Beweggründe dafür müssen insbesondere deshalb widersprüchlich erscheinen, weil Holtijar eindeutig der rechtsläufigen Gematrie in bewundernswerter Perfektion Ausdruck verlieh. In dieser Hinsicht mag die raffinierte Langzeilendichtung von Rosengaard zunächst immer noch rätselhaft bleiben. Die ersten drei Runen rechtsläufiger Leserichtung erscheinen in ihr nicht einmal. Holtijar hob aber den Beginn der linksläufigen Runenreihe dergestalt hervor, dass er seinen zahlenzauberischen Satz mit tawido, alsoden Buchstaben 
, enden ließ. Es sind die beiden ersten Runen - in richtiger Reihenfolge - des linksläufigen Verständnisses. Ihre Lesung lautet „Od“ (germ. „Seele“)- die Stammsilbe des germanischen Gottesbegriffes. Der Od-Gott (Seelengott / Runengott) war ja kein anderer als Wodanaz (der spätere Oðinn), dem auch nach Überzeugung Klingenbergs die letztliche dienende Huldigung der Runenmeister vom Schlage des Holtijar gegolten hat. Wolfgang Krause 4, Altmeister der Runenforschung, führte zur rechtsläufig zu lesenden „do“-Reihenfolge aus (S.10 u. 13): „Das Futhark von Kylver endet mit do, entsprechend ...o in dem Futhork des Themsemessers und in einigen anderen angelsächsischen Runenreihen. Besonders bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß Hrabanus Maurus bei seiner Behandlung verschiedener Systeme von Geheimrunen o als letzte Rune der ganzen Reihe voraussetzt, überliefert in der St. Gallener Handschrift“, „...ist die Reihenfolge der Runen 23-24 do vermutlich uralt.“ Die Inschrift des gottesdienstlichen Holtijar-Hornes endete demnach mit Sicherheit nicht rein zufällig mit der bedeutsamen „d-o“-Folge - welche linksläufig als germ. „od“, (an. „óð“) also „Seele“, zu lesen ist. Mir erscheint daraus der Fingerzeig des Goldhornschöpfers ablesbar, auf das „rechte Ende“ der Runenreihe - als den eigentlichen, geheimen Angelpunkt und Anfang des germanischen Buchstabensystems - hindeuten zu wollen. Denn ebenso wie im ODING-Buchstabenreigen, dürfte strenggenommen am Beginn jeglicher Schöpfung nichts anderes gedacht werden können als ein seelengestaltiger Werdeimpuls.








Wie erklärt sich nun Holtijars rechtsläufige FUTHARK-Gematrie bei gleichzeitigen Fingerzeigen auf linksläufige ODING-Wertschätzung ? Holtijar war willens, jede mögliche Spur auf seinem goldenen Kultgebet, die zur wahren Bedeutung der „5“ hätte hinführen können, beharrlich und folgerichtig zu vermeiden. Folgte er diesem Plan - was nicht anzuzweifeln ist -, dann war er ein Gefangener seiner eigenen Konsequenz und musste sich den Gebrauch des 5. ODING-Buchstabens (
) mit dem Lautwert „m“ verbieten - er vermied ihn tatsächlich in seiner Runen-Langzeile. Wenn er auf diesem eingeschlagenen Gedankenweg weiterschritt, gelangte er zwangsläufig an den Punkt, an dem er sich sagte, dass auch linksläufige Zählweise deshalb nicht benutzt werden dürfe, weil sie unvermeidlich zur 5. Rune als dem Bildkürzel des Pentagrammes sowie zu dessen Begriffswert mannaz mit seinem theologischen Verständnisumfang hinweisen müsse. Er benutzte die rechtsläufige Gematrie, in welcher an 5. Stelle das unverfängliche „r“
steht. Die Götter lieben das Geheimnisvolle, das dem Menschenhirn zunächst völlig Unverständliche. Allvater und seine Adepten würden die heiligen Rätsel schon raten. In oder mittels Runen verbergen, verhüllen - „fela i rúnom“ - war das Ziel der Runenmeister. Holtijar hat seine selbstgestellte Aufgabe großmeisterlich gelöst.


Dem Buch von Eric Graf Oxenstierna 5 war die Information zu entnehmen (S.192), dass die ältere Fundortbezeichnung der Goldhörner noch Anfang 17. Jh. Rosengaard gewesen sei. Weil beide Fundstellen im Bereich des Landweges lagen, könnten die Hörner im Verlauf eines dramatischen Geschehens, etwa durch einen Reiseunfall oder -überfall, in den Boden gelangt - also ursprünglich an einem ganz anderen Platz zu Hause gewesen sein. Doch hören wir, was das „Handwörterbuch d. dt. Aberglaubens“ zum Stichwort „Rosengarten“ beisteuert: „Rosengarten dient zur Bezeichnung von Friedhöfen, ... sowie Versammlungs-, Fest- und Gerichtsplätzen. ... und als Garten des Zwergenkönigs Laurin. ... Manchmal sind es Orte, wo römische und prähistorische Funde gemacht wurden. Die einen suchen im Namen R. mythische Beziehungen. Die R. seien alte heidnische Begräbnis- und Kultplätze, wo man die Frühlingsspiele abhielt. Sie waren mit Dornen, Hagrosen be- oder umpflanzt. In den R.-Epen findet man Spiegelung alter Frühlingskampfspiele, und die Zwerge deuten auf Beziehungen zum Totenreich. ... Die Rose und ihr Name sind in Deutschland erst um 800 herum eingeführt worden; sie müßte also eine ältere Bezeichnung für die mit Dornen umhegten Begräbnisplätze ersetzt haben.“ Diese Aussage ist in höchstem Maße erstaunlich, da sie in mehreren Punkten deckungsgleich ist mit den Gegebenheiten um die Goldhörner des zwergwüchsigen Holtijar. Wir werden zur Annahme gedrängt, den Fundort im weiteren Sinne mit ihrem Entstehungs- und Aufbewahrungsort gleichzusetzen. Bei Rosengaard ist der heilige (Eiben-)Hain zu vermuten, in dem der Hainpriester Holtijar lebte und seinen Gottesdienst versah.
Dieser Fundortname grenzt, wie so vieles im Zusammenhang mit den Goldhörnern, ans Wunderbare. Was Holtijar auf seinem Kunstwerk sub rosa („unter der Rose“), also unter dem Siegel der Verschwiegenheitmitteilte, war das geheime Symbol, welches das Verständnis vom harmonischen Gefüge des Menschen und des Weltalls hütete: das Pentagramm. Die wilde Rose (Hagrose) selbst ist so gebaut, dass genau zwischen den fünf rosafarbenen Blütenblättern die fünf grünen Kelchblätter stehen, damit das Innere der noch geschlossenen Knospe vor dem Eindringen schädlicher Einflüsse geschützt ist. Die fünf spitz zulaufenden Kelchblätter sind einander nicht gleich. Drei im Dreieck angeordnete Blätter weisen behaarte Ränder auf, zwei gegenüberstehende Blätter besitzen glatte Ränder. Diese sonderbare, aber systematische Abfolge hat schon früh grübelnde Menschen dazu gebracht, die Kelchspitzen mit Linien so nachzuzeichnen, dass zuerst die drei Behaarten und dann die Haarlosen verbunden werden: Die Striche ergeben das mystische Pentagramm. Ganz allein dadurch wurde die Heckenrose, die so sorgsam ihr Knospen-Heiligtum vor der Außenwelt abschließt, ebenfalls zum Abbild des Geheimnisvollen und Verschwiegenen. Im Hochmittelalter brachte man ihr Bild überall dort an (Weinstuben, Ratssäle, Beichtstühle), wo es galt, „im Namen der Rose“, also in abgeschlossener Vertrautheit, miteinander zu reden. So stimmt rätselhafterweise selbst die alte Fundplatzbezeichnung mit dem Symbolismus des geheimen Runen-Zauberwerkes von Hlewagast-Holtijar überein.
Jene These, dass die Rosengärten mit heidnischen Frühlingsfestspielen in Verbindung zu bringen seien, wird gestützt durch die Forschungen von Willy Hartner 6, der nachwies: Die beiden Hörner müssen im Kultzusammenhang mit dem germanischen Haupt-Frühlingsfest, dem Sigrblot, in den Neumondnächten des April vom Jahre 413 gestanden haben. Sigrblot wurde gehalten zur 5. Jahres-Neumondphase (vom wintersonnwendlichen Jahresanfangs-Neumond aus gerechnet), als höchste Frühlings-Opferfeier, unter dem Motto: til sigr - at sumri, wie es in altnordischen Quellen heißt - sie läutete den Sommer ein -, vergleichbar mit dem späteren christlichen Ostern. Hartner fand im Bildwerk des runenlosen Hornes die Darstellung der Gestirnkonstellation, die während der totalen Sonnenfinsternis am Wotanstag/Mittwoch, dem 16.5.413 um 14.15 Uhr, im Raum Rosengaard/Tondern sichtbar wurde. Ausgerechnet während der Kultfeierlichkeiten des Sonnensieges musste die von weit herbeigeströmte Feiergemeinschaft erlebten, wie sich das „Siege-Gestirn“ so machtlos-unfähig erwies, dass es sein eigenes Verschlungenwerden durch die Finsternismächte nicht abzuwehren vermochte. In den letzten 21 Jahren waren nicht weniger als 19 Mondfinsternisse vorausgegangen - eine totale nur ein halbes Jahr zuvor, am 4.11.412. Welche religiöse Erschütterung aus solchen Erlebnissen entstehen musste, lässt sich denken. Die Frage stand im Raum, ob es sich möglicherweise um Vorankündigungen des Weltunterganges, des Ragnarök, handeln könnte. Diese große Herzensnot seiner Gemeinde, die allgemeine Zukunftsangst, von der er selbst, trotz all seines Wissens, nicht unberührt geblieben sein dürfte, wird die dramatische Hauptveranlassung für das Meisterwerk des Hlewagast-Holtijar gewesen sein. Der stärkste Runenzauber sollte helfen und die Notwende erzwingen - eine grandiose Bitte um Aufschub der Katastrophe wurde den göttlichen Mächten entgegengesandt.
Die germanische Vision vom Weltende blieb im eddischen Völuspa-Gedicht (Strophe 45) erhalten: „Es schlagen sich Brüder und morden einander, die Bande des Blutes brechen, Schwestersöhne verderben die eigene Verwandtschaft; arg ists in der Welt, viel Unzucht [Hurerei] gib es -, Beilzeit, Schwertzeit, zerschmettert werden die Schilde [der Schutz]; Windzeit, Wolfszeit, bevor die Welt einstürzt -, kein Mensch will den andern schonen.“ Geradeso mussten die Zeitläufte der Hörnerentstehung anmuten. Die ganze bekannte Welt war im Aufruhr, die alte Ordnung zerbrach. Der urplötzliche Einfall hunnischer Schreckenshorden erschütterte Europa. Allein in den Jahren 405 bis 418 geschahen gewaltige Umwälzungen: Das römische Weltreich lag gedemütigt darnieder - nordisches Volk triumphierte. Starke germanische Scharen fielen zwar unter dem Goten Radageis in Italien ein, wurden aber von dem röm. Heermeister Stichilo vernichtet. Vandalen, Quaden, Alanen überschritten nach Kämpfen mit den die römischen Grenzen verteidigenden Franken den Rhein und ergossen sich über Gallien. Die silingischen Vandalen siedelten sich in Andalusien an. Die Burgunder und Alamannen schufen ein Reich am Mittelrhein und wandten sich dem arianischen Christentum zu. Aber romfreundliche und romfeindliche Parteien standen gegeneinander und würgten sich gnadenlos wie Urfeinde. Die verhasste Stadt Rom, blutiger Vampir der Völker, erlag endlich westgotischen Heeren. Sie wurde eingenommen und geplündert. Doch Alarich starb in Unteritalien. Sein Schwager Athaulf wollte nun gar mit gotischer Kraft das römische Reich erneuern - er eroberte Barcelona, man ermordete ihn dort - sein Bruder Wallia vernichtete in römischem Dienst die silingischen Vandalen und Alanen. Zur tatarischen Gefahr aus den Osträumen trat die Sorge um den Fortbestand der Väterreligion. Große Volksteile der nach Süden abgewanderten Brüder verrieten den Glauben der Ahnen, sie waren den Überredungskünsten einer neuen Gattung von Römlingen erlegen. Waren all diese Düsternisse, zusammengeschaut, nicht Grund genug, eine Weltuntergangsstimmung hervorzurufen - die die Antwort eines sich verantwortlich fühlenden Hainpriesters erforderte ? Holtijar machte sich ans Werk - wir verdanken seinem technischen Künstlertum und seinem virtuosen Geist, dass neben dem oft genannten furor Teutonicus als Haltung frühen Germanentums auch die ratio Teutonica mit einem herrlichen Zeugnis in Erscheinung trat.


Quellenangaben:
1 Klingenberg, Heinz, Runenschrift - Schriftdenken Runeninschriften, 1973
2 Leisegang, Hans, Die Gnosis, 5.Aufl., 1985, S.41
3 Heß, Gerhard, ODING-Wizzod, 1993
4 Krause, Wolfgang, Die Runeninschriften im älteren Futhark, 1966
5 Oxenstierna, Eric Graf, Die Goldhörner von Gallehus, 1956
6 Hartner, Willy, Die Goldhörner von Gallehus, 1969
Bilder: 1.) Goldhörner, 2.) Joachim Richard Paullis Zeichnung des zweiten, kurzen Hornes und seiner Runeninschrift, 3.) Nachzeichnung aus „Journal des savants“ von Denis de Sallo, 1678, 4.) die Runenzeile selbst, 5.) die endlose Vergrößerungs- und Verkleinerungsmöglichkeit des Pentagramms