KREUZIGUNGEN
 
Das Motiv vom gerechten, gequälten Geist,
durch Welt-Erfahrungen reichlich gespeist,
hat tief sich ins Gottesbild eingewoben -,
so wie hienieden erschien es auch droben.
 
Nichts Großes geschieht ohne Opfersinn,
das weiß ein zweiter Erkenntnisgewinn -;
gute Geister und Götter müssen's erleiden;
irdisches Glück scheint Gerechte zu meiden:
 
Zarathustra stritt gegen Rohheit und Zorn,
der Böse erschlug ihn am heiligen Born.
Osiris wie Dionysos wurden entleibt,
die Gegenkraft hat sie zerbissen, zerteilt.
 
Selbst Orpheus, der Gute-Hirte und Sänger,
fand seine Verfolger, seine Bedränger,
obgleich er ein friedfrohes Leben geführt’,
wurde ihm zum Grame die Gattin entführt.

Er wurde gepeinigt, gesteinigt, zerrissen -,
wie musste der Reine Gerechtigkeit missen.
Aus dem Tod nur durfte er Weisheit vermehren,
sein unsterblich‘ Haupt vermocht‘ sie zu lehren.

Das singt unverweslich vom Ewigen Leben -;
dies‘ Wissen wollte uns Orpheus geben.
Den Sokrates schloss die Missgunst in Haft,
unschuldig trank er den Schierlingssaft.

Platon beschrieb ihn, diesen Gerechten -;
um vieles leichter doch leben die Schlechten!
Zum Vorbild wird Hohes in Marmor gemeißelt,
doch im wirklichen Leben gefoltert, gegeißelt.
 
Wie wird die Wahrheit geblendet, geschändet,
die Reinheit martert man, bis sie verendet.
„Zum Ende wird sie ans Kreuz geschlagen“ -
so sagte schon Platon in seinen Tagen.
 
Und wahrlich, wie arg haben Kreuze gequält,
die Entehrten, Geschändeten ungezählt.
Was tat christlicher Pöbel im Kreuzeswahn
dem lieblichen Leib der Hypatia an,
auf den Tempelstufen ergriff sie die Meute -;
ihr blutiges Haupt ward zur grausigen Beute.
 
Doch schlug ja der christliche Männerwahn
jede Frau ans Holz der Verachtung an.
Wegen eines Wortes im biblichen Text
wurden zahllos schuldlose Weiber verhext,
als des Teufels Buhlerinnen gebannt
und ihre lebendigen Leiber verbrannt.
 
Der Norweger Raud war ein redlicher Mann,
mit Freimut sprach er den König an:
„Lass mir den Glauben, den Vater vermachte,
so wie ich deinen dir lasse und achte.“
Doch Flüche nur stieß der Bekehrer hervor,
jener christliche König umkrallte ein Rohr,
drängte tief es hinein in des Heiden Mund
und zwang eine Natter hinab in den Schlund.
 
Des altfrommen Widukinds heldische Kraft
lag gekreuzigt in Reichenaus Klosterhaft.
Vierzig Jahre lang litt er im Büßerkleid -;
hätt‘ er nimmer vertraut eines Christen Eid.
Am Weltbaum verwundet, hat Wodin gelitten,
und es leiden die Lichten in Weltenmitten.

Ob hängend am Holze, blutend aus Wunden,
ob ans Weltenkreuz der Materie gebunden -,
die Besten läutern am Stoffe sich, leidend;
für Gott ist die Weltenprobe entscheidend.
 
Das irdische wogend verwirrend‘ Getrieb',
gleicht Werkmeisters mächtigem Scheidesieb.
Die Starken, Gerechten, die seelisch Gesunden,
sie werden im Schicksalsgerüttel gefunden,
sie steigen, aus irdischen Kämpfen bewährt,
als Heroen und Heilige himmlisch verklärt,
in die ethischen Bilder der Poesie
und die Jenseitslehren der Theologie.
 
 
PS: („Der gekreuzigte Gerechte“ bei Plato Rep. 361 E; Abh. d. geistes- u. sozialwiss. Klasse, Jg. 1950, Heft 11-20, Verlag Akad. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz)

Er mag historische Vorbilder gehabt haben und war möglicherweise ein Reformer des Dionysos-Kultes. Sein Mythos verkörperte die Unsterblichkeit der Seele und vereinte starke orientalische Einflüsse mit den thrakischen Wurzeln. Die Griechen schrieben ihm die Erfindung der Musik und des Tanzes zu.

 

Aus Liebe zu der Nymphe Eurydike stieg er in die Unterwelt des Hades hinab. Mit seinem Gesang und dem Lyra-Spiel betörte er Götter, Menschen und sogar Tiere, Pflanzen und Steine. Ovid berichtet, dass Orpheus stets von einer Schar Nymphen begleitet wurde und seinen Tod durch thrakische Frauen fand.

 

Der Sage nach hat Orpheus auch am Argonautenzug teilgenommen. Während der Odyssee soll er mit seinem Gesang sogar die Sirenen übertönt haben.