Wiesbaden, Kleine Burgstraße, 1946
 
TRÜMMER-JUGEND
 
Backsteinhalden, Backsteinberge,
rechts und links der Straße,
Trümmerfrauen, Trümmerfrauen,
die Tante und die Base.
 
Ruinen, Ruinen,
in Frankfurt und in Mainz -;
die grauen Wellen fluten,
des Main-Stroms und des Rheins.
 
Sie fließen und sie fließen,
doch schwemmen nichts hinfort,
unvergesslich hör‘ ich
der Mutter Wort:
 
„Sie kamen mit den Bomben,
sie mordeten mein Kind,
erschlugen auch den Vater,
dass wir alleine sind.“
 
Bombentrichter, Bombentrichter
und Teiche auf dem Grund,
ein Luftschutzhelm, ein Männerbein,
ein armer, toter Hund.
 
Zwar hoch im blauen Himmel
segelt ein Schwalbenpaar,
doch Mutters Tränenantlitz
ist nah', so schrecklich nah'.
 
Luftbombardements waren keine Erfindung der Deutschen oder Japaner. Das britische Empire hatte bereits in Kolonialkriegen wie im Sudan (1916) oder in Afghanistan (1919) Volksaufstände niedergebombt. Im Sommer 1920 gab es einen Aufstand der Araber im (von den Engländern aus den ehemaligen drei osmanischen Provinzen Basra, Bagdad und Mosul installierten) Irak als Folge der Verhaftung und Einkerkerung eines populären Scheichs, wobei Churchill als Rüstungs- und Kolonialminister 97 Tonnen Bomben auf die Aufständischen werfen ließ; mehr als 6.000 Menschen kamen um. Übrigens empfahl Churchill bei Beginn des Konfliktes in völliger Skrupellosigkeit den Einsatz chemischer Waffen gegen Rebellen: „Ich bin absolut dafür, Giftgas gegen unzivilisierte Stämme einzusetzen, um Angst und Terror zu verbreiten.“ Im Gegensatz zur deutschen Luftrüstung, welche nie eine strategische Bomberflotte aufzubauen gedachte, arbeiteten britische Militärs seit Ende des Weltkrieg I. daran, wie am zweckmäßigsten Städte zu vernichten seien, wobei als möglicher Kriegsgegner bei ihren Planspielen allein Deutschland in Betracht kam. - Winston Churchill am 3.9.1939: „Dieser Krieg ist ein englischer Krieg, und sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands.” - Adolf Hitler über Churchill, 1942: „Schade, dass man wegen einem besoffenen Kerl Krieg führen muss.“ (Dr. Henry Picker „Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier“, S. 177)
 
Frankfurt erlebte am Abend des 4. Juni 1940 den ersten Luftangriff. Rund 40 Sprengbomben wurden von einem halben Dutzend englischer Handley Page Hampden-Bombern abgeworfen und schlugen im Ortsteil Grieshein ein; sie trafen Wohnhäuser an der Schloßborner und der Rebstöcker Straße. Am 14. Februar 1942 gab das britische Luftfahrtministerium die „Area Bombing Directive“ (Anweisung zum Städtebombardement) heraus, also der Anweisung anstelle militärischer Anlagen und Rüstungsfabriken, die Tötung von Zivilpersonen und Zerstörung von Wohnhäusern zu betreiben. Das im Mai 1942 vom britischen Kabinett beschlossene „Dehousing Paper“ erklärte als Kriegsziel die Zerstörung von acht Millionen Häusern und 60 Millionen Wohnungen in Deutschland. Die Initiatoren rechneten mit 900.000 Toten und einer Million Schwerverletzten unter der Bevölkerung.
 
Vom 6. Mai bis Anfang September 1941 flog die RAF 11 Angriffe mit durchschnittlich 15 bis 20 Bombern, die neben Spreng- nun auch verstärkt Brandbomben abwarfen. In der Nacht vom 12./13. September 1941 warfen 50/60 Flugzeuge in mehreren Wellen 75 Spreng- und 600 Brandbomben sowie erstmals um 50 Phosphorkanister ab. Auch 1945 setzten sich die Luftangriffe auf Frankfurt fort, die jetzt wegen der uneingeschränkten alliierten Luftherrschaft bei Tag erfolgten. Die Liste verzeichnet 11 Angriffe zwischen 5. Januar und 13. März. Der schwerste war ein Tagangriff mit etwa 300 Flugzeugen am 9. März 1945, dabei fielen Bombenteppiche auf Heddernheim und die Mainzer Landstraße. Insgesamt warfen britische und amerikanische Flugzeuge während des Krieges 26.214 Tonnen Bomben auf Frankfurt, über Fünftausend Zivilisten kamen dabei ums Leben. Etwa 90.000 Wohnungen im Stadtgebiet sowie fast alle öffentlichen Bauten, Schulen, Kirchen und Krankenhäuser vernichtet. Über 17 Millionen Kubikmeter Schutt bedeckten die Stadt. - Meine Familie Hess verlor in Frankfurt mehrere Geschwister, die mit ihren Babys in den Wohnhäusern verbrannten. 
 
Mainz wurde durch den alliierten Luftterror schwer heimgesucht. Die britische Luftwaffe hat, wie Dieter Busch in seiner Arbeit über den Luftkrieg im Raum Mainz während des Zweiten Weltkrieges feststellte, „die Wohngebiete mit kalter Berechnung“ bombardiert, so dass er schon den Angriff auf Mainz in der Nacht zum 2. Februar 1945 als eindeutig gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sowie als Terrorangriff „und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet hat. (D. Busch, „Der Luftkrieg im Raum Mainz während des Zweiten Weltkrieges 1939-1945“, 1988) Am 21./22. März 1945 als US-Truppen ohne größere Gegenwehr nach Mainz einrückten, fanden sie anstelle der „Goldenen Stadt“ nur noch eine Trümmerlandschaft vor, aus deren Ruinen Brand- und Leichengeruch emporstieg. Die Innenstadt war im Bombenhagel zu 80 Prozent zerstört worden, von über 11.000 Wohngebäuden im Jahr 1939 waren weit mehr als die Hälfte vernichtet, kaum ein historisches Bauwerk war ohne schwere Beschädigungen geblieben. Etwa 2.800 Menschen waren durch die Bombenangriffe der Jahre 1941/1945 getötet worden, unzählige hatten schwere Verletzungen an Leib und Seele davon getragen, zehntausende Überlebende hatten ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Außerhalb des Bereiches jeder militärischen Logik liegend und jeden taktisch-operativen Hintergrund vermissen lassend, war auch der Angriff am 27. Februar, der in wenigen Minuten zwölfhundert Menschenleben auslöschte und einen Großteil der Mainzer Innenstadt in Schutt und Asche verwandelte, ein Ergebnis der teilweise rational nicht zu erklärenden Entscheidungen des britischen Chefs des Bomberkommandos, der zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 von Winston Churchill weitgehend freie Hand und Rückendeckung erhalten hatte. Die politische Führung Großbritanniens und auch seine militärischen Vorgesetzten sahen tatenlos zu, obgleich seine Bomberkommandos eigentlich in krassem Gegensatz zu den geltenden Richtlinien standen und nach der Vernichtung der sächsischen Metropole Dresden in der Nacht auf den 14. Februar in den alliierten und neutralen Staaten eine heftige Diskussion über den militärischen Sinn und die moralische Rechtfertigung der Flächenangriffe ausgebrochen war.
 
Im zerbombten Frankfurt wie im ruinierten Mainz - auch in Wiesbaden - sah ich überall auf den Trümmerbergen, rechts und links der Straßen, verstaubte Frauen stehen, mit ihren Kopftüchern um die Köpfe, und bloßen Händen mit verschiedenen Geräten (Hämmerchen, Mauerhaken) die Backsteine vom Mörtel befreiten und auf den Gehsteigen zu Mauern aufschichteten. Wir Kinder spielten nur in den Trümmern und als wir größer waren, suchten wir darin nach Verwertbarem, um Eisenteile für ein paar Pfennige an die Schrotthänder zu verkaufen. Der Schutt wurde überall erst beseitigt, wenn er von den Backsteinen getrennt war. Die Backsteine wurden von den Frauen geputzt (von anhaftenden Mörtelresten befreit) und dann sorgfältig aufgesetzt. Die waren beileibe kein Schutt sondern wiederverwertbares Baumaterial und manches Häuschen wurde damit in dieser Zeit gebaut.
 
Wiesbaden erlitt nicht die großen Schäden anderer Städte, doch auch hier gab es etliche weite Trümmerfelder. Die schönen Kurhaus-Kollonaden, mit ihren glanzvollen Mosaiken, lagen im Schutt und wir spielten mit den farbigen Mosaiksteinchen. Die Kurstadt wurde zwischen August 1940 und März 1945 an 66 Tagen durch alliierte Bomber angegriffen. Zwei besonders menschenfreundliche US-Lightning-Piloten beschossen meine halbwüchsige Schwester und mich Kleinkind auf dem Weg nahe der Wiesenflächen des Wiesbadener „Rabengrundes“. Sie waren nicht gerade zimperlich bei ihrer „Befreiung Deutschlands“. Bei den Angriffen wurden insgesamt 22,3 % der Wohnungen zerstört. Ungefähr 1.700 Menschen verloren ihr Leben. Der schwere Luftangriff in der Nacht vom 2./3. Februar 1945 von 495 Lancasterbombern und zwölf Mosquitos verfehlte aufgrund der schlechten Wetterlage teilweise das geplante Zielgebiet und damit die volle Wirkung. Doch starben etwa 1.000 Menschen und 28.000 wurden obdachlos. Besonders stark getroffen wurde das Kurviertel, vom Paulinenschlösschen über Kurpark, Kurhaus, Theater, Hotel „Vier Jahreszeiten“, Marktkirche, Stadtschloss, Rathaus bis zum Polizeipräsidium. Eine Phosphorbome durchschlug das Dach unseres Hauses in der Taunusstraße Nr. 30, konnte aber von den Frauen und dem invaliden „Onkel Becker“ gelöscht werden. Besonders tragisch war der Volltreffer einer Luftmine in das Lyzeum neben der Marktkirche am Schlossplatz. Das massive Bauwerk wurde für viele Wiesbadener, die in dem als Luftschutzbunker dienenden Keller Schutz suchten, zum Massengrab. Das Biebricher Schloss ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Im Februar 1945 wurde noch das „Jagdschloss Platte“ zielgerichtet zerstört. Insgesamt wurden in Wiesbaden durch Luftangriffe 1.600 Häuser vollständig zerstört, 968 schwer beschädigt, 1.476 mittelschwer und 7.810 leicht beschädigt. Abgefahren wurden 604.000 m³ Trümmerschutt. Das Trümmerbild aus Wiesbaden (siehe obige Abbildung) zeigt die Kleine Burgstraße in Richtung Süden. Im Hintergrund erkennt man das ehemalige Maschinenhaus der um 1895 gebauten „Elektrischen Zentralstation“. Es stand an der Herrnmühlgasse und war unzerstört geblieben. Der Fotograf stand dort, wo heute die Straße „An den Quellen“ in die Webergasse übergeht.
 
 
Die britische Royal Air Force (RAF) seit März 1940 und seit Januar 1943 die US-Luftwaffe flogen bis zum Kriegsende insgesamt etwa 1,4 Millionen Einsätze gegen Deutschland.