AMLUD ODER ASE ?
 
 
Die friesische Verurteilungsurkunde des Tempelschänders Bonifazius
- Ein Beitrag zur Deutung der Runeninschrift von Westeremden -
 
Bei Westeremden im westfriesischen Küstenland fand sich 1917 beim Abgraben eines Terphügels (Warft) das 22 cm lange runenbeschriftete, an beiden Enden sorgfältig im Feuer gehärtete Eibenstäbchen, welches aufgrund der Fundumstände in die 2. Hälfte des 8. Jh. datiert und als „Westeremden B“ bezeichnet wird. Es liegt verwahrt im niederländischen Museum von Groningen. Die Inschrift umfasst zwei Zeilen mit insgesamt 41 Runen, die der altfriesischen Sprache zuzuordnen sind. Einige Zeichen entziehen sich der problemlosen Deutung, weil sie sich sowohl vom üblichen System des Ur-Futharks wie von altenglischen und jüngeren nordischen Schreibweisen unterscheiden. Die Runologen Arend Quak und Ottar Grönvik legten dazu scharfsinnige Lösungsangebote vor, denen im wesentlichen gefolgt werden darf; ich mache lediglich geringfügige Änderungsvorschläge, stelle jedoch die Gesamtaussage der Inschrift in einen historischen Rahmen, den ich für wirklichkeitsbezogener halte. Die Westeremdener Inschrift, in ihren teilweise gegenläufig zu lesenden Langzeilen, würde - rechtsläufig aufgetragen - dergestalt aussehen:
 
 
Die Schwierigkeit der Lesung wird durch verkürzte, gestielte, gewendete und gespiegelte Runenformen erhöht; hinzu kommt das Fehlen von Worttrennungszeichen sowie der Umstand, dass uns das Altfriesische erst seit dem 12. Jh. aus Handschriften und auch nur zu einem Bruchteil seines einstigen vollen Wortschatzes bekannt ist. Andere germanische Mundarten müssen zum Vergleich herangezogen werden. Die ersten sechs Runen sind verhältnismäßig leicht zu deuten als  „op hämu“ = „auf der Heimstätte“. Die folgenden sechs Runen lauten  „gimnda“, was Ottar Grönvik aus altengl. „gimunda / gemunde“ = „erinnerte sich / wurde erinnert“ erklärt. Die Runen der 13.-17. Position ergeben das Wort   „ämluð“. Im heutigen Norwegisch bedeutet „amlod“ aus altwestnorwegisch und isländisch „amlóði“ = „Narr, Spitzbub, Unruhestifter“ bzw. „erbärmlicher, linkischer Mensch“. In Saxos Sagengestalt „Amlethus“ und Shakespeares „Hamlet“ steckt der gleiche Wortstamm. Ottar Grønvik möchte das Wort lieber erklären aus germ. „amalaz“ = „geneigt jemanden anzutreiben“, also Ämlud = Eiferer, Antreiber. Im Altisländischen wäre es der Plagegeist, der Belästiger. Auch diese mögliche Deutung ist zu beachten, sie ändert nicht das Aussagebild des Gesamttextes. Die 18. bis 21. Runen fügen das Wort  „wimo“, welches aus altfries. „wimelsa / wemmelsa“ = „Entstellung“, aus dem Grundwort „wamm“ = „Verbrechen, Missetat, Frevel“ bzw. altengl. „wemman“ = „beflecken, beschädigen“ abzuleiten wäre, wobei das ungewohnte Endvokalzeichen ohne exakte Deutung bleiben muss. Die 22.-26. Runen formen den Begriff  „mähðu“, den Ottar Grønvik neben altengl. „mägð“ = „Familie, Angehörige, Stamm, Volk“ hält und der wohl mit altfries. „mëch“ = „Verwandter“ zusammengeht. Die Runen   gehören noch zur ersten Zeile; unter Hinzufügung der ersten Rune aus der 2. Zeile entsteht das Wort      „Knie“ von altfries. „kni“, bzw. bei Heranziehung der vier ersten Runen entsteht    „kniwio“ aus germ. „knewa“ = „Knie, kniend, auf den Knien (liegend)“. Die Runen der 2. Zeile von 5. bis 10. Stelle   ergeben das Wort „suedun“, welches Ottar Grönvik an das altenglische Verb „suwiau“ und eine spätwestsächsische Vergangenheitsform von „Schweigen“ = „suwedon“ erinnert. Die restlichen drei Runen  „al“ könnten „alle“ bedeuten. Demnach würde die Aussage des Westeremdener Eibenstäbchens so lauten:
 
„Auf Heimstätte erinnerte [man] Unruhestifter [an] Missetaten, seine Leute auf Knien schwiegen alle.“ Oder im verständlichen deutschen Satz: „Auf friesischer Heimstätte wurde der Unruhestifter an seine Missetaten erinnert; er und seine verwandten Mittäter lagen alle schweigend auf den Knien.“
 
Bei Lesung von Runenschriften gibt es grundsätzlich kein Entweder-Oder, sondern in der Regel ein Sowohl-Als-Auch. Rune bedeutet Geheimnis ! Die runische Schreibweise war, wenn es sich - gemessen an der Buchstabenzahl - um verhältnismäßig kurze, aber sinnreiche Inschriften handeln sollte, niemals ein gleichsam mathematisches Instrument, vielmehr erwartete der Schreiber vom Leser intuitives Einfühlen und bereitwillige Suche auch nach versteckten, mehrdeutigen Mitteilungen. Nach alternativer Lesweise beginnt die zweite Runenzeile mit  „iwi“ = „Eibe“, dem Baum, der das Holz für den Schreibgrund lieferte. Es war der heilige Todesbaum für Griechen und Römer und für Germanen zusätzlich der immergrüne Weltenbaum.' Die mächtigen, zum Teil uralten Eibenbestände angelsächsischer Friedhöfe künden bis heute von seiner symbolischen Bedeutung. Die Frage scheint berechtigt, ob die Runenzeichen von Westeremden einen Urteilsspruch, ein Todesurteil über den „Amlud“, den schlimmen Unruhestifter, beinhalten, welcher während der Anklageerhebung, wie auch alle seine verwandten Mittäter, schweigend auf den Knien lag.
 
Zieht man eine Lesung vor, bei der zur Bildung des Wortes Knie    allein der erste Buchstabe der zweiten Zeile, die 1-Rune, genutzt wird, dann ergeben die restlichen zwölf Runen ebenso eine sinnvolle Aussage. In der zweiten und dritten Rune 1 steckt die Form „wi“ = „heilig“. Bei der vierten bis sechsten Rune  „osu“ denkt man an eine altfriesische Form des Begriffs „ansuz“ = „Ase“, den Kultnamen des Geist- und Seelengottes Wodan. Warum trennte der Runenritzer das Wort „knilkniwi“ = „Knie / knieend“ derart, dass ihm die erste oder erste bis dritte Rune von zweiter Zeile noch angehören? Er könnte auf diese Weise aufmerksam gemacht haben, dass der Beginn der zweiten Zeile auf zwei unterschiedliche Weisen gelesen werden darf: Unter Einbeziehung des Anfangs-„i“     = „Eiben-Ase“; bei Weglassung des Anfangs-„i“ = „Weihe- Ase“ bzw. „Heiliger Ase“.
 
Die siebte bis zehnte Runen  bedeuten „edu ?“; der letzte Buchstabe - vielleicht ein schlecht gezogenes „n“ - bleibt ungewiss. Hier ist an angelsächsisch „ead“ = „Besitz“ zu denken, wie es noch in dem Männernamen Eduard / Edward (= Besitz-Wärter / -Schützer) anklingt. Arend Quak vermochte in diesem Wort nur einen unbekannten Eigennamen zu vermuten. In den letzten drei Runen   „ale“ erkannten einige Runologen auch die Grundform „alan“ = „nähren, wachsen, gedeihen“. Indem ich Arend Quak folge, entstünde als sinnvoller Satz der zweiten Runenzeile:
 
„Der heilige [Eiben-]Ase [möge des Volkes angestammten]
Besitz vermehren
 
Der Runologe Ottar Grönvik übersetzte unter gegenläufiger Sinnlegung den Gesamttext:
„Auf der Heimstätte [der Friesen] gedachte der antreibende [Glaubens-]Eiferer der Sünden / Missetaten des Volkes; auf den Knien liegend schwiegen sie alle“.
 
Jener „antreibende Glaubens-Eiferer“ (Missionar), welcher hier gemeint ist, könnte sehr gut der Friesen-Apostel Bonifatius gewesen sein, meint der Übersetzer. Davon, dass die sprichwörtlich freiheitsliebenden, ehrbewussten Friesen vor dem unholden fränkischen Kirchenagenten auf den Knien gelegen hätten, ist allerdings nichts bekannt geworden - das Gegenteil ist richtig. Ich halte diese Interpretation für den vielleicht unbewussten Versuch einer unzulässigen Geschichtsklitterei. Sprachliche Unsicherheiten ergeben sich bei jeglicher Lesung; doch sollte eine Portion Augenmaß, gepaart mit historischem Realitätssinn, weiterhelfen können. Der heidnische Bestimmungsgrund und seine Erläuterung ist dem christlichen vorzuziehen! Warum? Auf dem Schreibgrund des altheiligen Eibenholzes, welches Christen ohne tiefe Bedeutung erscheinen musste, ist die Inschrift mittels deraltheiligen Runenzeichen geritzt. Aus einem altfriesischen Siedlungshügel stammt der Fund; nicht aus einer der größeren Ansiedlungen oder gar einem Kirchenboden. Die Wortkombinationen   = „heiliger Ase“ weisen allzu deutlich auf einen heidnischen Urheber hin. Im 8. Jahrhundert war das friesische Land, abgesehen von einigen wenigen unbedeutenden zahlenschwachen Einsprengselungen, eine rein heidnische Region. Insbesondere die unmittelbaren Küstenbewohner unterer Schichten der Fischer und Bauern auf den Warften hingen ihrer völkischen Eigenreligion an.
 
Ich meine, dass es schon sehr naheliegend, ja sehr wahrscheinlich ist, in der erwähnten Gestalt des Amlud, des närrischen Eiferers, den Missionar Bonifatius zu erkennen. Als unbequemer, weltfremder Unruhestifter erschien er vielen Menschen seiner Zeit; selbst mit der Mehrzahl seiner eigenen christlichen Glaubensgenossen lag er im ununterbrochenen Hader. Seine Lebensjahre, insbesondere die letzten, waren angefüllt mit unaufhörlichen Streitigkeiten, Intrigen und offenen Kämpfen. Je älter er wurde, umso verbitterter benahm er sich und ging immer erbitterter gegen alle vor, die anderer Meinung waren als er und seine strengen Forderungen nicht erfüllen mochten.
 
Selbst seine Parteigänger meinten, dass er oft über das Ziel hinausschieße. Überall spähte der verbohrte Kleinlichkeitskrämer umher, um Abweichler sowie neue Irrlehren zu entdecken und auszuräuchern. Anmaßend und machtbesessen hielt er sich als Legat des Papstes für die höchste Instanz in allen Glaubensfragen nördlich der Alpen. Nur seinen Herren, den jeweiligen Päpsten, denen er die machtvolle Position verdankte, kam er in devoter Unterwürfigkeit entgegen. Für sie, die religiösen Imperialisten, arbeitete er unermüdlich wie ein Besessener an der geistigen Gleichschaltung und Unterjochung aller Nordvölker. Unter die totalitäre geistliche Macht Roms wollte er sie beugen.
 
In seinem närrischen Trieb, zu reglementieren, Satzungen aufzustellen, Zwänge zu schaffen, das Volk zu knebeln und ihm die Luft zum freien Atmen zu nehmen, kam es zu solchen Tollheiten, dass er den Papst mit Anfragen belästigte beispielsweise von der Art, wann der im Rauch hängende Speck gegessen oder ob die „Pflicht der Fußwaschung“ auch auf die Nonnen ausgedehnt werden dürfe. Seine Frauenfeindlichkeit teilte er mit anderen krankhaften, lebensfeindlichen Eiferern. Priester mit Familie verfolgte er in unauslöschlichem Hass - auf sein Betreiben wurde der irische Geistliche Clemens, der seine Frau und Kinder nicht verlassen wollte, in den Bann getan und mit anderen ins Gefängnis geworfen.
 
„Denn in ehelicher Gemeinschaft“, so meinte die innerchristliche, romhörige Partei, „kann man nicht beten !“ Und da man immerfort und ohne Unterlass beten müsse, solle man nie in der Knechtschaft der Ehe leben, denn die Verehelichten seien Knechte des Fleisches, nicht aber Christi und des Geistes. Dieser allerchristlichste Trugschluss brannte das Schandmal der teuflischen Geschlechteslust den Frauen auf die Stirn. Auf den Mann ist der Geist und auf das Weib die Sinnlichkeit verteilt, und diese Polaritäten stoßen einander ab und bekämpfen sich in ewiger Feindschaft, so lautete das unglaublich anmaßende Dogma dieser Männerreligion. Der in Fleischeslust Gefallene ist allezeit ein verführtes Opfer des Weibes, das den Mann in die Pforten der Hölle stößt. Ja, es schien diesen „heiligen Männern“ nicht mal sicher, ob die Frau überhaupt als Mensch zu bewerten sei. Dieser Frage widmeten sich sehr ernsthafte Theologen, namentlich die Bischöfe der fränkischen Provinzialsynode in Mâcon (581-83), in tiefschürfenden Beweisanträgen. Eine solche Auffassung von der Ehe bedeutete einen umwälzenden Angriff, ja einen Sturz ins Chaos, für das sittliche Empfinden der Germanen. Die seelisch-leibliche Gemeinschaft, in der sie das Heil ihrer Sippen suchten, sollte aufgebrochen und zerstört werden. Die germanische Ehe war ein Lebensbund auf der Grundlage gleichwertiger Rechte und Pflichten im Rahmen des gemeinsamen Wagens und Tragens zur größtmöglichen Entfaltung, Steigerung und Vervollkommnung der innewohnenden Wesensgesetze. Nun sollte die Frau nicht mehr gelten; allein die ihr Weibtum für Glauben und Kirche verleugnenden Dauerjungfrauen und Nonnen durften gesellschaftliche Achtung genießen. Bonifatius war einer von jenen gefühlsarmen oder durch jahrzehntelange Selbstkasteiung zum kirchenfrommen, seelischen Krüppel verformten, gefährlichen Fanatikern. Wer der Frau die Würde der Germanin erhalten wollte, galt als „im Irrtum des Heidentums befangen“, wie Gregor II. an Karl Martell schrieb. Eine völlige Umformung der alten Werte vollzog sich unter dem neuen Vorbild. Treue wurde zu Ungehorsam, Treuebruch wurde Tugend. Über den sich fortzeugenden Irrsinn des Bonjfazius teilt noch der Scholastiker Wenrich aus Trier dem Papst Gregor VII mit: „Jenes Gesetz ist von der Hölle ausgespien, die Torheit hat es verbreitet, und der Wahnsinn sucht es zu befestigen.“ Bonifatius gehörte zu den unholden Geistern, die unserem Volk jene furchtbaren Bürden aufbanden und Wunden aufrissen, die nun seit über tausend Jahren schwären.
 
Jene, die dem Papst und seinen Legaten widerstanden, galten als „unvernünftige Tiere …, die durch die List des Teufels verführt, in Irrtum verfallen“ seien. Wer die Arbeit des Bonifatius behinderte, wurde mit dem Bann und ewiger Verdammnis bedroht. Zwar wurde er einmal, noch in jüngeren Jahren, an den Herrscherhof Karl Martells gerufen und dort gescholten, weil er in fremde Rechte eingegriffen hatte, doch holte er sich kurz darauf (722) die Bischofs- würde in Rom und erhielt noch weiterreichende Vollmachten. Duldsamkeit gegenüber Andersgläubigen und das Gefühl für die Würde fremder Denkweisen entsprach zwar zu keiner Zeit christlicher Gesinnung und Gesittung, aber der streitsüchtige Aktionismus des überhitzten Bonifatius übertraf jede Norm. Seine eigenen Leute bescheinigten ihm „Übereifer und Ungeduld“. Im Schutze der mit einer fränkischen Garnison belegten Büraburg bei Geismar in Nordhessen wagte er 724, die damals auf dem heutigen Johannisberg wachsende, stattliche geheiligte Eiche umzuschlagen, die dem Gott Donar geweiht war. Als Pippin der Kleine, der Sohn Karl Martells, zur Alleinherrschaft über das Frankenreich gelangte (747) und die Königskrone anstrebte, ließ er den Bonifatius noch freier schalten und walten, denn er glaubte ihn und den Papst für seine monarchische Legitimation zu benötigen. Wieviel Unglück, Verzweiflung und Schande hat dieser Angelsachse, dieser fanatische, papsthörige Fremdling in Hessen, in Thüringen und Bayern angerichtet !? Wie rücksichtslos er auf den Gefühlen seiner andersgläubigen Mitmenschen herumtrampelte !
 
 
Freilich, die triumphierende Partei preist ihn bis heute - die niedergedrückte heidnische Bevölkerung wurde mundtot gemacht - ebenso bis zum heutigen Tage. Und schon eine objektive Besprechung dieser historischen Geschehnisse, welche auch der heidnischen Seite Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, gilt im Allgemeinen als unzulässige Parteinahme. Zum Lohn für seine Bemühungen, die Deutschen der römischen Knechtschaft zu unterwerfen, wurde er schließlich „heilig“ gesprochen und erhielt den „Ehrentitel“ „Apostel der Deutschen“.
 
Ich musste so weit ausholen, um die durch christliche Propaganda gelenkte Verklärung der Bonifatiusgestalt vorurteilslos aus ihrer Zeit heraus verstehen zu lernen. Nur so wird ihr Ende begreiflich und der heutige Betrachter instand gesetzt, den mit diesem Ende wohl verknüpften Sinn der Westeremdener Runeninschrift zu erahnen. Für nüchterne Geister scheint damit auch das Ende des Bonifatius-Mythos vorweggenommen. Die Missionierung der heidnischen Friesen lag dem von Bekehrungseifer besessenen Bonifatius seit Jugendtagen in Gedanken. Schon 716 unternahm er den ersten Anlauf, ging aber bald nach England zurück, weil ihm die Lage zu gefährlich erschien. Die Friesen unter ihrem König Radbod hatten einen Teil des Gebietes zurückerobert, in dem er seine Tätigkeit zu entfalten gedachte. In den Jahren 719-721 startete er erneut erfolglose Versuche, dort Fuß zu fassen.
 
Endlich, als über 80jähriger Greis, nachdem er sein wirkungsreiches Leben gelebt und alle erdenklichen Würden seiner christlichen Kirchenorganisation empfangen hatte, gelüstete es ihn nach der Gipfelzierde einer derart angelegten Karriere: Er suchte die Märtyrerkrone. Also unternahm er seine dritte und letzte Missionsreise nach Friesland, um dort durch den Tod aus heidnischer Hand selig zu werden. Ein im 81. Lebensjahr stehender frommer Christ des 8. Jahrhunderts konnte gemäß seiner Erziehung und seines Weltverständnisses kein lobenswerteres Ende finden. Sein Märtyrertod war kalt berechnet, sein „durch langes Leben aufgezehrter Körper“ befand sich im Endstadium, der natürliche Verfall war abzusehen. Von Heidenhand gemordet zu werden, hieß noch aus dem ohnehin bald eintretenden Tod ein Geschäft machen; dafür winkte zum einen reicher Lohn im Himmel, zum anderen ließ sich der Mord an einem christlichen Bischof zum Nutzen der Kirche propagandistisch hervorragend vermarkten. Er hieß vor der Abreise seinen Intimus Lullus, das Leinentuch nicht zu vergessen, wohinein man seinen edlen Märtyrerleichnam einzuwickeln habe und bezeichnete sogar eine bestimmte Bücherkiste, in welcher seine Leiche heimzutransportieren sei. Es war alles fein säuberlich geplant. Er provozierte in der Hoffnung, die Wut der verhöhnten Friesen herauszufordern. Den Tod seiner jüngeren Gefährten nahm er dabei selbstsüchtig und gnadenlos in Kauf. Bei sachlicher Betrachtung, welche sich freihält von christlicher Vernebelung, rundet sich das Charakterbild eines Psychopathen. Bonifatius fand sein selbstgeplantes Ende, wie die Legende berichtet, am 5. Juni 754 bei Dokkum. Er wurde von Friesen hingemordet, wie es heißt - hingerichtet ist aber sicher die ehrlichere Bezeichnung. Denn wie dieser Mann samt seinen mehr als 50 Begleitern dort bei den >Teufelsanbetern< gehaust haben mag, lässt sich leicht ausmalen. Die ununterbrochene Entweihung der Heiligtümer des Landes war sein „höherer“ Auftrag. Er wird ihn als alterskranker, selbstherrlicher, verbitterter, von Hass gegen Andersdenkende zerfressener Greis in der von ihm bekannten rücksichtslos provozierenden Art und Weise ausgeführt haben. Im Bericht des Bonifatius-Gehilfen Willibald (aus dem 8. Jahrhundert) hört sich das so an:
 
„Er zog durch das ganze Friesland, tilgte die heidnischen Gebräuche aus, beseitigte den Götzenglauben und zerstörte die falschen Heiligtümer.“
 
 
Aus Sicht der altgläubigen Friesen muss er wie ein blindwütiger Tor, ein wutschnaubender Narr erschienen sein. Kein gesitteter, redlicher Mensch vermochte sich an den Weihestätten, an denen Frieden und Zurückhaltung geboten war, zu vergreifen - so sollte man meinen. Als „Wolf im Heiligtum“ wird er zusammen mit 52 seiner Spießgesellen - mehrheitlich Angelsachsen, also „verwandte“ Männer seines Volkes und der schon für Utrecht vorgesehene Bischof namens Eoban - ergriffen, verurteilt und hingerichtet worden sein. Es wird berichtet, dass der in Deutschland unter fränkischem Staatsschutz einstmals so herrisch- anmaßend auftretende Bonifazius im zwar selbstgewählten Sterbemoment erbärmlich genug war, gegen den ihn richtenden Schwerthieb intuitiv schutzsuchend sein Brevier über den Kopf hochzureißen.
 
Hier in Friesland schützte den bekehrungssüchtigen Bonifazius keine Staatspolizei der fränkischen Besatzungsmacht wie in den rechtsrheinischen deutschen Gebieten. Im Gegenteil, die politische Situation war äußerst ungünstig. Für die Friesen war dieser Mann nicht nur ein Feind der angestammten Religion, sondern zusätzlich ein Agent des eroberungsversessenen Frankenreiches, welches sich schon mehrerer Invasionsversuche schuldig gemacht hatte. Unmittelbar bevor er in Friesland eindrang, hatte er König Pippin, Juni 753, im fränkischen Reichsverwaltungssitz zu Verberie aufgesucht und war dort mit Vollmachten ausgerüstet worden, um, wie es heißt, friesische »Verhältnisse zu ordnen«. Vom Friesenkönig, dem Nachfolger Radbods, war wenig Begeisterung zu erwarten, als Bonifatius erschien, um sich in die inneren Angelegenheiten des fremden Landes einzumischen. Die geistliche Großmacht Rom und die weltliche Großmacht der Franken schritten in Gestalt und im Gefolge Bonifazius' über die friesischen Grenzen. So mussten die Friesen diesen Mann auf doppelte Weise fürchten und versuchen sich seiner rasch und legal zu entledigen, bevor er in ihrem Staatswesen weitere Unruhe zu verursachen vermochte. Ein Prozess wegen des Frevels der Entweihung von Heiligtümern wird stattgefunden haben - anderslautende Versionen klingen unrealistisch und entsprechen christlichen Legendenbildungen. Wäre dieser im damaligen Frankenreich bedeutende und bekannte Funktionsträger gewissermaßen in der Wildnis von unbekannten Räubern erschlagen worden, so ist anzunehmen, dass sein Leichnam niemals mehr aufgetaucht wäre. Dieser aber wurde - freiwillig oder erzwungenermaßen - ausgeliefert, den fränkischen Behörden überstellt und bereits 30 Tage nach seiner Hinrichtung über Utrecht nach Mainz gebracht, eine Woche später bereits im Dom zu Fulda beigesetzt. Die Abbildung von Bonifatius' Tod (Miniatur aus Cod. Ms. theol. 231, Uni. Göttingen) zeigt keine wilde Horde von Wegelagerern, sondern nach Uniformierung und Bewaffnung viel eher reguläre Soldaten, die ihn hinrichten. Auch das um 1000 entstandene Bild aus dem Sakramentar von Fulda (Staatsbibliothek Bamberg) folgt diese Erinnerungstradition; nur dass die hier abgebildeten Männer ohne den militärischen Helmschutz dargestellt werden. Ich will diese Hinweise nicht überschätzen, sie sollten aber nicht ganz unbeachtet bleiben.
 
 
Die Aburteilung und Hinrichtung des Bonifazius führte offensichtlich auch zu den erwartungsgemäß einsetzenden vermehrten Verstimmungen und politischen Spannungen zwischen dem Frankenreich und Friesland. Im Bericht des englischen Priesters Willibald, dessen Kern im Juni 778 aufgezeichnet wurde, heißt es: „Als die Kunde von dem unerwarteten Untergange des heiligen Märtyrers durch die Gaue... flog, scharten sich die Christen unverzüglich zu einem großen Heerzug zusammen und zogen über die Grenzen ihres Gebietes, um Rache für den Tod des heiligen Bekenners zu üben. So brachen sie als unwillkommene Gäste in das Land der Ungläubigen ein und brachten den ihnen entgegenziehenden Heiden eine schwere Niederlage bei. Die Feinde wandten sich zur Flucht und verloren ihr Leben mit ihrer ganzen Habe. Die Christen raubten ihre Frauen und Kinder wie auch ihre Knechte und Mägde und kehrten in ihr Land zurück.“ Aus solchen zeitgenössischen Berichten geht schlaglichtartig hervor, wie erbarmungslos der Weltanschauungskampf zwischen den religiös verfeindeten Volksgruppen geführt wurde, dass man sich gegenseitig an Gräueltaten nichts nachgab und dass die bekannte kirchlicherseits geübte Schönfärberei, was das eigene Verhalten anbelangt, der grausigen, blutigen Wirklichkeit in keiner Weise entsprach.
 
In der Nähe von Dokkum soll Bonifatius den Tod erlitten haben, also keine 50 km vom Fundort des Westeremdener Runenstäbchens entfernt - im vom einheimischen Volk besiedelten westfriesischen Küstengau. Der zeitgleiche Runenritzer muss von den Vorkommnissen um Bonifatius Kenntnis besessen haben. Folglich ist es nicht abwegig, wenn wir einen Zusammenhang annehmen wollen. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Geschehnisse erscheinen die beiden aussagestarken Sätze des mehrdeutigen Runenfundes erstaunlich passend. Der erste Satz beinhaltet dies: Vor der Verhandlung und Hinrichtung, in die Knie gezwungen, musste sich Bonifatius, der närrische Amlud, die Anklage in Gestalt einer Aufzählung seiner antiheidnischen Untaten schweigend anhören. Beide genannten Abbildungen vom Tode Bonifatius' zeigen ihn zwar nicht auf den Knien liegend, doch merkwürdig ganzkörperlich eingeknickt empfängt er Hieb und Stich der Bestrafung aus den Händen des ihn umstehenden Hinrichtungskommandos (s. Cod. Ms. theol. 231; hier: Zeichnung 3).
 
Dass der Mann, welcher den Tod suchte, zu den berechtigten Vorhaltungen seiner Ankläger schwieg, also kein Wort zu seiner Verteidigung vorbrachte, wohl auch zu stolz war, in ein Streitgespräch mit den seiner Meinung nach in heidnischer Blindheit befangenen Richtern einzutreten, ist sehr gut nachvollziehbar. Glaubenswelten lagen zwischen Richtern und Angeklagten; ein gegenseitiges Verstehen war ausgeschlossen. Diese Hervorhebung des Schweigens hat aber im germanischen Recht (im Gegensatz zum später eingeführten römischen Recht) eine ganz grundlegende Bedeutung: Wer schwieg, bestätigte seine Schuld; denn der Verklagte hatte seine Unschuld zu beweisen. Mithin könnte der Hinweis auf das Schweigen gleichsam eine juristische Formel für abgeschlossene Beweisaufnahme und rechtsverbindliche Aburteilung beinhalten.
 
Mit dem möglicherweise zweiten Runensatz schließt sich ein Bittgebet zu Gott Wodan an, in dem es heißt, dass er das vom aggressiven fränkischen Christentum bedrohte Friesland beschützen möge. Es könnte sich beim Westeremdener Eibenstäbchen um die Gerichts- und Verurteilungsurkunde des Bonifatius handeln, der dem volksgläubigen Verständnis gemäß nach den Gesetzen des Landes seine verdiente Todesstrafe als Frevler und Sünder in Friesland erhalten hat. Dass als Schreibgrund das Holz der Eibe, also des Todesbaumes, Verwendung fand, werte ich als zusätzliche Bestätigung der vorgeschlagenen Deutung.
 
Wie auch Übersetzung und Erklärung dieser friesischen Runenurkunde lauten mag - was stets geprägt ist von persönlicher Neigung und Vorbildung des einzelnen Runologen -‚ eines scheint sehr sicher: Hier liegt ein Votum aus dem einstmals noch selbstbestimmten unbekehrten Friesland vor - Volkes Urteil gewissermaßen. Und diese Stimme spricht sich meines Erachtens unverkennbar gegen den Amlud und seine Botschaft aus, welche geschichtliche Person auch immer unter dem „tumben Plagegeist“ zu verstehen ist. Diese Stimme wendet sich im gleichen Atemzug vertrauensvoll dem heimatreligiösen Volksgott zu, dem Asen Wodan. Amlud oder Ase - Fremdherrschaft oder Selbstbestimmung - geistige Knebelung oder Selbstverwirklichung ? Der friesische Runenritzer und seine Gemeinschaft hatten sich entschieden ! - Die Frage ist heute so aktuell wie vor tausend Jahren.
 
Quellenangaben
1. - „Runrön - Runologiska bidrag utgivna av Inst. för nordiska sprak vid Uppsala univers., edited b. James E. Knirk, 9/1994
2. - Gerhard Heß, „ODING-Wizzod“, 1993, S. 165 ff (zur hl. Eibe)
3. - Sigrid Hunke, „Am Anfang waren Mann und Frau“, 1955, S. 184ff
4. - Alain Dierkens, „Willibrod und Bonifatius - Die angelsächs. Missionen und das fränk. Königreich in der 1. Hälfte des 8. Jh.“ in „Die Franken“, Reiss-Museum Mannheim, 1996, S. 458 ff.
5. - „Die christliche Frühzeit in den Berichten über die Bekehrer“, Hsg. H. Timerding, Bd. IV, 1929, S. 41ff