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„TOD“ HEISST „ZUM SEELEN-LEBEN“
 
Dem nur scheinbar aus dem Sprachgebrauch verschwundenen urdeutsch-germanischen Wort „Od“, dem einstmals sakralen Seelenbegriff, begegnen wir beim genauen Hinsehen im Zuge sprachlicher Untersuchungen als Zentralsilbenanteil auf Schritt und Tritt -, auch in dem Wort „Tod“. Es wird dem altechten Sprachsinne nach „zur Seelen-Werdung hin“ bedeutet haben.
 
Wenn mit dem Körpertode der Leib seine Funktionen verliert, also stirbt, wird nach alter Auffassung die Seele leiblos frei und beschränkt mithin ihr Sein auf das Nurseelische, also auf das „Od“. Der Anlaut „t“ im Wort für Tod - „t-od“ - könnte erklärt werden mit dem Abschliff aus „to/zu“, wie er noch heute im Bayrischen gebraucht wird: „z’“. Verhältnis- oder Vorwörter (Präpositionen) der Art wie „zu“ und „hin“, auch Fallfügteile oder Lagewörter genannt, bedürfen eines Nennwortes bzw. Namenwortes (Nomen), also eine syntaktische bzw. sinnvolle Ergänzung durch einen Begriff auf den sich das Verhältniswort bezieht. So bedeuten beispielsweise die Verhältniswörter „hin“ und „zu“, in den Formen „hinsehen“, „zusehen“: „sich-optisch-auf-etwas-Räumliches-“ oder „sich-gedanklich-auf-etwas-Zeitliches-zubewegen“. Die Vorsilbe „zu“ wird beim Gebrauch von Zeitwörtern verwendet, wie „zuletzt“, „zuallerletzt“, „zu guter Letzt“, „zu Ende gehen“. Ihre sprachgeschichtlichen Formen sind in den bekannten Schwankungen zwischen „t“ und „z“: Althochdeutsch „zuo“, Niederdeutsch „tau“, Angelsächsisch „to“, Altniederdeutsch „tō. Das gemeingermanische Adjektiv „tot“, althochdeutsch „tōt“, schwedisch „död“, englisch „dead“, gotisch „dauðs“, führte zu dem Tätigkeitswort (Verb) „töten“, dem „tot-machen“, althochdeutsch „tōden“, gotisch „dauðjan“ und dem substantivierten Begriff der „Tote“, althochdeutsch „tōto“.
 
Beim Namen des ostgotischen Königs Totila (regiert: 442-552) wurde dem „tot“ das germanische Suffix „-ila“ angehängt. Als Ruf- oder Kosenamen trug der König auch den Namen Baduila, „der Kämpfer“, aus germ. „badu“, ahd. „batu“ = Kampf. War die Bedeutung des Männernamens Totalia möglicherweise „Zum-Seelengewinn“ oder „Zum Schatzgewinn“ ? Denn was im sakralen Wortschatz die „starke gesunde Seele“ meinen konnte, bedeutete im profanen Gebrauch den materiellen „Schatz / Reichtum“, wobei zu beachten ist, dass diesseitige und jenseitige Schätze - bei Unterlegung der dazu nötigen Glaubensdisposition - gleichermaßen als begehrenswert erscheinen müssen. Wie im Gotischen noch fassbar, kommt der „ō“-Laut aus der älteren „auð“-Lautung. Das davon lautlich kaum zu trennende got. aud, auda, aisl. auðr, ahd. ôd, ôt, aengl. éad, bedeutet „Vermögen / Schatz / Gut / Reich­tum / Glück / Wohlstand / Fruchtbarkeit / Gedeihen / Segen / Erfolg“. J. Grimm („Deutsche Mythologie“, S. 890) erklärt es mit lat. felicitas, was „Glück, Fruchtbarkeit, Seligkeit“ meint, worin also ebenso materielle wie empfindungsmäßig-seelisch Aspekte zusammenschwingen.- Nach vorgenannten Überlegungen müsste der „Tod“ bzw. „(zu) Tode gehen“, Verb „totgehen“ also „Zum Seelen(ort) gehen“ bedeuten.
 
Die Neigung der „Od“-Lautung sich mundartlich ins „e“ zu verschieben, wie im Altenglischen „éad“, ist auch im mitteleuropäischen Germanischen zu beobachten. Unter dem „Tod von Altötting“ versteht man eine „Todtenuhr“, die als solche 1664 erstmalig urkundlich nachweisbar ist. Sie befindet sich neben dem Nordportal der Stiftskirche zu Altötting. Mundartlich heißt sie im Bairischen „Tod z' Eding“ bzw. „Tod vo Eding“. Es handelt sich um eine Darstellung des Todes als Sensenmann, der im Takt der Uhr mäht. Die Legende besagt, dass bei jedem Schwung seiner Sense irgendwo ein Mensch sterben müsse. Ötting ist eine uralte, ehrwürdige Ansiedlung, deren Bodenfunde eine Besiedelungskontinuität seit der  Urnenfelderkultur (um 1250 bis 750 v. 0) nachweisen. Ob sich bereits daraus und der bedeutsamen strategischen Lage ihre Bedeutung als Kultort ableitet, sei dahingestellt. Jedenfalls wird hier sowohl eine Keltenschanze wie ein germanischer Thing-Platz - also ein Versammlungsort mit Gerichtsstätte - angenommen. Mit der bayerisch-alemannische Adelsfamilie der Agilolfinger, die seit dem 7. Jh. nachweisbar ist, steht die erste urkundlichen Erwähnung in Verbindung unter der Bezeichnung einer Gemeinde namens „Autingas“ (i.J. 748). Das geschah in der Zeit von Tassilio III. (um 741-796), den Sohn des Herzogs Odilo (vor 700-748). Altötting galt damals als das sogenannte „Herz Baierns“ („y“-Schreibung erst ab 1825) und ist heute noch immer einer der meistbesuchtesten Wallfahrtsstätten in Deutschland und Europa. Nichts liegt näher, als den Namen Alt-Öttings vom Namen des zunächst in Glaubensdingen schwankenden Grafen Odilo abzuleiten bzw. seiner namensgebenden Od-Gottheit. Odilo trat sein Regierungsamt im Jahre 736 an. Unter fränkischem Druck musste er für sein Einflussgebiet christenkirchliche Gemeindeordnungen einführen. Er versuchte sich dem politischen Zwang des Frankenhofes zwar zu entziehen, doch mit der verlorenen Schlacht von Epfach am Lech, 743, brach die antifränkische Front fast zusammen. Auf seiner Seite hatten die heidnischen Ostsachsen gegen den Franken-Herrscher Karlmann I. gekämpft. Wie wenig die alemannisch-bayrischen Gaue christlich durchdrungen waren, zeigt der folgende Gewaltakt des Karlmann I. in Gestalt seiner Schandtat des „Blutgerichts von Cannstatt“, 746, während der die gesamte Führungsschicht der Alemannen unter dem Scheinvorwurf des „Hochverrats“ übertölpelt, gefangen und ermordet wurde. Erst ab diesem Moment herrschte das kirchenchristliche Friedhofsschweigen im südgermanischen Großraum.
 
In dem latinisierten Namen „Autingas“ steckt der altgermanische Begriff „aut, aud, auð“, welcher in der „od“-Form weiterexistierte, bis er - als zu markant heidnisch - von der dominanten christenkirchlichen Nomenklatur bzw. Sprachregelungsdiktatur verfemt und schließlich gelöscht wurde. Im Jahre 788 verbannte der Frankenkönig Karl („der Große“) Tassilo III. und usurpierte den bairischen Herzogstitel. Den alttraditionellen Kultplatz des heutigen Namens „Ötting“ nannte man in den frühen karolingischen Zeiten die Königspfalz „Otinga“. Ebenso war „Othingen“ ein Kultort, das heutige „Oettingen i. Bay.“. Die Sieghardinger benannten sich, nach ihrer gewonnenen Lehnsherrenschaft, nach dem an sie gelangten Besitz zu „Othingen“, Grafengeschlecht derer „von Oettingen“ (an der Wörnitz) -; 1141/2 aktenkundig als „Ludevicus quidam de Otingin“. Das weit entfernte Benediktiner-Reichskloster zu Fulda hatte hier Besitzrechte, welche schon um 750 im Güterverzeichnisse des 744 gegründeten Klosters als Besitzung in „otingen“ aufgeführt werden. Altheilige Stätten, wichtige heidnische Hochburgen wurden von den weltlichen Herrschern zur Umgestaltung und Umerziehung in die Obhut der Missionsklöster verschenkt. Erst die erwerbstüchtigen Staufer haben dem Kloster seine dortigen Besitzrechte allmählich abgerungen. Der Umstand des frühen Fuldaer Klosterbesitzes darf als zusätzlicher Deutungsbeweis für die vermutete Stätte des altheiligen od-gottlichen Kultortes gelten.
 
Bild: „Caduceus” von Mark Harchar