22.02.2025
Altsächsisches Heidentum: Indiculus Superstitionum et Paganiarum
Posted on May 3, 2020 by Iwobrand
Indiculus
Der Indiculus superstitionum et paganiarum ist eine kurze kirchliche Handschrift aus dem achten Jahrhundert. Es handelt sich um eine Auflistung von 30 kurzen Punkten, die sich auf heidnische Bräuche der Altsachsen beziehen. Zum Teil reichen diese auch in christlich-heidnischen Aberglauben hinein, wie er kennzeichnend für die Bekehrungszeit ist. Der Indiculus ist entweder eine Stichwortliste zur Predigt gegen Heiden, oder das Inhaltsverzeichnis einer umfangreicheren, verloren gegangenen Schrift. Geschichtlicher Hintergrund ist die Bekehrung der Altsachsen durch die römische Kirche, ausgehend vom schon länger christianisierten Frankenreich.
Der Indiculus gibt zwar recht bruchstückhaft Auskunft über das germanische Heidentum. Er stellt aber für diejenigen, die sich für den Gegenstand begeistern, eine wahre Fundgrube dar, die mehr Aufmerksamkeit verdient.
Der lateinische Text wird hier vollständig mit einer möglichst genauen Übersetzung und erläuternden Anmerkungen wiedergegeben. Die Schrift ist durchweg von christlichem Bekehrungseifer durchsetzt, was nicht zuletzt auch an ihrer Einseitigkeit und dem abfälligen Ton deutlich wird. Das Ziel der Anmerkungen ist es, den eigentlichen Sinn der heidnischen Bräuche wiederherzustellen.
Indiculus Superstitionum et Paganiarum
1. De sacrilegio ad sepulchra mortuorum.
„Über Frevel an den Gräbern der Toten.“
Der Totenbrauch der heidnischen Sachsen wurde von der Kirche offenbar als sündig angesehen. Ob möglicherweise an den Gräbern getanzt und gesungen wurde, oder ob schon Opfergaben reichten, um die Kirche zu verärgern, lässt sich schwer sagen.
2. De sacrilegio super defunctos id est dadsisas.
„Über Frevel über den Toten, genannt dadsisas.“
Das Wort dadsisas ist altsächsisch und wird meist als Totenmahl (dads: Tote, isas: essen) gedeutet. Albin Saupe deutet die dadsisas hingegen als Beschwörungen und Lieder an die Seelen der Toten.
3. De spurcalibus in Februario.
„Über Unflätereien im Februar.“
Mit Unflätereien sind wohl Feste gemeint, die gefeiert werden. Es handelt sich wohl um eine Frühform des heutigen Faschings, der ja bekanntlich auch mit allerlei Völlerei und Überschwang einhergeht. Der Winter wird ausgetrieben, der kommende Frühling ist absehbar und es werden noch einmal die letzten Vorräte verbraucht und zu fettigem Gebäck verarbeitet, bevor die Fastenzeit beginnt. Die Fastenzeit gab es schon im heidnischen Rom und ist kein allein christlicher Brauch. Auch in Germanien könnte es also etwas vergleichbares gegeben haben. Hier steht aber sicher das freudige Willkommenheißen des Frühlings im Vordergrund. Auf die spurcalibus scheint ein alter deutscher Name für den Februar, Sporkel oder Spurkel, zurückzugehen.
4. De casualis id est fanis.
„Über kleine Gebäude, d.h. Heiligtümer.“
Es scheinen auch kleine Gebäude oder Hütten als Heiligtümer gedient zu haben.
5. De sacrilegiis per aeccelsias.
„Über Frevel an Kirchen.“
Das wird sich auf eine fortgeführte Ausübung heidnischer Bräuche an Kirchen beziehen. Alte und fest im Volk verwurzelte Glaubensformen können sich sehr zäh halten, vor allem wenn die neue Religion mit Zwang eingeführt wird.
6. De sacris siluarum quae nimidas vocant.
„Über heilige Haine, die sie Nimidas nennen.“
Das altsächsische Wort nimidas scheint verwandt zu sein mit dem keltischen Wort nemeton, das ebenfalls heiliger Hain bedeutet, sowie dem Lateinischen nemus: Wald. Die Sachsen verehrten also, wie viele heidnischen Völker, heilige Haine.
7. De hiis quae faciunt super petras.
„Über die Dinge, die sie über den Felsen tun.“
Eine weitere Form des Heiligtums sind Steine und Felsen. Das Wort super sagt uns, daß Weihehandlungen nicht nur an sondern über den Felsen stattfanden. Man muss es sich also so vorstellen, daß die Altsachsen hierbei auf den Felsen standen. Zu denken ist an Trankopfer, Lied, Feuer oder ähnliches. Auch soll ja auf den Externsteinen eine Irminsul gestanden haben.
8. De sacris Mercurii, vel Iovis.
„Über die Heiligtümer des Merkur und des Jupiter.“
Der germanische Wotan (altsächsisch Wôden) wurde oft mit dem römischen Merkur gleichgesetzt, der Donar (Thunaer) mit dem Jupiter. Schon Tacitus im ersten Jahrhundert nennt diese beiden als Hauptgötter der Germanen. Ein Heiligtum des Mercurius Cimbrianus, also den Merkur der germanischen Kimbern, findet sich zum Beispiel in Heidelberg. Ein chattisches Donar-Heiligtum war die Donareiche bei Fritzlar.
9. De sacrificio quod alicui sanctorum.
„Über den Gottesdienst, der einem Heiligen geleistet wird.“
Das bezieht sich wohl mahnend auf die Gleichsetzung von Heiligen mit heidnischen Göttern oder die Weiterführung heidnischer Verehrungsbräuche, die nicht der neuen christlichen Sitte entsprechen.
10. De filacteriis et ligaturis.
„Über Amulette und Bande.“
Es ist unsicher, ob das Wort ligaturis sich hier auf regelrechte Fesseln bezieht oder nur Bänder, an denen Amulette befestigt werden. Bereits Tacitus berichtet über 600 Jahre zuvor vom Fesselhain der Semnonen, den man nur gefesselt betreten durfte. Auch sonst gibt es zahlreiche weitere Fälle in der germanischen Glaubens- und Sagenwelt, bei denen Fesseln eine Rolle spielen, so etwa der erste Merseburger Zauberspruch. Anhänger kennen wir auf germanischem Gebiet in Gestalt des Mjöllnir oder der kegelförmigen Donarskeulen.
11. De fontibus sacrificiorum.
„Über Opferquellen.“
Daß die Germanen Quellen verehrt haben, ist gut bekannt. Später wurden heilige Quellen mit christlichen Heiligen in Verbindung gebracht. Auch die jährlichen Osterbrunnen zeigen, dass sich das grobe Muster bis in die heutige Zeit erhalten hat. Heiligen Quellen wurde Heilkraft zugesprochen, was sich auch noch in heutigen Behandlungsarten widerspiegelt.
12. De incantationibus.
„Über Beschwörungen“.
Auch das weißt hin auf Galster und Beschwörungsformeln wie die Merseburger Zaubersprüche, die von der Kirche wahrscheinlich als eine Art teuflischer Zaubersprüche angesehen wurden.
13. De auguriis vel avium vel equorum vel bovum stercora vel sternutationes.
„Über Weissagung oder Dung oder Nießen oder Vögel, Pferde und Kühe.“
Hier werden Dinge aufgezählt, aus denen die alten Sachsen weissagten. Nießen galt auch bei den alten Griechen als göttliches Omen. Weissagung aus dem Flug der Vögel kennen wir von den Germanen und vielen anderen Völkern. Ausschlaggebend ist dabei etwa die Art des Vogels, die Flugrichtung oder ein bestimmter Ort, an dem der Vogel landet. Tacitus berichtet, daß die Germanen weiße Schimmel in ihren heiligen Hainen halten, aus deren Verhalten die Priester weissagen. Der zugrundeliegende Gedanke scheint zu sein, daß bestimmte Muster im Raum-Zeit-Gefüge einander entsprechen und sich in anderer Gestalt wiederholen.
14. De divinis vel sortilogis.
„Über Seher und Wahrsager.“
Daß die Weissagung mitunter einem bestimmten Stand oblag, wissen wir auch durch die Berichte von germanischen Seherinnen wie Veleda, Albruna oder Waluburg. Tacitus berichtet auch von männlichen Priestern.
15. De igne fricato de ligno id est nodfyr.
„Über das Feuer aus aneinandergeriebenem Holz, d.h. Nodfyr.“
Das altsächsische Wort nodfyr bedeutet Notfeuer oder Reibefeuer, wobei die Wortherkunft wohl eher im Althochdeutschen hniotan (reiben) liegt, nicht im Wort Not im Sinne von Übel oder Unvermeidlichkeit. Wie beim Feuerbohren entsteht durch das Aneinanderreiben von Hölzern Hitze und es wird feierlich ein neues Feuer entfacht. Möglicherweise wurde es zur Erneuerung der Herdflamme in die Häuser getragen. Formen des Notfeuerbrauchs wurden bis ins 20. Jahrhundert überliefert. Verwendet werden bestimmte Hölzer und die Entzündung des Feuers findet zu bestimmten Zeitpunkten im Jahr statt. Man treibt die Viehherden durch den reinigenden Rauch oder verwendet die Asche als Dünger. Auch die Sonnwendfeuer könnten denselben Ursprung haben.
16. De cerebro animalium.
„Über das Hirn von Tieren.“
Möglicherweise wurde auch aus dem Hirn von Tieren geweissagt, wie es auch von anderen Völkern in Bezug auf Tierinnereien bekannt ist.
17. De observatione pagana in foco, vel in inchoatione rei alicujus.
„Über die heidnischen Bräuche am Herd oder beim Beginn eines jeden Geschäfts.“
Auch hier könnte aus der Pfanne am Herd geweissagt worden sein. Der Herd war das Herz des Haushaltes. Das Wort observatione hat im Kirchenlatein aber oft die allgemeine Bedeutung von Kulthandlungen. Was das Abschließen von Geschäften betrifft, wissen wir, daß diese oftmals durch einen Mettrunk begossen wurden. Eine scharfe Trennung von Heiligem und Alltäglichem gibt es für den Heiden nicht.
18. De incertis locis quae colunt pro sacris.
„Über unbekannte Orte, die als heilig verehrt werden.“
Hier ging es wohl darum, die Heiligtümer vor Zerstörung durch Christen zu schützen.
19. De petendo quod boni vocant sanctae Mariae.
„Über die Anrufung dessen, was die Guten der heiligen Maria zurechnen.“
Auch hier wieder Vermischung von Heiden- und Christentum: Man streitet sich offenbar darüber, ob man am Heil der heiligen Maria oder dem Heil einer Göttin teil hat, möglicherweise Fria (Frigg).
20. De feriis quae faciunt Jovi vel Mercurio.
„Über Feiern, die dem Jupiter oder Merkur gehalten werden.“
Es gab nicht nur Heiligtümer, sondern auch Feste, die dem Donar und dem Wotan gewidmet waren.
21. De lunae defectione, quod dicunt Vinceluna.
„Über Mondfinsternisse, die sie Vinceluna nennen.“
Vinceluna klingt nicht nach einem germanischen Wort. Viel mehr Sinn ergibt eine lateinische Deutung als „Siege, Mond!“, ähnlich dem römischen Sol Invictus (unbesiegbare Sonne) zur Wintersonnenwende. Wir sehen also, dass der Mondlauf in der Weltsicht der Altsachsen fest verankert war, wie es auch schon seit den Kimbern von anderen germanischen Stämmen bekannt ist.
22. De tempestatibus et cornibus et cocleis.
„Über Stürme, Hörner und Schnecken.“
Schneckenhäuser sollen noch heute Glück bringen und Häuserschnecken sind auch einen gutes Zeichen für den Gärtner. Stürme weisen als Gefahr für die Ernte oder aussagekräftige Wettererscheinungen für den Ackerbau in dieselbe Richtung. Hörner sind ebenfalls ein Fruchtbarkeitszeichen, vor allem das überquellende Füllhorn. Saupe deutet die Hörner aber als Blasinstrumente zum Wettermachen.
23. De sulcis circa villas.
„Über Furchen um die Höfe herum.“
Hier scheint es um besondere Furchen mit tieferem Sinn zu gehen, nicht einfach gewöhnliche Ackerfurchen. Daß sie den Hof umgaben, deutet auf eine Umgrenzung des Sippenallods hin.
24. De pagano cursu quem yrias nominant, scissis pannis vel calceis.
„Über den heidnischen Umzug, den sie Yrias nennen, mit zerrissenen Kleidern und Schuhen.“
Dies bezieht sich sicher auf Umzüge, wie sie noch heute in vielen Gegenden in der dunklen Jahreshälfte vorkommen, vor allem germanische Weiheumzüge zu Jul. Zerrissene Kleider und Schuhe sind zwar nicht unbedingt Verkleidungen, allerdings bestehen viele Fasnachtsverkleidungen aus Fetzen, ebenso die der Schiechperchten. Das Wort yrias scheint altsächsisch zu sein, es ist aber schwer zu deuten. Vorgeschlagen wurde etwa eine Verschreibung von frias, dann wäre der Umzug also der Fria (Frigg, Holda, Holle) zu Ehren gehalten worden. Saupe schlägt eine Herleitung von ero (Pflugland) vor, was auf eine Flurumfahrt hindeutet. Beachtet werden muss aber, daß Punkt 28 eine solche gesondert auflistet, es wird also zwei getrennte Bräuche gegeben haben, vielleicht zu unterschiedlichen Jahreszeiten.
25. De eo, quod sibi sanctos fingunt quoslibet mortuos.
„Darüber, daß sie glauben, alle Toten seien heilig.“
Den heidnischen Altsachsen waren ihre Toten heilig. Im christlichen Totenkult hat es diese Ahnenverehrung nicht gegeben.
26. De simulacro de consparsa farina.
„Über ein Kultbild aus feuchtem Mehl.“
Dies wird sich auf Gebildbrote beziehen, die in späterer Zeit etwa beim Leichenschmaus verzehrt wurden. Auch die vielfältigen Fasnachts-, Oster- und Weihnachtsgebäcke könnten auf Gebildbrote zurückgehen, ob diese nun mit oder ohne Hefe gebacken wurden.
27. De simulacris de pannis factis.
„Über aus Stoff gemachte Götzenbilder“
Beim Yrias-Umzug findet sich zerrissener Stoff und hier ist nun die Rede von Götterbildern aus Stoff. Vielleicht wurden diese für einen bestimmten Brauch verwendet. Erhalten geblieben sind uns nur solche aus Holz, Stein und Metall.
28. De simulacro quod per campos portant.
„Über Götzenbilder, die sie durch die Felder führen.“
Über einen Umzug der Erdgöttin Nerthus berichtet schon Tacitus und auch spätere Quellen zeigen, daß es Flurumfahrten gab, vor allem im Frühling. Als Lebensgrundlage verdienen auch die Felder Heiligung. Dabei wurden die Götterbilder auf einem Wagen gezogen und anschließend wieder im Heiligtum aufgestellt.
29. De ligneis pedibus vel manibus pagano ritu.
„Über hölzerne Füße oder Hände im heidnischen Brauch.“
Neben Opfergaben wurden offenbar stellvertretend nachgebildete Gliedmaßen in Heiligtümern aufgehängt, um die Heilung eigener erkrankter Gliedmaßen zu erwirken.
30. De eo, quod credunt, quia feminae lunam commendent, quod possint corda hominum tollere juxta paganos.
„Über das, von dem sie glauben, daß es Frauen dem Mond zuweisen, damit sie die Herzen der Menschen fortnehmen, der Meinung der Heiden nach.“
Damit scheint gemeint zu sein, daß die sächsischen Frauen Zauber beherrschen, die ihnen Macht über die Herzen anderer gewähren. Neben dem Raub des Herzens oder der Seele würde der lateinische Text aber auch eine Deutung als Seelenentrückung im Sinne einer Seelenreise erlauben, vor allem wenn man die einseitig unterstellende Sicht der Kirche mit einrechnet. Jedenfalls handelt es sich um eine weitere Verbindung mit dem Mond, hier sinnigerweise besonders der Frauen, ob sie nun heil- oder unheilspendend wirkte. Denkbar sind auch mündliche Beschwörungen an den Mond im Rahmen von Feiern, oder beim Aufsuchen von Heiligtümern.
Schlussfolgerungen
Was vor allem deutlich wird, ist die Wichtigkeit der Ahnenverehrung im Glauben der Altsachsen. Auf der anderen Seite wird ersichtlich, daß der Heide sich stets mit Bäumen, Quellen, Steinen und Himmelskörpern im Verhältnis sieht, was dem weltabgewandten Christen als fremdartig erscheint.
Außerdem fallen die vielen Entsprechungen zu anderen germanischen Stämmen oder anderen heidnischen Völkern auf. Demnach blieb das Heidentum im germanischen Kerngebiet über 700 Jahre hinweg recht ähnlich. Vieles ist sogar noch aus heutiger Sicht gut nachvollziehbar, wenn es bestimmten zeitlosen Grundmustern folgt, die sich auch nach über tausend Jahren Christentum nicht geändert haben.
Quellen
Manfred Heim: Von Ablaß bis Zölibat: Kleines Lexikon der Kirchengeschichte, München 2008, S. 265.
Georg Heinrich Pertz: Capitularia regum Francorum, Hannover 1835. https://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00000876/images/index.html?id=00000876&groesser=&fip=sdasfsdrxdsydxdsydewqxsyztsxsewq&no=2&seite=61
Heinrich Albin Saupe: Der Indiculus superstitionum et paganiarum. Ein Verzeichnis heidnischer und abergläubischer Gebräuche und Meinungen aus der Zeit Karls des Großen, aus zumeist gleichzeitigen Schriften erklärt, Leipzig 1891. http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/555046940.pdf