VISION UM DENISE
 
Hoch droben leuchten weiße Mauern,
frei, ohne Riegel, ohne Schloss,
die Zeiten will dort überdauern
der Tempel des Dionysos.
 
Und drinnen waltet ihrer Pflichten,
Denise, des Gott’s geweihte Maid;
sie müht sich redlich, sanft zu schlichten
manch gift’gen Hader, groben Streit.
 
Ein Wanderer zog die weiten Wege,
bis hin zu dieses Tempels Mal,
er mühte sich die steilen Stege
aus seinem freudlos-düstren Tal.
 
„Du holde Priesterin der Liebe,
Du dienst der Gottheit manches Jahr,
Du weißt des Heiles innerstes Getriebe,
so rate mir und sag’ mir wahr:
 
Sag’ an, kann’s Rettung für mich geben,
erbarmt sich mir ein gnädiges Geschick,
vergilt ein Gott mir all mein Streben -,
schenkt Liebe er dem Liebenden zurück ?“
 
Da beugt die Priesterin sich nieder:
„Mein lieber Gast, du wirst belohnt !“ -
Aus naher Halle tönen Lieder,
von wo des Gottes Bildnis thront.
 
Sie stillt ihn mit dem Blut der Reben,
er tastet nach des Bechers Rund,
da sieht er ihre weißen Brüste beben -,
da schlürft er einen Kuss von ihrem Mund.
 
Als sich zwei Leiber aneinander pressen -
des Weibes Herzschlag spürt er hart –
ward’ er vom Liebesrausch besessen -,
gesegnet, nach des Bacchus Art.
 
PS: Der weibliche Name Denise stammt aus dem Griechischen und bedeutet die dem Gott Dionysos Geweihte. Dionysos war Gott des Weines und der Fruchtbarkeit bzw. des wilden, elementaren Sexualrausches. Er war Sohn von Zeus und Semele. Sein Name setzt sich zusammen aus 'dios' ('von Zeus') und 'nysa', dem Namen eines legendären Berges. Bacchus ist ursprünglich die lateinische Form von Bakchos, einem Beinamen des Dionysos.