Seelenwanderungs- u. Wiederverkörperungsglaube
 
 
 
Die tragische Verdunkelung und Vergreisung des deutschen Geisteslebens, insbeson­dere be­ginnend mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, drängte auch die Idee oder Erkenntnis von den wieder­holten Erdenleben des Menschen in die Mottenkiste der „Undenkbarkeiten“. Aber eigentlich war es die christliche Lehre, die seit Jahrhunderten nur eine Frage erlaubte: „Was kommt nach dem Tod ?“, während die andere Frage un­ausgesprochen blieb: „Was war vor der Geburt ?“ Mit der Übernahme des Christianismus verlor der Mensch in zunehmendem Maße seine Jugendlichkeit. Der altgewordene, grei­senhafte Menschengeist fragt nurmehr: „Was wird sein ?“, während die junggebliebene Seele selber noch den Quellen des Seins so nahe steht, dass sie darüber nachsinnt: „Wo komme ich her, was war vor meinem Jetzt ?“
 
Eine Ureigentümlichkeit des indogermanischen Weltverständnisses ist der Glaube an die ewig le­bende, gottesteilhaftige Menschenseele, welche immer wieder in neuen Verkör­perungen ihre Erden­wanderun­gen vollziehen würde. Der Wiederverkörperungsgedanke bedarf eines le­bens­vollen Gleichge­wichtes zwischen den Neigungen der Jugend und des Alters, der Geburt und des Todes. Der Wieder­ge­burts­gläubige versteht sich als Glied inmitten einer Kette - oder als wachsende, verge­hende und er­neut ent­stehende Sprosse eines sich endlos drehenden Le­bens­rades. Auf keiner Stufe der keltisch-ger­manisch-deut­schen Geistesentwicklung wurde diese Lehre als etwas Fremdartiges empfunden. Die Zeugnisse beweisen, dass sie einstmals fe­ster Be­standteil der heimischen Artreligionen gewesen ist. Schon zur Zeit der Riesensteingrä­ber (z.B. Züschen/Fritzlar), vor über 4 Jahrtau­senden, statteten un­sere Vorfahren die Steinkisten mit „Seelenlöchern“ aus, durch wel­che die Totengeister ein- und aus­fah­ren sollten. Die Lausitzer Kultur, insbesondere in Schlesien, versah sogar ihre Aschenurnen mit „See­lenöffnungen“. Die älte­sten Schriften der Indoeuropäer sprechen in eindeutiger Festigkeit von der „unsterblichen Seele“ des Menschen (Rigveda I,164,30). Auch den Griechen war der Gedanke nicht fremd, so riet schon Platon („Staat“, I 521f): „Ein mittleres Leben zu wählen und sich vor dem Übermäßigen nach beiden Seiten zu hüten, sowohl in diesem Leben, als auch in jedem folgenden; denn so wird der Mensch am glückseligsten.“ Der griech. Historiker Diodor (V,28) berichtete, ge­stützt auf Poseidonius (135-51 v.0), über die Gal­lier: „Das Ende des Lebens achten sie für nichts. Es herrscht nämlich unter ihnen die Meinung, die Seelen der Menschen seien unsterb­lich und nach einer bestimm­ten Zahl von Jahren lebe man wieder auf, indem die Seele in ei­nen anderen Körper einwan­dere ... Bei dem Begräb­nis der Leichen werfen einige daher Briefe, die sie an ihre verstorbenen Ver­wandten geschrieben ha­ben, in das Feuer, in der Hoffnung, dass die Toten diese lesen.“ Ebenso schrieb Cäsar in seinem De bello Gal­lico (VI,14): „Vor allem lehren sie, dass die Seelen nicht stürben, sondern nach dem Tode von einem auf den anderen übergingen, und dadurch glauben sie einen Hauptantrieb zur Tugend zu fin­den, wäh­rend die Todes­furcht in den Hintergrund tritt.“ Der röm. Dichter des 1. Jh. n.0 Marcus An­naeus Luca­nus sprach in klügelnder Überheblichkeit von der Glau­benskraft Nord­europas (im Ge­dicht Pharsalia): „Die nördlichen Völker fürwahr sind glücklich in ihrer Ein­bildung, da jener größte der Schrecken sie nicht be­drängt: die Furcht des Todes. So stürzen die Männer mutig dem Stahl entgegen und sterben mit williger Seele. Hier heißt feig, wer das Leben schont, das doch wieder zu­rückkehrt.“ Der röm. Au­tor Appian des 2. Jh. n.0 berich­tete von den Ger­manen un­ter ih­rem Führer Ariovist, „die wegen der Hoff­nung auf Wieder­geburt Verächter des Todes waren.“ Und noch aus dem hoch­mittelal­terli­chen 13. Jh. findet sich der Zusatz eines Sammlers isländischer Handschriften (Edda) zum Lied von Helgi und Sigrun: „In alten Zei­ten glaubte man, dass Menschen wieder­geboren wür­den; das wird nun Alt­wei­ber­wahn ge­nannt.“ Nach den Prosa­stellen im Helgi-Liede wurden Helgi, Sigmunds Sohn, und seine Ge­liebte, Sigrun, für Wiederverkörpe­rungen von Helgi Hjör­vardsohn und Svafa gehal­ten; man glaubte, dass sie nach ihrem Ableben in den Gestal­ten von Helgi Had­dingjaskati und Kara Halfdanstochter wiedergeboren wurden. Im kurzen Si­gurd-Lied verflucht Hagen die Brünhild: „Ver­wehrt sei ihr auf ewig die Wiedergeburt !“ Diese Ah­nung um die Wieder­kehr der Seelen rankt sich durch die ganze europäische Geistes­ge­schichte. In seiner Schrift „Über die Ursa­che“ (1484) speku­lierte der kenntnis­reiche Deutsch-Italiener Giordano Bruno: „Nim­mer ver­geht die Seele, vielmehr die frühere Woh­nung tauscht sie mit neuem Sitz und lebt und wirkt in diesem. Alles wechselt, doch nichts geht unter !“ Selbst der Spötter Vol­taire meinte: „Die Lehre von der Wiederverkörperung ist weder wider­sinnig noch nichtssa­gend ... Zweimal gebo­ren zu werden ist nicht wunderbarer als einmal.“ Ob Les­sing, Schiller, Jean Paul, Kleist, Goe­the - die tiefen Geister be­kannten sich - oft in geradezu keu­scher, schamhaft-zurück­haltender Art - zur Metamorphose, durch die der Mensch hindurch­schreite, um die Fülle seiner Mög­lichkeiten auszuschöpfen. Den Worten Goe­thes ist nicht viel hinzuzu­fügen, aus ih­nen spricht in unüberbietbarer Klarheit die alt­gläu­bige Weis­heit: „Des Menschen Seele - Gleicht dem Was­ser - Vom Himmel kommt es - Zum Him­mel steigt es - Und wieder nieder - Zur Erde muss es - Ewig wechselnd.“ Der voll­kommene Meister des deutschen Den­kens ver­mochte sich seine tiefe Bin­dung an Char­lotte von Stein nicht anders zu erklären, als dass sie für die Dauer eines vor­ausgegangenes Lebens schon einmal in gleichstarker Liebe miteinan­der verbun­den waren. Sein Jugend­gefährte Georg Schlos­ser schrieb in einer späteren kleinen Schrift für den Freundes­kreis: „Wenn ich dir zeige, dass die See­lenwanderung ... nebenher tausend Rätsel, tausend Geheim­nisse der morali­schen Welt erklärt und den, der sich daran erwärmt hat, über tausend Dinge beruhigt, die uns sonst im­mer unglücklich ma­chen, den be­sten am unglücklichsten; so wirst du doch den Wert dieser Hypo­these so weit anerken­nen, als der Wert aller Hypothesen reicht: uns in den Au­genblic­ken wohlzutuen, wo wir das Bedürfnis haben, durch die Wolken zu schauen, die über den Ge­heimnissen Gottes lie­gen...“ Nietz­sche ließ sei­nem Za­rathustra aus des­sen Schülerschar zuru­fen: „Siehe du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft ...“ An anderer Stelle sagte der Pro­phet des Übermen­schen: „Hier ist die Wurzel aller wah­ren Kultur; und wenn ich unter dieser Sehnsucht der Men­schen verstehe, als Hei­liger und als Genius wie­dergebo­ren zu werden, so weiß ich, dass man nicht erst Bud­dhaist sein muss, um diesen My­thus zu verste­hen...“ (Un­zeitgemäße Be­trachtungen 1874). Auch die Großen des Nor­dens: Kierkegaard, Ibsen, Strind­berg fan­den ihren Halt im Wissen, im Ahnen, im Hof­fen um die Wie­der­kunftslehre.
 
DIE RUNISCHE EWIGKEITSUHR
 
Da man davon ausgehen darf, dass die Wiedergeburtslehre niemals zum Bestandteil rom­christl. Missi­onspredigten in Mittel- und Nordeuropa gehörte, so kann sie allein aus ei­genge­setzlichem Glaubensgut erwachsen sein, zumal diese Auffassung durch eine Vielzahl zeitgenös­si­scher Belege abgesichert wird. Wieder erzeigt sich das ODING als die einzigartige, voll­kom­men­e Quelle für die alt­germanische bzw. gallo-germanische Theologie. Sie führt das fein vernetzte Zahlen- und Be­giffszeichen-System vor, das zur Frage über den einstigen Wiederkunftsglauben eine unzwei­deu­tige Antwort zu geben weiß. Der 24-stabige Sinnzei­chenkreis der Runenordnung veran­schaulicht den Jahreskreislauf und ebenso die gleichförmig gedachte große Zeitspirale des Gottesjahres und der Ewigkeit. Während nun aber der ODINGsche Jahreskalen­der mit seinen einzutragenden 24 jährlichen Mondständen als praktischer Fest- und Feier-Zeitweiser genutzt werden kann (bei Einschaltung der notwen­digen 13-Monats-Schalt­jahre), nimmt die ODINGsche „Ewigkeitsuhr“ ein sinnbildhaftes Jah­resschema an: Die 24 Zeitrunen verteilen sich in leichter Abweichung von wirklichen Jahres-Mondständen in schematischer Gleichmäßigkeit. In diesem harmonischen 24er-Runenring kommt es nicht mehr auf konkrete Mondstände an, sondern nur in welchen Beziehungen die Ru­nen­zeichen zueinander stehen, wie sie miteinander korrespondieren. Aus solcher Be­trach­tung ergibt sich eine Fülle von Aufschlüssen über Runenverwandtschaften. Es hat sich empi­risch erwiesen, dass ein Sinnzei­chen, welches um 9 schematische Monatsschritte ei­nem anderen nachfolgt, so gewählt wurde, dass sein Sinnbildkomplex aus dem vorangegangenen her­vorgewachsen er­scheint. Man könnte von einer Sinnbild-Metamorphose sprechen. Mit dieser Technik sind innerhalb eines knappen Symbolsystems Aussagen zu machen, die über die normalen Grenzen der Begrifflichkeit von Ideogrammen weit hinausgehen. In dieser Weise beginnt der Runenring auf eine weitere Art selbst zu erzählen, er vermit­telt keine Aneinanderreihun­gen von Bildern, sondern aussage­starke Gedan­ken­fol­gen.
 
Wie sind diese 9-er Schritte zu erklären ? Von alters her geht die landläufige Formel von der 9-monatigen Schwangerschaft um. Tatsächlich wurde für Frauen, die in einem re­gelmäßigen Vierwo­chenabstand ihre „Blume“ erleben, die Dauer der biologischen Mut­terschaft auf 265 Tage und 9 Stunden errechnet. Dieser gynäkologische Erfahrungswert entspricht fast genau der Zeit von 9 synodi­schen Mondmonaten à 29,5 Tagen (29 Tage und 13 Stunden), auch Lichtmonde genannt. 12 sol­cher Mondgänge runden ein Mondjahr mit seinen etwas mehr als 354 Tagen. Der Fehler der Abwei­chung zwischen Schwangerschaftsberechnung und 9 synodi­schen Mondmonaten beträgt den winzigen Wert von 12 Stunden oder einem halben Tag. Das darf durchaus zu den gängigen Schwankungen aller Lebensvorgänge gezählt werden. So wurde die Strecke von 9 Mon­den gewissermaßen als „Wer­de­schritt“ (von Zeugung zur Ge­burt) verstanden und in diesem Sinne für die Symbolsprache genutzt.
 
 
Rechnet man nun in der ODING-Ewigkeits­uhr jeweils 9 schematische Mondläufe von einer Aus­gangs-Rune zu der im Zeitablaufsinne folgenden Rune, so stellt man fest, dass inner­halb von jeweils 4 Runen ein abgeschlossener Kreislauf erfolgt; 4 Buch­staben stehen in einem be­son­ders innigen Verwandt­schaftsverhältnis zuein­ander - sie bil­den ein Quadrat. Insge­samt 6 sol­cher Gruppen von 4 Runen sind im 24-Stäbe-Kreis vorhanden. So wie jegliche Geburt und Ernte die unmittelbaren Auswirkungen von voraus­ge­hender Zeugung und Aussaat sind, so erwächst jede Rune - mehr oder minder deutlich und für uns Heutige verstehbar - aus dem Symbolkomplex ih­rer um 9 Mond-Schritte voranste­henden Rune. Eine von diesen 6 Runen-Metamorphosen - es ist jene, in deren Quadrat der Urmensch man­naz/Mannus steht - er­zählt vom Kreis­lauf-Schicksal der unsterbli­chen menschlichen Wesenheit - vom Weg der Men­schen­seele:   > > > >
 
 
Diesen Kreislauf wollen wir nachvollziehen, indem wir mit dem Geburtsmythos des Ur­men­schen (Mannus) beginnen, wie er im Runen-ODING erkennbar wird. Geboren ist der Mensch aus der 11. (Kernzahl 2) Rune der Urmutter, deren Runenname perðö/Peratha/Bechta („Helle, Strahlende, Weißhäu­tige“) lautet. Gleichwertig und gleichwesig wurde sie geglaubt mit dem runischen Urvater, der auf dem 2. Platz der Runenreihe das Attribut des Doppelhammers (oder der Doppelaxt) trägt. Die innige Verbindung und letztlich göttliche Wesenseinheit zwischen Urvater und Liebesmutter drückt sich im griech. Mythos dergestalt aus, dass die Aphrodite aus dem Schaum der ins Meer gefallenen Schamtei­le des Himmelskönigs Uranos entstand. Als Tochter und Verkörperung des Meeres selbst, ist sie die Schaumgeborene und die aus der Muschel Geborene. Muschel und Vulva wurden in einigen Sprachen mit dem gleichen Wort benannt. Letzt­lich ver­körpert diese Göttin das Urbild der reizvollen, erotischen weiblichen Wesenheit. Sie ist die Naturkraft, die in beson­derer Weise Wohlstand und Wachs­tum erwirkt.
 
Zu dieser Göttin gehört die 11, die Zahl der Liebe, der Lust und der Fruchtbarkeit. Deshalb schenkt im eddischen Skir­nes­mål (19), der Skirnir - eine Erschei­nungsform des Sonnen- und Frucht­barkeitsgot­tes Freyr - seiner angebeteten Gerda (der Erdenfrau) „Eple ellifo“, 11 Äp­fel, als Braut­werbung. Ihr Ru­nen-Bildkürzel ist die (zu Schreibzwecken um 90° aufge­stellte) Schale (Kes­sel/Becher/Topf/Ge­fäß/Korb/Gral/Muschel/Schiff) - jenem Urmutter-/Erdmutter-Sinnbild, welches sich in vielen Welt­kul­turen glei­cherma­ßen fin­det. Äh­nelt doch die Frau und Mutter in ihrem mor­pho­logi­schen Zen­trum wie als symboli­sche Ge­samtheit dem Le­benswas­serbehälter und -spen­der, aus dem heraus sich die im­merwäh­rende Schöpfung des Lebendigen an­dau­ernd voll­zieht. Die Gleichung Mutter = Gefäß ist zwar nicht so alt wie der Mensch, aber doch immerhin so alt wie die Erfindung der Töp­ferei. Für die­ses altgläubige Den­ken er­hiel­ten wir eine Fülle von Be­legen aus dem Fundmate­rial: z.B. sitzende Topfhal­terin aus Gau­königs­ho­fen/Bayern, 5. Jt.v.0; ein jungsteinzeitliches Idol aus Bordjoš vom Unterlauf der Theiß; ein bandke­ramisches Fragment einer Topf­trägerin aus Er­furt (Abb. 1); bron­zezeit­liches Messer aus Beringstedt/Kr. Rendsburg (Abb. 2), dessen Griff einer jungen Kes­selträ­ge­rin nach­ge­formt ist; hallstattzeitliche Kultstatuette aus Ton (aus Dechsel/Deszczno/Schlesien, Abb.3); der kelti­sche Kultwa­gen von Strettweg/Steiermark (1. Hälfte 7. Jh. v.0; Abb. 4) zeigt die alle anderen Ge­stalten überra­gende, scha­lentra­gende Lebensmutter (Liebesgöt­tin), die auf einer Bo­denro­sette mit 11 Strahlen steht. Noch auf den vielen keltisch-germanischen Matro­nen-/Müttersteinen, kultischen Denkmälern des 1. - 4. Jh. n.0, werden Göttinnen dargestellt, die Füllhör­ner oder flache, mit Äpfeln gefüllte Körbchen auf dem Schoß halten. Dem Topos dieser Göttin ent­sprach auch die alt­nordi­sche Göttin Iðunn/Idun, („Verjüngende, Erneu­ernde“), die in ihrer „Truhe“ die „Äpfel der ewigen Ju­gend“ hü­tet. Nach der ägyptischen, heliopolitanischen Lehre war es die Himmelsgöttin Nut, die als Attribut ein kleines kugeli­ges Gefäß auf dem Haupte trug und in der Auferstehungssymbolik des Totenglaubens eine Rolle spielte. Von den Gestirnen, ihren Kindern, heißt es: „Sie gehen ein in ihren Mund und kommen wie­der hervor aus ihrem Schoß.“
 
Warum die 11 zum Zahlensymbol der Fruchtbarkeitsmutter wurde, lässt sich vielleicht durch ihre en­gen Mondbezüge erklären. Das Jahr der Mane/Mondin ist mit 354 Tagen um 11 Tage kürzer als das Sonnenjahr. Der Mond selbst wurde ja mit dem Lebenswasserkessel oder dem Schiff verglichen. So wundern wir uns nicht über die verchristlichte altkeltisch-germanische Sage von der Göttin Tutur­sel/Ursula, die mit ihrer Gefolgschaft von 11.000 Jungfrauen (Fruchtbarkeitsdisen) auf Schiffen den Rheinstrom befährt. Bis heute führt die Stadt Köln da­her die 11 Flämmchen im Wappenschild. Glei­che Mär erzählte man sich in Norddeutschland, doch hier soll es Helgoland gewesen sein, wo die elf­tausend Jungfrauen an Land gingen. Weil die Leute aber gottlos waren (den alten Göttern untreu wurden), sei das bis dahin fruchtbare grüne Land versunken, abgerissen und die ehemals heilige Insel zu Stein verwünscht worden. Das ist deutlich genug, deshalb macht uns auch die Bedeutung der Zahl 11 im Fruchtbarkeits­kult des Faschings, der Fasnet oder Fasenacht keinerlei Kopfzerbrechen.
 
Für die Grie­chen galt die Aphrodite als Urgebärerin der Menschen, ebenso wie die be­deu­tungsgleiche Venus als die Urmutter des römischen Volkes verehrt wurde (Lukrez, „Von der Na­tur der Dinge“). Dass die göttlichen Inkarnationen der Liebe, eben die Lie­besgöttinnen, für die eigentlichen Schöpferin­nen der Völker galten, hat ja im mythischen Kern einen sehr rea­len Gehalt. Nicht der Logos, der männliche Scharfsinn und der kraftvolle männliche Selbstbe­hauptungswille sind letztlich die wichtigsten Werde- und Erhaltungsimpulse für die Mensch­heit, sondern die Liebes- und Hingabebereitschaft und die Hegewilligkeit der mütterlichen Frau, deren anbetungswürdige Überhöhung im Bild der Göttin geschaut wurde.
 
In der Venus erkannten die Alten das Prinzip aller weiblichen und irdischen Fruchtbar­keit, die eng um die Vorstellungsbilder von Mutter/Mater/Materie/Erdenschoß kreisten. Ihr Name erklärt sich aus der indogerm. Wurzel ven, welche lieben, begehren, gün­stig sein, bedeutet. Vana heißt im Sanskrit „lieb­lich, angenehm“. Im Altnordischen ist vaen = „schön, lieblich, vor­trefflich“ - woher die Vanen (ed­disches Göttergeschlecht) ihren Na­men haben. Die Vana­dis (Vanen­göttin) Freyja war die spät­nord­germanische Liebesgöt­tin und entsprach der griech. Aphro­dite, auch Persephone und der röm. Venus mit ih­rem „Füllhorn“ ebenso wie der alt­germani­schen Pertho/Bertha, der folgerichtig das Ru­nenzei­chen der Schale zugeord­net wurde. Die Kräfte dieser Göttin in Gestalt der sprossenden, trei­benden Vegetation empfand der Mensch besonders zum Hoch­frühling und Wonnemonat Mai. Dies war ihre Zeit, welche astrologisch von der milden „Him­melskuh“ bzw. vom „Stier“ bestimmt wurde, so dass man ihr auch die­ses Attribut gerne an­hängte. Der Monat Mai emp­fing seinen Namen von einer an­deren Be­zeichnung der gleichen Urgestalt, von Ma, der Mutter Erde, bzw. der röm. Maia (Mutter des Her­mes), die ganz nahe stand bei der kelt. Füll­hornträgerin Rosmerta, welche im keltisch-ger­ma­ni­schen Gebiet intensiv zusammen mit Mercurius/Wodan verehrt wurde; auch die spä­tere christl. Marja (Mut­ter des Christos) und die Jahrhunderte ältere Maja (Mutter des Buddha) gehören in diese Reihe. Das Fest der Maia hielt man am 15. Mai. Im Germa­nischen ist Mey­jar das Mädchen, die holde Jung­frau. Aus dem ewig jungfräulichen Gral des Erd­müt­ter­chens , so lautet der My­thos des Runen-ODING, wurde auch der zwittrige Urmensch Mannaz geboren - Stammvater und Stammutter in einer Ge­stalt.
 
Der Wiederverkörperungs- oder Seelenwanderungskreislauf vollzieht seine Zeitenschritte sinnbildlich richtig von Schwarzmond zu Schwarzmond ( ), denn aus dem Schwarz-/Neu­mond heraus er­folgt nach altem Verständnis das Werden und Wachsen all dessen, was „nach oben“ gedeihen soll: > > > (s. Abb. „ODINGs-Ewigkeitsuhr“)
 
 
 
Gehen wir im ODING-Zeitenkreis, von der Liebesmutter beginnend, 9 Mond­monatsschritte weiter, so stoßen wir auf den Geburtsmoment des Urmenschen Mitte Fe­bruar, also in der alten Fasel-Fest­zeit, dem großen Vorfrühlings-Fruchtbarkeitsfest (Fa­sching). Ein her­kömmli­cher Name dieser Feier­nächte war „Aller Manne Fasenacht“, was soviel bedeu­tet wie „Aller Menschen Fruchtbarkeitsnacht/ (-nächte)“. Bei Zusammenschau sämtlicher in Erinnerung ge­blie­bener und quellen­mäßig bezeugter Brauchtümer dieses Festkreises wird er­sichtlich, dass es sich da­bei um ein sehr altes indogermanisches Paarungsfest han­deln muss, dessen tieferer Sinn die Ur­schöpfung des doppelgeschlechtlichen bzw. des paarigen Men­schenwesens selbst war.
 
Eine Vorstellung hinsichtlich der germanischen Sagen, die von der Werdung des Menschen umliefen, erhielt uns der röm. Schriftsteller Tacitus (Germ. 2): Ein erdgeborenes urväterli­ches Zwitterwesen namens Tuisto habe den germ. Urmenschen Mannus erzeugt, welcher wie­derum zum Vater der Söhne Inguo, Ermin und Istjo wurde, aus denen die drei Hauptstam­mesgrup­pen hervorgingen. Im Indischen gilt Manu oder Manus als der erste Arier. In Deutschland erhielt sich die Erinnerung an Man­nus/Mannaz bis ins 13. Jahrhundert; Heinrich von Mei­ssen schrieb über den ersten Deutschen: „Mennor der er­ste was genant, dem diutische rede Got tet bekannt.“ Das göttliche Urschöpfer­wesen Tuisto muss als Mann-Weibliche-Einheit ebenso verstanden worden sein wie auch sein Ge­schöpf der Urmensch Mannaz. Tuisto heißt wörtlich „Zwiefacher“; und dieser/dieses männli­ch-weibli­che urgött­lich Zwiefache scheint ersichtlich im ODING-Sy­stem aufgeteilt in den Ur­gott mit der Doppelaxt und die Urgöttin mit der Lebenswasserschale - beide sinnvollerweise mit der Kennzahl 2.
 
Ihr Produkt, der Mensch, ist immer als Fünfheit verstanden worden - schon in den ältesten in­doger­mani­schen Veda-Schriften bis hin zu den Auffassungen der eranisch-hellenistischen Gnosis. 5 „Enden“ hat der Mikrokosmos Mensch in seiner körperlichen Erscheinungsform, gleich dem Pen­tagramm, dem Makrokosmoszeichen; 5 Sinne stehen ihm zu Diensten; 5 Men­schenrassen meinte man unterschei­den zu können usw. Die Zahl des Menschen ist die 5. Deshalb musste der Runenschöp­fer seine Mensch­heitsrune auf die 5. Stelle im ODING-System stellen.
 
 
Wir suchen im ODING-Zeitenkreis die Rune, welche um 9 Mondmonatsschritte der Menschheits­rune nachfolgt, und stoßen auf die uruz-, die Urstier-Rune in der Novembermitte. Schon der düstere Schlacht- und Opfermonat November, in dem der Skorpion, das Symbol des Bösen und des Todes, am astrologischen Himmel droht, lässt den Sinn der Plazierung des Urstieres erahnen. Es geht um Tod und Verderben. Das runische Bildkür­zel zeigt das mit bei­den Hör­nern nach unten gewendete (getötete) Stierhaupt ; die hieroglyphische Bildsprache lässt nichts zu wün­schen übrig. Im Opfermo­nat fordert die Gottnatur ihr Fruchtbarkeitsopfer in Gestalt der sinn­fälligsten Kraft- und Fruchtbar­keitserscheinung: dem gewaltigen Aueroch­sen, dem Ur. Er war Attribut all der herrlichen Himmels­götter in den verschiedensten Kul­turen und Kult­gemein­schaften: Zeus, Jupiter, Mithras, auch der nordgermanischen Kimbern und Teutonen höch­ster Gott - sie alle wurden im Bilde des kraftstrotzen­den (weißen) Edel­stieres verstanden.
 
In diese herbstliche Opfergesamtheit gehört aber auch der gottesteilhaftige Mensch. Er steht nicht außerhalb des Naturgeschehens, sondern ist mit ihm untrennbar vernetzt. So wie er in seine Umwelt und Mitwelt unlösbar eingebunden ist, unterliegt er - ebenso wie Kleineres und Größeres - dem alles­bestimmenden Opfergedanken. Was auch immer wurde, es wurde durch das Opfer des Vorausgegan­genen. Das Ver­gangene gab sich hin für das Währende, und das Währende muss sich hingeben für das Zukünf­tige - so lautet die urälteste Menschener­kenntnis vom Sein. Schon unsere schnurkeramischen Vorfahren Mitteleuropas (Kugelam­pho­ren-Kul­tur) legten geopferte Rinder zu den Verstorbenen in die Gräber. Den getöteten Tie­ren waren Knochenmedaillons mit Sonnensymbolen um den Hals ge­hängt. So wie die Sonne täg­lich wie­der aufersteht von den Toten und in jedem Frühjahr mit frischer Licht­kraft die Erde befruch­tet, so sollte auch der Mensch nach Tod und Opfer neu erstehen.
 
„Der Mensch ist ein Opferfeuer“, kündete schon der Veda; der erste Mensch Manu wird mit dem Opfer geradezu identifiziert (X,13,4 u. 100,5). Darunter ist das Urschöpfungsopfer ebenso zu ver­stehen wie das immerwährende Menschenopfer des nie endenden Schöpfungs­flusses. Und diese jahr­tausen­dealte indo­germanische Weisheit wurde noch durch den schärf­sten neuzeitlichen Den­ker Fried­rich Nietz­sche so un­mittelbar verstanden, dass er schrieb: „Und dies Geheimnis redete das Leben sel­ber zu mir: Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwin­den muss. Freilich, ihr heißt es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferne­ren, Vielfachen: aber all dies ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber gehe ich unter, als dass ich diesem Einen ab­sage; wahrlich, wo es Untergang gibt und Blätter­fallen, siehe, da opfert sich Leben - um Macht !“ (Zarathustra II,12) Das ewige Opfer des Le­bens um der Macht des Le­bens willen, damit Le­ben mächtig bleibe, damit es überdauere - das ist letzter Sinn des Le­ben­digen. In die­sem Sinne vermochte sich bewusstes und höheres Men­schentum immer als „Op­ferfeuer“ zu verstehen. So ist es nicht verwunderlich, dass die 5-Zahl des Menschen für die Alten sowohl Hochzeits- wie auch Opferzahl bedeutete. Hochzeit und Selbsthingabe gehö­ren zum Gipfel­werk des ent­bestialisier­ten wahrhaft menschlichsten Men­schen. Das alles hat wenig oder nichts gemein mit jener an­deren (modernen) geringgedach­ten „Hochzeit“, wel­che an­gestrebt wird, um der ge­ordneten triebhaften Luststillung zu frönen. Ein jeglicher erfährt sei­nen Opfer­gang auf die ihm gege­bene Weise - der Niedere als fremdbe­stimmter, ausgebeu­teter Knecht und der Höhere als eigenes, selbstgewähltes Bauopfer seines Werkes. Je edler und ge­rechter ein Menschenge­schöpf geartet ist, umso gnadenloser scheint oft das Schicksal ihm den Lebensop­fer­schmerz zu bereiten. Schon der weise Platon (427-347 v.0) hatte erkannt und beschrieben, dass oftmals die Schurken lange Zeit von ei­nem geradezu unglaublichen Glück begleitet sind, hingegen die Gerechten nicht selten gerade wegen ihres reinen, vorbild­li­chen Weges die ärg­sten Martern erleiden müs­sen. Der Anschauungsunterricht, der ihm durch das Todesurteil über seinen schuldlosen Leh­rer Sokrates geben wurde, mag federführend gewe­sen sein. Er sprach im Dialog „Sokrates - Glaukon“ vom „Gekreuzigten Ge­rechten“: „...bei sol­cher Ge­müts­verfassung wird der Gerechte gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt und geblendet werden an bei­den Au­gen und schließlich wird er nach allen Martern noch ans Kreuz geschlagen und so zu der Ein­sicht gebracht wer­den, dass es nicht das richtige ist, gerecht sein zu wollen, son­dern es schei­nen zu wollen.“ Sol­che Urbilder des ungerecht verurteilten, leidenden Helden kennt sicher jede Geisteskul­tur. Im späten Nor­den lebte lange die Erinnerung an den untade­ligen Burgunderkö­nig Gunther, welcher der Sage nach vom Hun­nenherrscher Etzel aus schnö­der Goldgier in die Schlangengrube gewor­fen wurde, wo er un­verzagt die Harfe schlug, bis ihn das giftige Gewürm totbiss. Dieses mythische Gesche­hen wurde geradezu ein archetypisches Inbild für den Erdengang des hohen Menschen - die Welt als aus­weglose Schlangengrube, in der es gilt, gleichmütig, würdevoll und aufrechten Hauptes sein eigenes Harfenlied zu spielen bis zur Abberufung durch des To­des Natternbiss. Und wenn das leibliche Leben ans Ende ge­langte - so war sich der einstmals Sterbende gewiss -, würden seine Lebenstat und sein Le­ben­sopfer nicht umsonst erbracht worden sein; in jener anderen Welt des Geistes und der Geister würde er als geläutertes Seelenwesen die verdientermaßen erworbenen Ehren genießen - bis zu einem neuerlichen Gang hinab in die Freuden und Leiden der körperlichen Welt.
 
Die Ur-Gottesstier-Rune steht im ODING-System an 23. Stelle, ihre Ziffernsumme ist 5, die Men­schen-Opfer-Zahl. Somit spricht die runische Zahlenmystik selbst das aus, was religi­onsgeschichtlicher Wissenswert darstellt: Das Gottesopfer und das Menschenopfer waren ein einziger unlösbar verwobe­ner Glaubenskomplex im heidnischen Kult
 
 
Von der Urstier-Urmensch-Opferrune aus geht es 9 Mondmonatsschritte voran zur wunjo-Wonne-Rune mit Zahlenwert 17 und Ziffernsumme 8. Was im runischen Wiederver­kör­pe­rungsrundlauf der Runenbegriff „Wonne“ im Zusammenhang mit der Himmels- und Got­tes­zahl 8 zu bedeuten hat, liegt auf der Hand. Der 8. Himmel, der Überhimmel, galt als die gött­liche Fixsternsphäre oberhalb von den sieben Planetenräumen. Schon nach babyloni­scher Auf­fassung gelangte die Seele über die sieben Pla­netenschichten in den 8. und höchsten Himmels­gipfel. Als Lohn für menschlich-irdische Opferkraft und -größe stellten die verschie­densten Kultgemeinschaften ihren Heroen einen herrlichen Sitz der seligen Geister in Aus­sicht. Die nordischen Einherier, die heldischen Vorkämpfer der Schlachten, ge­langten nach ihrem bluti­gen Opfergang nach Walhall, der festlichen Toten­halle des germanischen Glaubens. Andere erhofften sich Gimle, das jenseitige Glanzheim. Ei­nen hohen Aufenthalts­ort, in der Nähe ihres göttlichen Ursprunges und Herkommens, ersehnten wohl aus­nahmslos alle gläubi­gen Men­schen nach Beendigung ihrer Erdenbahn, ganz gleich, welchen Kultformen sie im Le­ben auch angehör­ten. In die „8“ erhoben zu werden, also ins jenseitige Glück, das war im altgläubigen Denken eine so feste Größe, ein so feststehender Begriff, dass selbst die einstmals neugläubig-christlichen Rebellen da­gegen nicht angehen konnten. Sie paß­ten sich an und in­terpretierten lediglich neu. Die 8 war in heid­nischer Zeit das unumstößliche Sinnbild der Voll­kommenheit und ewigen Seligkeit.
 
Den Pythagoräern galt die 8-Zahl als die Zahl des vollen Körpers, der Himmelsharmonie und Gerech­tigkeit. Die Gnostiker hatten die Sophia (Weisheit) mit der 8-Zahl gleichgesetzt. Der germanische Ru­nenschöpfer stellte seine Himmelsvaterrune (Tiwatz/Tiu/Tir) auf die 8. Po­sition. Der belesene Kir­chenschriftsteller Klemens v. Alexandrien (ca. 145 - 216) kon­kreti­sierte: „Jene, die Christus wieder zum Leben gebiert, die werden in die Achtheit ver­setzt.“ In die 8-heit versetzt zu werden, bedeutete schon Jahrhunderte vor der christlichen Anmaßung die Verklärung der Menschenseele in Gottes Se­ligkeit und Gerechtigkeit.
 
Die Rune jenseitiger Wonnen steht in der ODING-Ewigkeitsuhr sehr sinnvoll in der Erntezeit, versteht sich doch wahrhaftig der jenseitige Seelenaufenthalt als die Erntezeit dessen, was der Mensch im irdi­schen Dasein zu säen vermochte oder eben versäumte. Doch von hier aus soll es nach angemes­senem Aufenthalt wieder hinab in die neuerliche Bewährung gehen. So wur­den Tod und jenseitiges Verweilen ebenso wie der Schlaf als eine Art Trost­spende und Kraft­aufladung verstanden. Nach einer Wande­rung von wiederum 9 gottesjährlichen Monats­schrit­ten ge­langt die Seele erneut zu den Gefilden der Urmut­ter mit der Lebenswasser­schale, dem See­len­kessel. Sie wird die Wanderseelen erneut einer Menschenmutter zusenden, damit sie ihren Gang durch die enge Pforte vom scheinbaren Tod des rei­nen Geisteswallens ins fleischli­che Leben zu­rückgehen können - um entwe­der vergangene Schuld zu sühnen oder noch glän­zen­dere Be­währungen zu vollbringen.
 
Wenn fußend auf dem mythischen Fundament der menschlichen Herleitung aus doppelge­schlechtli­cher Urmacht gedanklich weitergeschritten wird, müsste eine männlich-weibliche Verbundseele im doppelgeschlechtlichen Urmen­schen ebenso angenommen werden wie in der späteren eingeschlechtli­chen Spaltungsform von Mann und Frau. Denn wenn auch die Körper, durch irdische Impulse verur­sacht, in zeugende und gebärende Wesenheiten auseinan­derstrebten, so scheint ihr belebendes, urgött­liches Seelen-Ding doch eine männlich-weibliche (androgyne) Verwobenheit geblieben zu sein. Unsere Vorfahren vermochten sich die Wieder­verkörperung ihrer Seelen nicht anders als ausschließlich inner­halb ihres organisch zusammen­gehörenden Sippen- und Volksverbandes vorzustellen, denn unüberseh­bar waren die vielfälti­gen seelisch-geistig-körperlichen Übereinstimmungen der Menschen gleicher Art. Die Ver­wandten bildeten eine große Gemeinschaftsseele, und doch besteht diese aus so und so vielen Einzelwesen, welche als Teil des Ganzen befähigt sind, die Gesamtseele zu verstehen und auch zu be­einflussen. So wie es fraglos eine Hirsch-, Wolfs-, oder Biberseele gibt, die jedes dieser Tiere zum typi­schen Verhalten veranlasst, so wirkt auch in jedem menschlichen Wesen eine Art-Seele oder Mischart-Seele. Es wäre töricht gegen den Augenschein und bar aller Wis­senschaftlichkeit, wollten wir anneh­men, dass ein aufgeschossener helläugiger Nordländer, dessen Ge­schlecht seit Urzeiten die her­ben Schaumkronen kühler Meereswellen in den Augen trägt, die gleiche Seele haben könnte wie ein ge­drungener Hottentotte auf sonnendurchglüh­ter, staubflimmernder Savanne oder ein Pygmäe des dampfenden afrikanischen Tropenwaldes. Der individuale Seelenfunke ist geprägt von der Bluts- und Schicksalsgemeinschaft, in die er von Beginn an hineingeboren wurde und in der er sich wieder und wieder neu verkörpert (in­karniert). Wilhelm Grönbech, ein hervorragender Kenner des germanischen Seelenbegriffes, führt dazu aus: „Die Seele, die sich in der gegenwärtigen Generation unruhig regt, ist ein Erbgut von den Vorfahren, die sie gestaltet haben. ... Die alten Vorfahren lebten in ihren Nach­kommen, erfüllen sie mit ihrem Willen und wiederholen ihre Taten in ihnen. ... Die Identität der Ha­mingia, die die Sippe trägt, schließt alle Verstorbenen mit ein.“
 
Nicht allein unsere germanischen Vor­fahren waren vom Vorhan­densein solch einer exklu­siven Art- oder Sippen­seele überzeugt, von deren Besonderheit und Kraft jeder einzelne im Sinne einer volkswei­ten Ver­schwisterung seinen Anteil besitzt. Diese natürliche Auf­fassung wird von der heutigen Genfor­schung bestätigt. Jede Wesensart trägt ihre artgemäße Seele in der Brust. Und wenn sich Menschen mischen, wären sie gut beraten, fein zu wägen, ob sich mit ihren Kör­pern auch ihre Seelenarten in Har­monie zusammenfinden, damit sie sich nicht nur fort, sondern auch hinaufpflanzen. Denn zu den Kernüberzeu­gungen der indogermani­schen Wiederverkörperungs­lehre gehört, dass die feinstofflichen See­lenstrukturen durch ihre wech­selnden Körperhüllen beeinflusst und mitge­staltet werden kön­nen. Nicht anders als die Körper selbst, werden sie, je nach guter oder schlechter Gattenwahl und günsti­gem oder ab­träglichem Umfeld, hinab- oder hinaufgezüchtet.
 
Die Ägypter stellten sich den unsterblichen Schutzgeist Ka wie das Abbild des lebendigen Menschen vor. Die Perser sahen dieses Seelen-Ich in Gestalt eines schönen jungen Mädchens. Der römische Volksglaube des Altertums schrieb jedem Einzelnen einen Schicksalsgenossen zu; jeder Mann hat sei­nen Genius, jede Frau ihre Juno. Diese sind gewissermaßen die urbildliche Idee des in Leib und Leben eingebetteten Individuums. Für den germanischen Nordländer waren die Fylgia oder Hamingia die Begleitseele bzw. der seelische Schutzgeist, welcher in Grenzsituationen auch in mancherlei Gestalt­wer­dungen aus dem menschlichen Körper herauszutreten vermochte. Aber auch der Hugr (= Sinn, Wille, Lust, Gedanke) konnte in der Vorstellung übergehen in das, was wir heute Seele nennen. Von einer Seelenwanderungslehre kann jedoch nach Ausweis der „Totenbücher“ bei den Ägyptern keine Rede sein. In Griechenland scheint sie mit den aus Thrakien stammenden orphischen Erlösungsmysterien und über die pythagoreische Schule, mit Männern wie Empedokles und Parmenides bis hin zu Platon, ins philo­sophische Denken eingedrungen zu sein. In Wahrheit ist sie älter und in sämtlichen indoger­manischen Kulturen fassbar. Es sind Überzeugungen, die nicht in erster Linie durch den Wunsch nach Entlastung von Leid und Todesfurcht motiviert sind; sie sollen vielmehr das Bedürfnis nach Vergeltung und aus­gleichender Gerechtigkeit befrieden. Denn das Schicksal der Seele bei ihrer Wiedereinkörpe­rung hängt vor allem von ihrer moralischen Bewährung ab. Sie kann je nach Verdienst oder Schuld in der Hierar­chie der Wesen aufsteigen oder bis ins Tierreich hinabsinken. Doch müssen wir uns eingeste­hen, dass die genaue Ausprägung des Seelenwanderungsglaubens bei Kelten und Germanen unbekannt blieb. Sicher, aufgrund der schriftlichen Zeugnisse und Bodenfunde dürfen wir nur hinsichtlich dessen sein, dass der Einzelne nach seinem Tode eine Wiederverkörperung erhoffte. Aufschlußreich ist in die­ser Hinsicht die formenreiche heidnische Bildsprache der Schlangensymbolik. Auf den Baumsargdec­keln der Alemannen (Oberflacht u. Zöbingen/Württemberg) waren Schlangenwesen eingeschnitzt, die am Schwanzende einen zweiten Kopf tragen. Das heißt sinnbildsprachlich: Das Ende ist ein neuer An­fang. Die gleiche Doppelschlange schwebt über dem Kopf des abgebildeten Toten auf dem schlichten fränkischen Krieger-Grabstein von Niederdollendorf (Abb. 4), ist auf den Flanken des Steines einge­meißelt (Abb. 5), im silbernen Be­schlag aus dem Grab des Frankenkönigs Childerichs II dargestellt (Abb. 6), ebenso auf dem Goldbrakteaten von Lyngby/Jütland (Abb.7) und eine Fülle von Riemenzungen, Koppelschlös­sern, Amuletten u.a. führen das gleiche Sinnzeichen. Hier wird die Schlange als seelische Erscheinungs­form, als Seelentier des To­ten demonstriert. Denn so wie sie, die scheinbar ewig fortdauernde, nach starrem Winterschlaf durch Häutung das alte Leben fort­wirft und sich förmlich ein neues Lebenskleid anzieht, so verstand der germanische Heide den leblosen Körper im Sarg wie eine abgeworfene ersetz­bare Körperhülle.
 
Immer hält die gesund und rein gebliebene Seele Ausschau, um den Ursprung ihres Willens und ihres Schicksals zu ergründen und zu begreifen. Wer es ver­steht, das Wispern sei­ner eige­nen Seelenstimme recht zu erlauschen, der mag schon im Hier und im Jetzt sein urewi­ges Le­ben erfahren. Das Runen-ODING, das OD-ing, selbst ist ja vom Begriffe her der Seelen-Ab­kömmling, in dem sich das Seelen­wissen unseres keltisch-germani­schen Volkes spiegelt. Was deine und meine Seelenweise runt und raunt, das sind die Erinne­rungen unserer gemein­samen Sippen-/Volksseele - sie sagt uns: „Oft war ich mit auf dem Sammelplatz, wenn der hei­sere Ruf durch die Gaue flog, dass die Mordrotten des Feindes wieder im Lande wüten. Oft prüfte ich die Festigkeit meiner Steinaxt und die Schärfe meines Schwer­tes. Oft saß ich mit den Brü­dern auf harten Ru­derbänken, wenn wir fremden Küsten entgegen­steuer­ten. Oft sah ich die Glut in den Augen der Liebsten, wenn sie meinen Leib um­fing. Oft spürte ich das Feuer des Begehrens in den kraftvollen Armen eines verliebten Mannes. Oft herzte ich ein Kindlein an meiner Brust. Unzählige Hütten und Heime half ich erbauen. Mich traf das scharfe Ei­sen auf manchen Wällen. Ich lag erschla­gen in Dünen und in Wäldern. Ich ertrank in der Salzflut vieler Meere. Durch eigene Schuld wurde ich in Ketten gelegt, und aus eigener Kraft habe ich mich wieder befreit. Ich starb viele Tode, lebte viele Leben - und will in aller Zukunft noch viele Leben ken­nenler­nen.“
 
 
Quellenweisung:
 
Ludwig Preller, Griech. Mythologie, 1854
Emil Bock, Wiederholte Erdenleben - Die Wiederverkörperungsidee i. d. dt. Geistesgeschichte, 1932
Walter Stettner, Die Seelenwanderung bei Griechen und Römern, 1934
Karl August Eckhardt, Irdische Unsterblichkeit – Germ. Glaube an die Wiederverkörperung, 1937
K. Schrötter und W. Wüst, Tod und Unsterblichkeit im Weltbild indogerm. Denker, 1939
Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen Bd. I, 1954
Walter F. Otto, Die Manen - oder von den Urformen des Totenglaubens, 1958
Gerhard Heß, ODING-Wizzod, 1993