10. März 2016
 
Der Bildfelsen von Fossum / Tanumshede / Bohuslän
 
DAS FOSSUM-RÄTSEL
 
Über die bronzezeitlich-schwedische Felsritzung von Fossum, in Tanumshede/Bohuslän, habe ich wiederholt geschrieben. Anlässlich der Eröffnung seines Ur-Europa-Museums in From­hausen/Nordhessen lernte ich 1974 den Geistes­urge­schichtler Herman Wirth kennen. Er verwies mich, den Fragenden, eben­so wie er es in sämtlichen seiner umfangreichen Schriften getan hatte, auf die skandinavischen bronze- und eisenzeit­lichen Felsbildritzungen (ca. 1600-500 v.0) hin, insbesondere auf jene Darstel­lung von Fossum, einem kreisrunden Bildnis, welches, wie er meinte, kalendarische Früh-Runen zeigen würde. Wirth schätzte die Ritzung auf ein steinzeitliches Alter. Die von ihm als „Kalen­der­scheibe bei Fossum“ bezeich­nete Darstel­lung liegt im südwest­schwed­ischen Bohuslän im Distrikt Tanumshede. Im Sommer 1982 reiste ich das erste Mal nach Skandinavien, um die von meinem Lehrer bezeichneten Felsbilddokumente mit eigenen Au­gen anzusehen. Wie es sich beim Studium ergab, entsprach nicht ein einziges Zeichen des Originals den Wirth‘schen Angaben. Der Meister war einer falsch belichteten Nachtbildfotografie aufgesessen, wie ich aus seinem Nachlass erkennen konnte. Frühe Buchstaben bzw. Runen waren es nicht die sich im Kreise gruppieren, es schienen mir menschliche Gestalten zu sein. Kein Kalenderkreis, sondern wohl ein Kreis Feiernder, ein Kultfest-Kreis.
 
Herman Wirths tragischer Trugschluss
 
Der Abbildung dieses interessanten Dokumentes begegnete Herman Wirth erstmals in dem Buch von 0skar Almgren „Tanumshärads fasta fornlämningar fran bronsaldern“, Göteborg 1913, S. 492, Fig. 170 (Abb. 4793 b). Kreisförmig angeordnete Runen schienen hier dargestellt - man bedenke, Runenzeichen schon in nordischer Bronzezeit, also ca. 1.500 v. Ztr.; Herman Wirth war begeistert. Ihm muss beim Anblick eine Idee von der kalendarisch-kultsymbolischen Herkunft der Runenreihe aufgegangen sein. Zu welchem Zeitpunkt er dieses Buch erstmalig in die Hand bekam, ist unbekannt. Die Abbildung daraus nahm er als Bildbeilage VIII in seinem Werk „Der Aufgang der Menschheit“, 1928 auf. Im Textband der „Heiligen Urschrift der Menschheit“ 1931, S. 28, schreibt er: „Nun besitzen wir glücklicherweise in den vorgeschichtlichen Felszeichnungen Südschwedens, in Bohuslän, bei Fossum, eine Wiedergabe des 'solakringr’ ... Es ist die Darstellung einer Scheibe, welche ringsherum mit Symbolen versehen ist.“ Im Folgenden verglich er diese Zeichen mit denen der kreisförmig angeordneten Runenreihe. Auf der nächsten Seite formuliert er deutlich seine neue Erkenntnis: „Die Runenreihe war ein Kalender“. Auf den Seiten 74, 260, 612 nennt er das Ritzgebilde „jungsteinzeitliche Kalenderscheibe von Fossum“. Als Begründung für solch frühe Datierung führt er eine darunterstehende Axt an. Sämtliche Axtdarstellungen des Fossum-Bildes sind jedoch typische Vertreter bronzezeitlicher Schlagwaffen.
 
 
Die irrtümlichen Fossum-„Kalender“-Zeichen nach H. Wirth
 
Bis zu diesem Zeitpunkt kannte H. Wirth seine wichtige Urkunde eines vermeintlichen steinzeitlichen Kalendariums nur in Gestalt von Abzeichnungen sowie einer ungenauen, weil falsch beleuchteten Nachtfotografie (einseitig starre Lichtzugabe). Erst 1935, während der ersten Ahnenerbe-Exkursion, fertigte er, zusammen mit dem technischen Leiter Wilhelm Kottenrodt, Gipsabgüsse davon an. Spätestens in diesem Augenblick musste H. Wirth erkennen, dass keines der Zeichen in Wahrheit so aussah, wie er sie bereits in der Verlagswerbung für die „Heilige Urschrift der Menschheit“ gezeigt und beschrieben hatte. Ein Zurück gab es aber nicht mehr, zu viele begeisterte Anhänger vertrauten und bauten schon auf ihren Meister. In seinem Buch „Des großen Gottes älteste Runen“, 1939, erläutert er auf S. 13f zur Abb. 1: „Die Runenkalenderscheibe von Fossum“, dass erst „der Originalgipsabguss ... die Einzelheiten dieser so überaus wichtigen epigraphischen Urkunde des Nordens klar und unmissverständlich erkennen“ lasse. Es fehlte die Beachtung der Fossum-Scheibe auch nicht in „Eurasische Prolegomena zur Geschichte der indoeuropäischen Urreligion“, 1938, Teil 1, Manuskript S. 76ff. Ausgiebig wird wieder das Alter der Ritzung besprochen. Da heißt es: „Da das Ross erst mit der Ganggräberzeit in Skandinavien erscheint, wird - die Zeichenscheibe von Fossum als frühestens neolithisch, mit Sicherheit aber aus der älteren Bronzezeit zugehörig anzusetzen sein.“ Wie so oft, geht es um Bilddetails, welche tatsächlich gar nicht vorhanden sind; ein Ross, also Pferdebild, ist selbst bei größter Phantasie nicht ausfindig zu machen. Geradeso wird im Teil II, S. 195, das in Wahrheit nicht vorhandene Schlingenzeichen liebevoll ausgedeutet. Als ein nicht zu überbietender Höhepunkt der Hochstilisierung eines Trugbildes, einer rein geistigen Konstruktion - ohne jede Verankerung im Realen - schrieb er die Monographie „Kalenderscheibe von Fossum“, 1948. Das Manuskript umfasst allein 157 Seiten Text. In „Die Frage des Rigveda - Indiens Vermächtnis und Sendung“, 1954, zeigt er das schematisierte Fossum-Gebilde auf S. 35, dazu die Nachtfotografie der Ritzung als Abb. 1 und bespricht wieder Zeichen für Zeichen die in Wahrheit nicht vorhandenen, scheinbar runischen Gebilde. Auch im ersten Bändchen seiner geistesurgeschichtlichen Kleinbücherei „Das Jahr und der Mensch“, 1958, erwähnt er die „Kalenderscheibe“, bezeichnet sie als altbronzezeitlich und bringt sie als Abb. 21. Bis zum Ende blieb Herman Wirth seiner ihm lieb gewordenen Täuschung treu. Noch in dem Buch „Um den Ursinn des Menschseins“, 1960, erwärmt er sich auf S. 52ff über seinen Abguss, der „großen Zeichenscheibe, Kalenderscheibe von Fossum“, dass er es war, der sie in ihrer hohen Bedeutung erkannt habe und dass sich erst „mit scharfem Seitenlicht von Scheinwerfern“ die „bisher undeutlichen und zweifelhaften Formen der Zeichen“ herausheben. Diese Fotografie einer scharf angeleuchteten Abgussmatte ist noch heute vorhanden; doch peinlicherweise erkennt der Betrachter gerade anhand dieses Bildes, dass nicht ein einziges Zeichen so aussieht, wie es Herman Wirth so gerne gesehen hätte. Auch ihm selbst kann es unmöglich verborgen geblieben sein, dass er bereits zu Beginn seines symbolgeschichtlichen Schaffens einem tragischen Trugschluss aufgesessen war. Davon ist aber in o.a. Werk kein Wort zu finden, im Gegenteil. Auf S. 53f behauptet er, dass die Fotografien der „Kalenderscheibe“ dem Runenforscher Helmut Arntz vorgelegt worden seien und dieser von der Übereinstimmung mit den „germanischen Runenzeichen der Völkerwanderungszeit“ sehr beeindruckt gewesen wäre. Bis zum Ende seiner aktiven Zeit also wies Herman Wirth auf die fundamentale Wichtigkeit der Fossum-Ritzung in seinem Gedankengebäude der kalendarisch-kultsymbolischen Zeicheninterpretationen hin.
 
Was will die Fossum-Zeichenscheibe in Wirklichkeit darstellen ?
 
 
 
Dass einige der Zeichen auf Anhieb als tanzende Männergestalten erkannt werden können, darüber gibt es keinen Zweifel. Doch nicht alle sind eindeutig als solche zu erklären. Ein längeres Verweilen in der Bildbetrachtung ist anzuraten. Beim methodischen Vorgehen, ist festzustellen, dass das zunächst verwirrend erscheinende Bild eine Symmetrie aufweist, also eine Form der Ordnung gewahrt wurde. So wie der Künstler das Bild in den Felsen geschliffen hat, am Fuß der Felswölbung stehend, muss die sich verbeugende Gestalt „A“ als „oben“ positioniert angesehen werden. Von ihr, zum unteren Kreisrand mit seiner Markierung „B“, ergibt sich die Bildachse „A-B“.
 
Auf beiden Bildseiten befinden sich jeweils 4 recht deutlich zusammengehörende Bildelemente. Die vom Beschauer aus linke Seite zeigt unter „3 a“ ein auseinander springendes (-tanzendes) Männerpaar -; auf der rechten Seite, bei „3 b“, ein zu einander hin tanzendes Männerpaar. Die linke Position „2 a“ zeigt ein Männchen das sich auf einen Stab zu stützen scheint. Bei rechter Position „2 b“ wird es komplizierter. Ein Mann liegt auf einem Pfostengestell, auf einem  Podest, soll er geopfert werden, ist er bereits geopfert ? Er scheint mit den Beinen zu strampeln, er hebt sie hoch, also lebt er noch. Oder handelt es sich um einen liegenden Adoranten, ein im Verzückungsrausch geistgotterfüllter Gläubiger ? Die Positionen „1 a“ und „1 b“ sind noch schwieriger zu deuten. Wenn es sich bei „1 a“ um einen menschlichen Torso handelt, was die Kopfdicke auszusagen scheint, dann wird es mit der Zuordnung der Gliedmaßen kompliziert. Bei Annahme der beiden Adoranten-Arme, wäre nur das lange linke hochgeschwungene Bein zu erkennen. Ebenso macht es uns „1 b“ nicht leichter. Die beiden ausgesteckten Arme wäre noch als solche zu deuten, doch wo sind die Beine ? Auch aus dieser Sichtweise sind die symmetrischen Positionen „1 a“ und „1 b“ am unklarsten.
 
 
Links der Fossum-Abguss im Besitz von H. Wirth, auf dem keine Runenzeichen zu erkennen sind. Rechts das von Wirth zusammengestellte Tableau, mit den hineinfantasierten Kalender-Runen.
 
 
Die bronzezeitliche Felsritzbildplatte von Fossum/Bohuslän/Schweden - mit Rötel von schwedischen Studenten ausgemalt.
 
Ergebnis: Vollmond- oder Sonnen-Kultfeier ?

 
Nur in zwei Punkten können wir, was das Fossum-Geheimnis anbelangt, ganz sicher sein: 1.) Es handelt sich um keine Runen-Zeichen und um keinen Kalenderzeichenkreis.  2.) Es handelt sich um die Darstellung einer rituellen Kultfeier, während der enthusiastische Anbetungstänze aufgeführt und wohl auch dem Rauschtrank zugesprochen wurde. Ich kombiniere darüber hinaus, indem ich eine Kultfeier zur Sonnenhochstands- oder Vollmondzeit annahm. Eine andere plausible Erklärung für die volle runde Scheibe, um die sich die Gestalten herum bewegen, ist nicht ersichtlich. Eine weiterreichende Erklärung aber ergibt sich bei Einbeziehung des darunter benachbarten Bildes eines etwas kleineren männlich-personifizierten Kreises; er hat zwei Beine, zwei Köpfe und ein Schwert. Beide Köpfe, mit weit aufgerissenen Mäulern, schauen deutlich drohend zum Kreis der Sonnen-Tänzer hinauf. Es könnten Hunde- oder Wolfsköpfe sein, menschliche auf keinen Fall. Auf der Fossum-Bildplatte sind einige Hunde/Wölfe zu erkennen, auch solche die von speerbewaffneten Männern getötet werden. Eine nicht zu gewagte Deutung bietet sich an, wenn wir die eddischen Erklärungen von den bösen Wölfen hören, welche Sonne und Mond verschlingen. Die Wölfe Hati und Skoll/Skalli sind die beiden Wölfe, die den Mond und die Sonne über den Himmel jagen. Zum Ragnarök, dem periodischen Weltuntergang, werden sie die Verfolgten einholen und verschlingen. Der Mondhund Managarm (an. Mánagarmr; dt. „Mondhund“) wird den Mond verschlingen und dessen verspritztes Blut wird die Sonne verdüstern. Beide Wölfe gelten als Söhne des großen Bösewichtes Fenrir, ihre Mutter ist eine Riesin, die „Alte vom östlichen Eisenwalde“, die im Jarnwidr (Eisenwald) diese wolfsgestaltigen Kinder gebar. Sie sind ihrem Vater Fenrir gleichzusetzten. Hati hieß auch ein Riese der von „Heli Hjörvardsson“ erschlagen wird. Managarm geht auf der Erde umher und verschlingt das Fleisch der Toten, während sein Bruder Hati den Mond und sein Bruder Skalli die Sonne verfolgt. Zum Ragnarök, dem periodischen Weltuntergang stellt Hati den Mond und Managarm, durch das Leichenfleisch zum größten und stärksten seiner Brut geworden, verschlingt ihn. Einer anderen Überlieferung nach wird der Wolf Hati den Mond selbst verschlingen, während Managarm schmachtend zusehen muss (als Strafe für seinen Leichenfraß). Managarm weist Ähnlichkeiten mit der Sagengestalt des Garm auf, dem Hund, der die Unterwelt der Hel bewacht. (siehe dazu Karl Simrock, „Handbuch der Deutschen Mythologie“, 1878, S. 27f, S. 121). Wir dürfen davon ausgehen, dass bereits zur germ. Bronzezeit ähnliche Mythen umliefen, wohl nämlich von einem doppelköpfigen wolfsähnlichen Unhold bzw. Riesen, welcher die Sonnen-Anbeter und -Tänzer bedroht, sie im Todesgrauen verschlingt usw.. So wäre das Fossum-Bilddetail nüchtern und plausibel zu verstehen.
 
 
 
Noch im Mittelalter konnte der Teufel in Skandinavien als Wolf gesehen werden, wie er auf mehreren Taufsteinen und Kalkmalereien des 11./12. Jahrhunderts abgebildet wurde. Beim linksseitig sitzenden Wolf-Teufel (dän. Djævel) handelt es sich um eine Kalkmalerei im Deckengewölbe der Ejsing-Kirke (Mitteljütland). Das rechtsseitige Taufbecken (dän. Døbefont) ist das der Åsum-Kirke (Odee). 
 
Die skandinavischen Menschen der Bronzezeit könnten einen doppelwolfköpfigen Dämon gefürchtet haben, welcher der Sonne und den Sonnenanbetern gefährlich erschien. Oder wollte der kultische Schöpfer, der Felsbild-Ritzer der damaligen Fossum-Gemeinde, das bereits vom „Doppelwolfskopf verschlungene Gestirn -  Sonne/Mond - ins Bild setzen ? Mehrere Erklärungsmodelle bieten sich an, denn, dass die beiden großen Kreise eine mythisch-kultische Einheit bilden, scheint sicher zu sein.  Die beiden aufgerissenen Mäuler blecken in Richtung der unmittelbar darüber liegenden Sonnentänzer-Kreises. Und am oberen Ende des Tänzer-Ringes verbeugt sich einer devot hinab in Richtung zum Doppelwolfskopf-Koloss. Jedenfalls sind diese Überlegungen sachlich nachvollziehbarer als alle Fantastereien aus der Feder von H. Wirth, der sich weit über 30 Jahre lang darauf versteifte, einen Runen-Kalender in den Komplex hineinzugeheimnissen.