ZUHAUSE ?

Heute bin ich heimgekommen,
meine alte, liebe Stadt -;
ich kehre so gerne,
ich winke von ferne -,
doch deine Türme grüßen matt.

Als ich durch die Gassen schweife,
steigen manche Bilder auf,
aus traumhaften Weiten,
aus Kinderzeiten,
und die lenken meinen Lauf.

Bald schon hab’ ich ihn gefunden,
den großen Kastanienbaum;
einst strebte er mächtig
und blühte so prächtig,
aber heute grünte er kaum.

Der Kaufmann an der Ecke,
ob er noch geöffnet hat ?
Sein Lädchen ist fort,
verfremdet der Ort --;
ein Bankhaus steht hier kalt und glatt.

Asphaltiert ist unser Plätzchen,
wo mal Kopfsteinpflaster war -;
ich denk’ an so viele
Streiche und Spiele,
einer hellen Kinderschar.

Kinder springen so wie damals,
doch wie damals ist jetzt keines:
schwarzgelockte Haare,
  dunkle Augenpaare,
meine Sprache spricht nicht eines.

Aus den Fenstern schwillt Musik,
in monotonen Wellen --;
woher sie wohl kamen,
ich lese die Namen,
an schmutzigen Haustürschellen.

Heimatstadt, du machst mich traurig,
meinst du doch, dich nur zu drehen
in neuen Gewändern --;
wenn sich deine Menschen ändern,
ist das nicht ein Untergehen ?!


(1965)

 
Bild: Blick vom Wiesbadener Treppchen herunter in die Nerostraße, Querstraße (heute Jawlenskystraße) u. Taunusstraße in denen ich aufwuchs. Als Kind und Jugendlicher erlebte ich das Viertel in seiner ursprünglichen Lebendigkeit, es war wie ein in sich geschlossenes Dorf, mit allen den Gewerbetreibenden die eine Bürgergemeinschaft zum Überleben braucht; das ist heute längst vorbei. Als ich 1965 von Bundeswehrdienst u. Auslandsaufenthalt zurückkehrte, hatte sich der Stadtteil in der von mir in dichterischer Freiheit beschriebenen Weise verausländert bzw. verfremdet. Ein Film über die Straße von 1981 beschrieb dieses Wiesbadener Herzstück; 2011 berichtete das ZDF noch einmal davon.
 
 
„Aus dieser Straße gehe ich nicht raus“, heißt ein Film, den das ZDF im Jahr 1981 zeigte, ein Film über die Nerostraße. 30 Jahre danach, am 30.03.2011, brachte das ZDF erneut einen Beitrag über die Veränderungen. Die Nerostraße sei nicht irgendeine Straße, sondern Ausgangspunkt der Entwicklung des Bergkirchengebiets. „Es entstand als Ansiedlung von kleinen, bescheidenen Häusern, in den die Menschen wohnten....“ „Die Straße sieht anders aus als früher“, so der Ex-SPD-Oberbürgermeister [der die Ausländeransiedlung forcierte und triumphierend sagte: "Wiesbaden ist bunt"], „aber sie lebt.“ Die Idee zur Zweitbegehung der Nerostraße hatte Edgar Heydock, damals Leiter des Stadtplanungsamts. „Der Gang durch die Straße ist deswegen interessant, weil es ganz selten vorkommt, das man sich überhaupt die Zeit nimmt, eine Straße anzuschauen.“ Alle waren aufgefordert, noch einmal langsam durch die Nerostraße zu gehen, Haus für Haus zu studieren, um zu schauen, was sich in 30 Jahren verändert hat. Das bescheidene Viertel sollte - wir kennen dieses Kapitel in der Geschichte Wiesbadens - verschwinden, es sollte ein neuer, anderer Stadtteil entstehen. Letztlich sei „das Ganze sehr viel sensibler angegangen“ worden, Haus für Haus wurde aufgemöbelt - oder abgerissen und ersetzt. Heydock: „Die Straße ist heute kurzweilig, weil so ziemlich alles vorkommt, was es in einer Stadt wie Wiesbaden gibt. Es wird gearbeitet, gefeiert, ausgestellt. Hochinteressant. Lebendig.“ (Ingeborg Toth)