Ganz natürlich gingen und gehen die Detail-Ergründungen weiter. Dass es sich seit den propagandistischen Aktivitäten des NS-„Ahnenerbes“ bei der in weiten Neuheidenkreisen irrtümlich angenommen „Irminsul vom Externstein-Relief“ um keine Irminsul-Abbildung handeln könne, erkannte ich sehr schnell, nachdem ich die vorderasiatische Sakralkunst durchstudiert hatte. Mir standen die archäologische Bibliothek meines mittlerweile verstorbenen Freundes Kurt Kibbert ebenso zur Verfügung, wie die Masse der Schriften aus H. Wirths Nachlass. Was sich abzeichnet, ist die Erkenntnis, dass das altgläubige Vorstellungsbild der Irminsul-Himmelstütze auf zwei grundsätzlichen Ideenmustern begründet war: 1.) die senkrechte Säule vom Himmels-Dach/-Zelt/-Kuppel und 2.) die darüber hingehende Doppelspirale des jährlichen Sonnenweges, oder dieser der Stütze aufliegende Sonnenball. Dafür habe ich eine große Anzahl von belegenden Bildquellen zusammengetragen. Die schwedische bronzezeitliche Irminsul der Region „Kasen“ zeigt eine klotzige Gabelstütze, mit tief gravierten Außenlinien, welcher die Sonnenweg-Spirale aufliegt. Zwei bronzezeitliche Gewandspangen - ebenfalls aus Bohuslän - zeigen auch Spiral-Säulen. Die bronzezeitlichen Rasiermesser-Gravuren zeigen die Himmelsstütze auf dem Weltenschiff in einer pilzförmigen Art. Die einfache heidnische Säule/Sonnensäule ist in einigen z.B. französischen Kirchenkapitellen belegt. Die Gabelstütze des Himmels ist im Fundmaterial kaum anzutreffen, aber sie ist belegt z.B. auf langobardischen Fibeln Pannoniens (Ungarn), auch bei westgotischen Reliefs Nordspaniens. Auf der rechten Seite des langlockigen Germanen im Mantel, von einem röm. Triumphalrelief im Vatikan-Museum, wird vor einer Art Standarte, ein kleines rundes Wappenschild gezeigt, auf dem etwas zu sehen ist, das einem doppelspiraligen Irminsul-Säulenkopf auffällig gleichen könnte. Die beiden grundsätzlichen Werkgedanken sind in den Strukturen nicht eben weniger erhaltener Abbildungen wiederzufinden. Viele Spiral-Säulen-Abbildungen fanden wir an den Außenfronten des Würzburger Domes, wo sie nach kirchenchristlichem Diktat als Heidenbilder hingehören. Auch daraus ist zu ersehen, dass die Irminsul nicht allein im altdeutschen Norden bekannt war, sondern ebenso im fränkischen Land. Kurt Böhner zeigt in „Die fränkischen Altertümer des Trierer Landes“, 1958, auf Tafel 70 und 75 die merowingischen Steinfunde, auf denen die Sinnbildverknüpfungen des jungen Christentums mit den alttraditionellen heiligen Zeichen des Heidentums vorgenommen wurden. Da sehen wir Kreuze mit dem Irminsul-Bild im oberen Kreuzbalken, Grabplatten mit der Sieg-Rune, das vom Doppelwendel-Sonnenweg überdachten Kreuz, das Kreuz als einen das Weltenhaus stützenden Irminsul-Ersatz, die altheilige Doppelspirale - wie sie schon im nordisch-bronzezeitlichen Felsbildmaterial und auf den mittelalterlichen heidnischen Geleitmünzen (Brakteaten) vorkommt, rechts und links unter dem waagerechten Kreuzbalken, und eben die rein heidnischen Grabsteine mit den schlichten Irminsul-Gravuren. Die Kultsäule war germanisches Gemeingut. Im „Hildebrandlied“ wird die Menschheit „Irmindeot“ genannt und Gott „irmingot oben im Himmel“, woraus hervorgeht, dass der germ. Begriff „irmin“ für „groß / mächtig“ eingesetzt wurde. In zwei aus Bayern herrührenden Predigten des 12. Jhs. werden christliche Bekenner einmal als „Fürsten und irmesule der Christenheit“ bezeichnet -, das andere Mal als die „boume und irmesule der heiligen Christenheit“ genannt. Auf den gotländischen Taufsteinen in Angeln und Schwansen, Dänemark und Schweden sind die Spiral-Säulen eingemeißelt, mitunter flankiert von hässlichen, anbetenden heidnischen Symboltieren. Die in alter Zeit den Sachsen unmittelbar nachbarschaftlich siedelnden Langobarden waren Irminsul-Verehrer, wie wir ihren Hinterlassenschaften entnehmen dürfen, z.B. dem synkretistischen Spiral-Säulen-Relief in der Kirche „S. Maria Assunta“, im lombardischen Städtchen Gussago/Oberitalien.
Angemerkt muss werden, dass man bei Betrachtung mehrerer Abbildungen keltischer Götter-Köpfe und weiteren zweifelhaften mittelalterlichen Gesichtsdarstellungen, welche alte Götter meinen könnten, sich der starke Eindruck aufdrängt, dass die Partie der Nase mit den durchgezogenen Augenbrauenbögen die Irminsul-Weltsäule ins Bild setzen wollen, so dass die Nase für die Säule und die Augen für Sonne und Mond stehen. Es handelt sich bei den Irminsul-Darstellungen zumeist um keine „Gabelstützen“ der die Sonne aufsitzen könnte, vielmehr um Stützen der Sonnenlaufbahn, wobei zu beobachten ist, die Sonnenlaufbahn ist mit der Stütze derart integriert, dass die Spiralen, zur Rechten und Linken, wie zwei Hörner aus dem Säulenkopf herausragen. Dieser Umstand fordert zu einem Vergleich heraus mit der Externstein-Palmette, wo es keine Sonnenwirbel-Ranken sind, sondern zwei geschwungene, an ihren Blattenden leicht eigerollte gerippte Palmbaumwedel. Bei den allamannischen und langobardischen Gewandfibeln scheint die ganze Fibel eine Irminsul zu meinen, in deren Bogenfeld die solaren Doppelspiralen eingearbeitet wurden. Ganz wichtg erscheint mir der Hinweis, dass sich beide Irminsul-Formen von den bronzeitlichen Gewandspangen aus Schweden im Fundmaterial der zum Süden Europas abgewanderten Nordvölker wiederfinden, beispielsweise im langobardischen Irminsul-Kapitell von Mailand-Museum und dem Relief von Gussago.
Das Thema der Irminsul, rechts und links flankiert von heidnischen Anbetungstieren (Molch, Kröte, Bär, Wolf, Greif, Drache, Perd (Sinnbild des Stolzes), Esel (Sinnbild der Dummheit) findet sich in mehreren Ausführungen auf kirchlichen Tympani, sowie Taufbecken und deren Sockel. Ein Türsturz im Frankenmuseum zu Würzburg stammt aus von dem Stift-Haug in der Würzburger Altstadt vom 12. Jh.. Das Relief führt die von heidnischen Tieren flankierte Irminsul vor. Geradeso von heidnischen Dämonenwesen (pferdeartige Gestalt und Drache) ist die Irminsul-Darstellung auf dem elfenbeinernen Kamm aus dem Prager Domschatz, des 10. Jhs.. Er soll sich im Besitz des „hl. Adalbert von Prag“ (956-997) befunden haben. Der Mann ist irgendwo an der Ostsee auf einer Missionskampagne erschlagen worden.
Auf mehreren langobardischen Fibeln findet sich ein Motiv, welches als Irminsul-Gabelstütze aufgefasst werden könnte. (siehe: S. Fuchs und J. Werner, „Die langobardischen Fibeln aus Italien“, 1950) Sie gehören aufgrund gewisser Stilelemente zur Sphäre des Wodan-Glaubens. Auf der von einem leider unbekannten Fundort in Pannonien (Fuchs-Werner-Tafel 55, IV.) ist der Wodan-Kopf mit einem offenen und einem geschlossenen Auge zu erkennen. Eine andere dieser Fibel-Gattungen stammt aus dem geschlossenen Grabfund von Lingotto bei Turin (Fuchs-Werner-Tafel 21 A 86). Eine weitere solcher Bügelfibeln hob man aus dem Boden von Thalmässing in Mittelfranken. Ähnlich sind auch die langobardische „Eberkopf-Fibel“ aus Toscana (Fuchs-Werner-Tafel 20, A 894) und die langobard. Bügelfibel aus „Cividale e suburbio“, Cividale-Museum, Inventar-Nr. 714 / 15 (Fuchs-Werner-Tafel 6 A 33).
Der Langobarden-König Alboin hatte seine Heervölker im Jahre 568 von Pannonien (Ungarn) aus nach Oberitalien (Provinz Friaul) geführt. Er stießen auf wenig Widerstand. An der Eroberung beteiligten sich auch 26.000 sächsische Krieger. Von Friaul aus begannen die Ankömmlinge ihre Herrschaft über Italien aufzubauen und erreichten schon 571 Benevent. Während ihres Einrückens in Italien waren die ursprünglich norddeutschen Langobarden und ihre Verbündeten ebenso, in der Masse Heiden, oder solche mit einer unverstandenen arianischen Tünche. Seit dem Konzil von Nicäa (325) galten die Arianer als verurteilte Häretiker, weil sie vernünftigerweise die „Gottähnlichkeit“ statt der „Gottgleichheit Christi“ vertraten. Im religiös toleranten Langobarden-Reich konnte jeder nach seiner Fasson selig werden. Es könnte also sein, dass die altgläubigen Langobarden, um sich von der italienischen Menge abzuheben, ihre Fibeln sichtbar wie ein Bekenntnis zum Altglauben trugen. Die Christen taten es bekanntlich ebenso, indem sie Kreuzchen an die Bekleidung hefteten. Versklavt wurde niemand, aber natürlich setzten sich langobardische Herren in die Besitztümer die ihnen gefielen und erreichbar wurden. Aber sobald sich eine Konsolidierung entwickelt hatte, zeichnete sich der langobardische Einflussbereich durch Sicherheit und Rechtlichkeit aus. Der Langobarde Paul Warnefried, genannt Paulus Diakonus, schrieb in seiner „Langobarden-Geschichte“ (III, 16) zur Zeit um 584: „Und das war in der Tat wunderbar im Reiche der Langobarden, kleine Gewalttätigkeiten wurden begangen, keine geheimen Anschläge wurden gemacht, niemand wurde ungerechterweise zu Frondiensten gezwungen, niemand plünderte, Diebstahl und Räubereinen kamen nicht vor, jeder konnte wohin es ihm gefiel, ohne Furcht und Sorge gehen.“ In dem Maße wie, aufgrund des unaufhörlichen Intrigierens der italienischen Bischöfe, der Katholizismus über den langobardischen Eigenglauben und den Arianismus an Raum gewann, verlor sich zum Ende des 7. Jhs. auch die Sprache des Langobardischen und das Volk ging im italienischen Völkergemisch unter. Aber die Zeugnisse des altdeutschen Irminsul-Glaubens der Langobarden sind bis heute - zu unserer Freude - erhalten geblieben. Und ebenso die verwirrend-schönen, vielgestaltigen christlich-heidnischen Mischformen von Dreispross, Spiral-Säulen, Spiral-Kreuzen, Spiral-Palmen, Irminsul-Palmbäumen und Lilien. Die langobardische altgläubig-arianisch-katholische und byzantinische Mischkunst trieb ihre exotischsten Blüten, wie wir sie, neben etlichen weiteren Zeugnissen, auf dem Brunnen inmitten des lateranischen Kreuzgangquadrats betrachten können.
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Langobardischer Brunnen im Kreuzgang/Lateranbasilika, Rom, 9. Jh.
So eifrig die ursprünglichen Langobarden Irminsul-Anhänger waren, so eifrig blieb nach ihrer zunehmenden Verchristlichung, ihre Freude den byzantinisch-orientalischen Dattelbaum-Lebensbaum ihrer einstigen heidnischen Weltensäule anzupassen. In überschäumender Gestaltenvielfalt schufen sie die Ranken- und aus altgerm. Sinntradition die Flechtmuster (Schicksalsgeflecht), wohinein sie in immer neuen Formgebungen ihren Weltsäulenersatz, die Palmbaumsinnbilder, dazustellten. So endete im betörend Schönen, Bunten, Maßlosen, Beliebigen der Menschen-, Religions- und der Kunstdurchmischung was im bronzezeitlichen Norden mit dem erhebenden Licht- und dem tröstlichen Himmelsstützen-Irmin-Glauben begonnen hatte.