FESTE UND FEIERN
 
Das menschliche Bedürfnis nach Wechsel zwischen Arbeit und Feier reicht sicherlich bis in die vorge­schichtliche Zeit zurück. Eindeutige Felsritzbilder aus der Bronzezeit Süds­kandinaviens (1.600-800 v.0) zeigen schon Feierlichkeiten, Prozessionen und Kultspiele, die uns an noch heute vertraute Motive erinnern. Die vielgesichtige Lebendigkeit des nordischen Jahres mit sei­nen ständigen klimatischen Um­schwüngen und wandelnden Natureindrücken lieferte zweifelsfrei die Hauptveranlassungen dafür, ei­nen nicht en­denden Fest- und Feierreigen zu entwickeln. Wie einförmig erscheint dagegen der Jah­res­fluss in südlicheren Regionen.
 
Im Urbeginn des Jahresfestkreises stand eine Naturach­tung und -verehrung, die im Zuge des allge­meinmenschlichen Entwicklungsprozesses immer mehr heranreiften zu einer Erkenntnis- und Verbin­dungs­suche nach jenen numi­nosen Kraftmächten, welche die geschauten Natur­schauspiele letztlich verursachen. Der ODING-Jahressymbolismus mit seinen 24 Mond-Festzei­ten ist ein tiefsinniger Spie­gel des altgermanischen Mythenjahres. Man könnte ihn als das natur­religiöse Grundschema der runi­schen Hochreligion bezeichnen. Zwar bedeuten 24 Jahresfeste nicht unbedingt auch 24 Feiern, denn der Begriff der „Festzeit“ meint lediglich eine Festmarke im Son­nenjahreslauf, also einen Erinnerungs­kerb­schnitt, welcher eine ganz bestimmte Jahresstation markieren soll. Doch kannte der nordische Jah­res­festring tatsächlich eine solche Fülle von wirkli­chen Feieranlässen, daß 24 Runen nicht ausgereicht hät­ten, sie alle zu bezeich­nen. Noch heute weiß jedes Buch über deutsche Jahresbrauchtümer davon ein Lied zu singen. Ausnahmslos alle Fachleute - auch die christlichen - bestätigen das reichentwic­kelte re­ligiöse Kult- und Gemeinde­leben in vorchristlicher Ära. Kaum eines der noch jetzt üb­lichen Feste wurde als völ­lige Neuentwicklung der Christenkirche geschaffen, vielmehr lässt sich in der Regel ohne An­strengung ihr altgläubiger Kern herausschälen. Zur Massenhaftigkeit noch heutiger Brauch­tumsfe­ste in Deutschland hat also zu aller­erst der engbesetzte altdeutsch-heimatreligiöse Kult­kalen­der beigetra­gen, auch die Ver­mischung mit verschiedenartigsten Kultkreisen und insbesondere die mehrfach verscho­benen Jahreseinteilungen und -anfänge. Durch solche verwirrenden Verschie­bungen ist es zu erklären, dass wir gleiche Bräuche zu verschiedenen Festzeiten wiederfin­den.
 
Die Menge der jahreszeitlich gebundenen Sippen-, Gemeinde-, Stammes- und Gaufeier­lichkeiten wi­dersprechen andererseits nicht der Gegebenheit, dass das kosmische Son­nenjahr eigentlich nur vier Festpunkte aufweist, nämlich die beiden Sonnenwenden (21. Dez. u. 21. Juni) und die beiden Sonnen­standsgleichen (21. März u. 23. Sept.) Weil diese vier Sonnenstände zwar messbar und berechenbar, aber nicht erlebbar sind, spielten sie im alten Brauchtum keine hervorgehobene Rolle, vielmehr feierte man diese Jahresumschwünge auf den festgesetzten Mondständen da­nach, also erst zu den Zeiten, in denen die Auswirkungen des sich ändernden Sonnenganges deutlich sichtbar wurden.
 
Doch die germanische Auffassung von der Dreiteilung des Jahres, der vielfach belegten Götter­triade und die allgemein kultisch-religiöse Hochschätzung der Dreizahl, die sich auch im ODING-Lehrsystem überzeugend wiederfindet, legt die Vermutung nahe, dass lediglich drei Haupt-Kultop­fer gefeiert wur­den. Diese Annahme wird bestätigt durch hochmittelalterliche Berichte über heidnische Fest­bräu­che Skandinaviens (Snorris „Heimskringla“, 13. Jh.) sowie die noch heutige Einteilung der drei Festkreise: Weihnachten, Ostern, herbstliches Totengedenken. Die drei großen einstigen Kultfeiern der Volksge­samtheit lagen nach genannten Schriftzeugnissen sowie ODING-Zeitweiser (ursprünglich mondstands­abhängig): etwa Mitte Januar Jolablót, Mitte April Sigrblót und Mitte Oktober Ásablót.
 
Das Jahr beginnt im groben Überblick mit der Julspanne: Klausenlaufen, Klöpflesnächte, Mütter­nacht/ ­Weih­nachten, Drei(himmels)königsfest/Perchtennacht und Hakunacht/Hochjul/­Mitt­win­ter. (Der Son­nen­gang wird wieder sichtbar; 20. Jan. = „Fabian, der Saft tut in die Bäume gahn“.) Dann währt die Frühlings-/Frühsommerspanne: Lichtmeß/Frauenfest, Winteraustreiben, Fasnacht/­Schemenlauf, Fun­ken­­son­ntag, Arilpossen, Palm-/Weidensonntag, Sommertagsfest, Osterfeuer, Wal­pur­gis­­nacht, Laub­män­nchen­tag, Maibaumtanz, Brunnenschmückungen, Questenfest. Es folgen die Sommer- und Herbst­feste: Balder(Johannis-)feuer, Notfeuerdrehung, Hagelprozessionen, Erntefest, Erntedank/Hahnen­schlagen, Kirmes/Kerwe, Lichtgansessen/Martinstag/Sommerende, Schlachtfeste, Nikolaus-/Pelsnickel/ Isegrind­nacht. Aus dem vorhandenen Brauchtumsmaterial - unter Zuhilfenahme der ODING-Ord­nung - ist eine Wiederherstellung des urdeutschen Festkalenders sehr gut möglich.