G. Hess bei Montagsdemonstration in Leipzig 1989 (Bild oben Mitte)
 
MEINE PFLICHTERFÜLLUNG
 
Süß ist es, seine Pflicht zu tun
und sich nicht schwächlich auszuruhn.
Rief die Nation, war ich zur Stell‘,
ich folgte jedem Haupt-Apell !
 
Mein Leben war ein steter Kampf,
für Deutschland stand ich unter Dampf,
schmähte ein Schändling was mir lieb,
erfolgten Kontra-Stich und -Hieb.
 
Ich kämpfte manches Wortgefecht,
wich niemals ab vom Wahrheitsrecht,
kamen auch Lügen knüppeldick,
parierte ich sie mit Geschick.
 
Und wenn es galt, den Mann zu stehn,
war vorn ich, an der Front zu sehn,
dann stand ich unbeirrt im Trutz,
gegen Bosheit, Dummheit, Schmutz.
 
Auch als das Vaterland uns rief,
zu fahren hin, zum Linksstaats-Mief,
zur „DDR“, zum Demonstrier’n,
stand uns die „Einheit“ fest im Hirn.
 
Die „Montagsdemos“ war‘n mein Ziel,
nach Leipzig fuhr ich ins Gewühl,
mit Hunderttausenden, dicht an dicht,
hielten wir unser Volksgericht.
 
Die „Stasi“-Schurken guckten dumm,
standen an Straßenecken rum;
dann brandete der Massen Schrei:
„Wir sind das Volk !“ Wir werden frei !
 
Die „Montagsdemonstrationen“ der DDR-Bürger in Leipzig, jeweils ausgehend vom Platz vor der Nikolaikirche, wurden zum Hauptsignal zur sog. „Friedliche Revolution“ und zum Untergang des russischen Besatzungsregimes in Mitteldeutschland, im Herbst 1989. Es waren Massendemonstrationen, die ab dem 4. September 1989 stattfanden. Die Massen forderten in Sprechchören eine Änderung der politischen Verhältnisse, eine demokratische Neuordnung und vordringlich das Ende der überalterten SED-Herrschaften. Am 11. September wurden 89 Demonstranten festgenommen, doch schon am 25. September demonstrierten ca. 8.000 Menschen, am 2. Oktober waren es bereits 20.000. Die Sicherheitskräfte versuchten gewaltsam, die Demonstrationen zu verhindern. Als am 9. Oktober schon über 70.000 Menschen demonstrierten, hielten sich die eingesetzten „Betriebskampftruppen” jedoch zurück. Erstmals ertönte der Ruf „Wir sind das Volk !”. Er wurde zum  Hauptthema der Sprechchöre. Andere Rufe lauteten: „Freiheit !“, „Keine Gewalt !”, „Wir wollen raus !". Am 16. Oktober zogen mehr als 120.000 Menschen durch Leipzig, am 23. und 30. Oktober mehr als 300.000 und am 6. November sogar um 500.000 Menschen. Nicht allein in Leipzig, auch in anderen Städten der DDR kam es im Herbst 1989 zu Demonstrationen gegen das Regime der alten linken Funktionäre, beispielsweise in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Schwerin. Mit der Öffnung der Deutsch-Deutschen-Grenze am 9. November 1989 waren die Demonstrationen nicht beendet. Jetzt forderten die Menschen auch immer lauter die deutsche Wiedervereinigung. Die Massenmärsche wurden noch bis zum März 1990 fortgesetzt, als die ersten freien „Volkskammerwahlen” stattfanden. Die Marschzüge in Leipzig verliefen fast über den gesamten Innenstadtring, von insgesamt etwa 3,6 Kilometer. Ich fuhr von Wiesbaden dreimal nach Leipzig, um mich den Demonstrationen für die „Wiedervereinigung“ anzuschließen. An der Linkskurve gegenüber dem Stasi-Gebäude standen kleinere Gruppen jüngerer Leute, die sich als Gegendemonstrationen zu erkennen gaben, von denen gesagt wurde, es seien die „verblendeten, gutgestellten Kinder der SED-Funktionäre“. Ich übernachtete jeweils bei Leipziger Familien, die ich während des Laufens kennenlernte. Sie gaben mir erschütternde Einblicke in die Einschüchterungs- und Terrormethoden des SED-Staates, so dass meine Gastgeber, mit mir zusammen, die Tränen, ja das Heulen, über die Familienschicksale unserer unglücklichen deutschen Nation, nicht zurückhalten konnten.
 
Meine letzte derartig motivierte Fahrt nach Leipzig unternahm ich am 26. Februar 1990. Wir waren eine ungeheuer große Masse vor dem Opernhaus am Karl-Marx-Platz. Etliche mir bekannte Leute aus dem „Westen“ begegneten mir in der Stadt und die Freude über diesen deutschen Frühling versetzte uns alle in eine vorher nie erlebte Hochstimmung, so dass wir uns bei jeder Begegnung in den Armen lagen. Vom Balkon des Opernhauses hinab sprachen am Abend der später enttarnte „IM“ und SPD-Aspirant Ibrahim Böhme, danach dann Ex-Kanzler Willy Brandt, aus dessen Mund ich damals erstmalig hörte, dass auch er eine deutsche Wiedervereinigung irgendwie begrüßen könnte. Das war absolut neu, denn in der Vergangenheit hatte sich der Willy - beispielsweise in den „Elefantenrunden“ vor den Bundestagwahlen - entschieden gegen jeden Gedanken an die Wiedervereinigung Deutschlands ausgesprochen. Einmal, als Oppositionsführer Dr. Helmut Kohl wieder als einziger Teilnehmer davon sprach, wurde er von Willy Brandt scharf zurecht gewiesen, mit weit hochgezogenen Augenbrauen und den Worten: „Wiedervereinigung ist ein faschistoider Begriff“. Jetzt, in Leipzig, wo Tausende deutsche Menschen vor ihm standen, die nichts anderes von ihm hören wollten, als die Hoffnung auf ein vereintes Vaterland, gab sich der Wendehals Willy als ihr Schrittmacher. „Pfui Teufel“, dachte ich, „wie verlogen können doch Politiker sein“. Ich sagte einem jubelnden, neben mir stehenden Mann: „Der spricht bei uns im Westen aber ganz anders !“. Ich kann mich an Brandts Worte heute nicht mehr erinnern, der damals 76-jährige SPD-Ehrenvorsitzenden soll gerufen haben: „Der Zug der Einheit rollt. Jetzt kommt es darauf an, dass niemand unter die Räder kommt. Das zu verhindern ist wichtiger als der Komfort derjenigen, die Erster Klasse fahren.“ Neben Brandt stand, der schon erwähnte, Ibrahim Böhme, damaliger SPD-Kandidat für das Amt des letzten DDR-Ministerpräsidenten, bevor er als „Stasi-IM“ enttarnt werden konnte. Mit dem Wahlsieg der CDU wurde schließlich Lothar de Maizière letztes Staatsoberhaupt der sowjetischen Vasallenstaates „DDR“ - bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.