Die Spákona („Seherin“) oder Völva („Stabträgerin“)
 
WEISST DU ?
 
Weißt Du zu weihen, weißt Du zu wesen,
weißt Du zu reiten auf einem Besen ?
Weißt Du zu raunen, weißt Du zu reimen,
weißt Du Lieder und Leiber zu leimen ?
 
Weißt Du zu rechten, weißt Du zu reiten,
weißt Du ein Thing zu bereiten beizeiten,
Weißt Du die Listen mit Lanze und Leier,
weißt Du zu seren die Spötter und Speier ?
 
Weißt Du Waldwesens Winke zu warten,
weißt Du Asen und Alfen, Alberichs Arten ?
Weißt Du die Götter, Gnome, Giganten,
weißt Du vom Unheil des Unbekannten ?
 
Weißt Du die Macht der Mistel zu mehren,
weißt Du von Luna und Lauka zu lehren ?
Weißt Du der Mutter Mondtau zu melken,
weißt Du zu wehren der Wesen Verwelken ?
 
Weißt Du‘s Volk vor Verderben zu wahren,
weißt Du schändlicher Schratte Scharen,
weißt Du die Taten der Thursen und Trolle,
weißt Du der rächenden Rat-Runen Rolle ?
 
Wie Du das weißt und das Wohlsein willst,
so Du sicher die Seuchen des Satans stillst.
 
Altgermanische Zauberkunst - Unterteilungen in: Spà (Zukunftsvorhesage), Galdr (Zaubergesang), Runenmagie und Útiseta (rituelles Draußensitzen) - Das Spà oder die Zukunftsvorhersage. Die detaillierteste Beschreibung eines Seidhr-Rituals im Sinne eines Spá bietet die Saga von Erik dem Roten oder altnordisch „Eriks Saga Rauða“ (die Saga von Erik dem Roten). Hauptsächlich geht es um die Entdeckung von Grönland durch Erik den Roten, bzw. um die Entdeckung von Amerika oder Neufundland durch seinen Sohn Leif  Erikson. In Kapitel 4 der Saga finden wir den exakten Ablauf eines Seidhr-Rituals: „Zu dieser Zeit herrschte eine große Hungersnot auf Grönland; die Männer, die zur Jagd und auf Fischfang gegangen waren, hatten wenig Beute gemacht, einige kamen sogar gar nicht zurück. Die Frau war dort in der Gegend, die Þorbjörg hieß; sie war eine Seherin [spákona] und wurde kleine Seherin [lítil-völva] genannt. Sie hatte neun Schwestern gehabt, die allesamt auch Seherinnen [spákonur] waren, aber nur sie allein lebte noch. Im Winter war es Þorbjörgs Gewohnheit, sich zu Festgelagen zu begeben, zu denen sie von den Menschen eingeladen wurde, die neugierig darauf waren, wie ihre Versorgung oder die Ernte sein würden. Und weil Þorkell der größte Bauer war, dachte man, man könne an ihm erkennen, wann diese Missernte, die andauerte, aufhören würde. Þorkell lud die Zauberin zu sich ein. Sie wird dort gut empfangen, wie es Gewohnheit war, wie eine Frau empfangen werden sollte. Für sie war ein Hochsitz errichtet worden, auf dem sich ein Kissen befand, das mit Hühnerdaunen gefüttert werden sollte. Und als sie und der Mann, der ihr entgegen geschickt worden war, am Abend eintrafen, war sie dergestalt gekleidet, dass sie einen blauen Mantel trug, der bis zum Rockschoß zur Gänze mit Steinen gesäumt war; sie trug Glasperlen am Hals und auf dem Kopf eine schwarze Lammfellhaube, die innen mit weißem Katzenfell gefüttert war; auch hatte sie einen Stab, auf dem sich ein Knauf befand. Er war aus Messing gemacht und auf dem Knauf befand sich ein Stein. Sie trug einen Zundergürtel, an dem eine große Ledertasche befestigt war, in der sie ihre Zaubergegenstände [töfr] aufbewahrte, die sie zur Zauberei [fróðleiks] benötigte. Sie trug zottelige Kalbfellschuhe mit langen Schnürriemen, an deren Enden sich große Zinnknöpfe befanden. An den Händen trug sie Handschuhe aus Katzenfell, die innen weiß waren. Und als sie eintrat, dachten alle Menschen, sie sollten ihr angemessene Begrüßungen gewähren. Sie nahm diese entgegen, je nachdem wie die Männer ihr nach dem Sinn waren. Der Bauer Þorkell nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Sitz, der ihretwegen errichtet worden war. Þorkell bat sie, einen Blick auf Leute und Vieh zu werfen und ebenso auf die Wohnstätte. Sie sagte wenig über alles. Am Abend wurde Tische aufgestellt, und es ist davon zu berichten, was für die Seherin zubereitet wurde: ihr wurden Ziegenmilchgrütze und Herzen von allen Tiere kredenzt, die dort vorhanden waren. Sie hatte einen Messinglöffel und ein Messer mit einem Griff aus Walrosszahn, eingefasst mit zwei Kupferringen und an der Spitze abgebrochen. Und als die Tische abgeräumt worden waren, trat der Bauer Þorkell vor Þorbjörg und  fragt, wie angenehm ihr die Wohnstätten oder die Art und Weise der Männer erschienen, und wie schnell er Gewissheit darüber bekommen würde, wonach er sie gefragt hat und wonach es den Männern am meisten zu wissen verlangt. Sie sagte, sie werde es nicht vor dem Morgen kundtun, nachdem sie zuerst eine Nacht geschlafen hat. Und Tags darauf, am Ende des Tages, wurde ihr diese Vorbereitung erwiesen, derer sie bedurfte, um ihre Zauberei auszuüben [fremjaseiðr]. Sie bat auch darum, solche Frauen herbeizuholen, die das Gedicht beherrschen, das Varðlokur heißt, und das für den Zauber [seiðsins] nötig war. Aber es fand sich keine einzige Frau. Dann wurde die Suche auf das ganze Gehöft ausgedehnt. Da sagt Guðríðr: 'Ich bin weder zauberkundig [fjölkunnig] noch eine Seherin [vísindakona], aber doch lehrte mich Halldís, meine Ziehmutter, auf Island das Gedicht, das sie Varðlokur nannte. Þorkell sagt: „Dann besitzt du hilfreiches Wissen.' Sie sagt: 'Es verhält sich aber so, dass ich nicht vorhabe, Beistand zu gewähren, da ich eine Christin bin.' Þorbjörg sagt: 'Es ist doch möglich, dass du den Menschen hier helfen könntest und dadurch keine schlechtere Frau als zuvor würdest; und Þorkell gegenüber werde ich abwägen, die Unterstützung zu erhalten, die ich brauche.' Þorkell bedrängt nun Guðríðr solange, bis sie sich dazu bereit erklärt, das zu tun, was er wollte. Dann zogen Frauen einen Kreis um den Hochsitz, auf dem Þorbjörg saß. Guðríðr sagte dann das Gedicht so schön und gut auf, dass alle dachten, das Gedicht noch nie mit schönerer Stimme gehört zu haben, als jener hier. Die Spá-Frau dankte ihr für das Gedicht und sagte, viele Geister, 'die uns vorher meiden und keine Untertänigkeit erweisen wollten', haben sie nun aufgesucht und ihnen schien es schön zu hören, dass das Gedicht so ausgezeichnet vorgetragen worden war.' Aber nun sind mir viele Angelegenheiten offensichtlich, die mir und manchen anderen zuvor verborgen waren. Und ich kann dir, Þorkell, sagen, dass diese Missernte nicht länger als den Winter über dauern und sich der Ertrag im Frühjahr verbessern wird.'" Zum Seidhr gehörte offensichtlich auch eine bestimmte Ritualausrüstung, die vonnöten war: die Zaubergegenstände in der Ledertasche, der Zauberstab aus Messing, vielleicht auch die Handschuhe aus Katzenfell. Eine besondere Bedeutung scheint auch der erhöhte Sitz zu haben, der in der Egils Saga extra für Thorbjörg errichtet wurde, vermutlich um die Seidh ausübenden von der profanen Welt abzuheben. Weiterhin ist zu Seidhr zu sagen, dass es sich hierbei im Gegensatz zu den offiziellen „Blots“ (Opferfesten)eherum eine halböffentliche Veranstaltung handelt, mit einem ausgesuchten Personenkreis wie auf Thorkells Hof. Die Göttin Freya gilt als die erste „seidhkona“ (Seidhfrau): Eine weitere altnordische Saga, die Ynglinga Saga oder Geschichte von den Ynglingen berichtet uns, dass Seidhr ursprünglich beim Göttergeschlecht der Wanen verbreitet, nach deren Untergang lehrte Freya es den Asen. Doch nicht nur Frauen, sondern auch Männer können Seidhr praktizieren, sie tauchen in den Überlieferungen nahezu gleichwertig auf. Odin ist der oberste Gott der Asen und Seidhr-Meister. In einem anderen Kapitel der Ynglingasaga erfahren wir etwas über Odins Zauberkünste.“
 
Wollte Odin seine Gestalt wechseln, dann lag sein Körper wie schlafend oder tot da. Er selbst aber war ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange. Er konnte in einem Augenblick in ferne Länder fahren in seinen oder anderer Angelegenheiten. Überdies konnte er durch Worte allein das Feuer löschen oder die See beruhigen, auch konnte er die Winde drehen nach welcher Seite er wollte. Zuweilen weckte er tote Männer aus der Erde auf oder setzte sich unter Gehenkten nieder. Deswegen nannte man ihn auch Herr der Geister oder der Gehenkten. Auch hatte er zwei Raben, die er gezähmt hatte, sodass sie sprachen. Die flogen weit über die Lande und erzählten ihm manche Botschaft. Durch all dies wurde er wunderbar weise. Alle diese Künste lehrte er durch Runen und solche Lieder, die man „Zauberweisen“ nannte. Deshalb hießen die Asen auch „Zauberschmiede“. Odin war in einer Kunst erfahren, die die größte Macht verlieh-man nennt sie Seidhr-und übte diese selbst aus. Sie befähigte ihn, das Schicksal der Menschen und noch nicht eingetretene Ereignisse vorauszugsagen, aber auch den Menschen Tod, Unheil und Krankheit zu bescheren. Endlich vermochte er durch sie jemand seinen Verstand und seine Kraft zu nehmen und diese einem anderen zu verleihen. Doch mit derart geübter Zauberei ist soviel Ärgernis verbunden, dass die Männer sich schämten, sie zu treiben. So lehrte man diese Kunst den Tempelpriesterinnen. Die meisten seiner Künste aber lehrte Odin den Opferpriestern und sie kamen ihm in Weisheit und  Zauberkunde am nächsten.“  In der Ynglinga Saga heißt es in den Strophen 6-8, dass Odin mehr weiß, als jeder andere... er wüsste, wie er sich in jede denkbare Gestalt verwandeln kann... er spräche so kraftvoll und flüssig, dass alle, die ihn reden hörten, dachten, was er allein sage, sei wahr... seine Worte kämen in Reimen, was wir als Gedichte bezeichnen... er kenne alle Arten von Runen und Zaubersprüchen und war der erste Gesetzgeber...“