07.01.2016
                   
 
Abb. 1 -Meine Tochter Siegrun am Ing-Runen-Kreuz der Goslarer Domvorhalle
 
 
DIE ING-RUNE IM GOSLARER WELTSTÜTZEN-KREUZ
 
Der sog. „Goslarer Dom“ bzw. die ehemalige Benediktiner-Stiftskirche „St. Simon und Juda“, errichtete man 1040-1050 als dem zur Bauzeit größten rechtsrheinischen Kirchenbau und Teilkomplex der Goslarer Kaiserpfalz. Am 02.07.1051 wurde sie von Erzbischof Herman von Köln eingeweiht -, am 1819-1822 ist abgebrochen worden. Um 1200 wurde die noch erhaltene Domvorhalle angebaut und der Haupteingang hierher verlegt. Zur Ausstattung der Kaiserpfalz-Kirche gehörten z.B. der bronzene „Krodo-Altar“ (jetzt Goslarer Museum) und der „Kaiserstuhl“ des 11. Jhs. (jetzt im Pfalzgebäude). Kaisers Heinrich III. (1017-1056), aus der Sippe der Salier, war der Bauherr, er hielt sich häufig in Goslar auf.
 
Wie urtümlich die Sitten damals waren und wie wenig ernst selbst die Vornehmen die Stätte eines christlichen Gotteshauses nahmen, erweist das „Blutbad zu Pfingsten“, am 17.06.1063. Der 13-jährige König Heinrich war anwesend, als zum Vespergottesdient der Rangstreit unter den Großen des Reiches derart eskalierte, dass zwei Parteiungen, nicht wie vorher schon mit Knüppeln, vielmehr mit Schwertern aufeinander einschlugen. Bischof Hezilo von Hildesheim und Abt Widerad von Fulda waren die Streithähne. Lampert von Hersfeld beschrieb in seinen „Annalen“ den Tumult: „Inmitten des Chors und der psalmodierenden Mönche kommt es zum Handgemenge: man kämpft jetzt nicht mehr nur mit Knütteln, sondern mit Schwertern. Eine hitzige Schlacht entbrennt, und durch die ganze Kirche hallt statt der Hymnen und geistlichen Gesänge Anfeuerungsgeschrei und Wehklagen Sterbender. Auf Gottes Altären werden grausige Opfer abgeschlachtet, durch die Kirche rinnen allenthalben Ströme von Blut, vergossen nicht wie ehedem durch vorgeschriebenen Religionsbrauch, sondern durch feindliche Grausamkeit. Der Bischof von Hildesheim hatte einen erhöhten Standort gewonnen und feuerte seine Leute wie durch ein militärisches Trompetensignal zu tapferem Kampfe an, und damit sie sich nicht durch die Heiligkeit des Ortes vom Waffengebrauch abschrecken ließen, hielt er ihnen das Aushängeschild seiner Machtbefugnis und seiner Erlaubnis vor. Auf beiden Seiten wurden viele verwundet, viele getötet, unter ihnen vornehmlich Reginbodo, der Fuldaer Bannerträger, und Bero, ein dem Grafen Ekbert besonders treuer Gefolgsmann. Der König hob zwar währenddessen laut seine Stimme und beschwor die Leute unter Berufung auf die königliche Majestät, aber er schien tauben Ohren zu predigen. Auf die Mahnung seines Gefolges, an die Sicherung seines Lebens zu denken und den Kampfplatz zu verlassen, bahnte er sich schließlich mit Mühe einen Weg durch die dicht zusammengeballte Menge und zog sich in die Pfalz zurück.“ Den Hildesheimern soll es gelungen sein, die Fuldaer aus der Kirche zu werfen, doch diese verbarrikadierten das Gebäude und drohten mit Aushungerung. Für das was wir heute „christliche Moral“ nennen würden, fehlte den Menschen des 11. Jahrhunderts jeglicher Sinn. Auch die frommen Benediktiner-Äbte schlugen, wenn sie es für nützlich hielten, wie die Kesselflicker aufeinander ein. Wer der eigentliche Kampfzahn gewesen war, der den größeren Schuldanteil haben mochte, war nicht mehr festzustellen, denn die privilegierten Fuldaer sollen zuerst zu „scharfen“ Waffen gegriffen und „während des Gottesdienstes“ das Blutbad ausgelöst haben.
 
Es war die raue ausgehende Wikingerzeit. Die Handelsstadt an der Schlei, Haithabu (altnord. Heiðabýr), blühte und gedieh, da war noch kaum einer Christ. Obwohl ein neun Meter hoher Wall mit Palisade die Handelsstadt umgab, wurde sie im Jahr 1050 in der Schlacht zwischen dem Norweger Harald Hardrada und dem Dänen Swen II. zerstört. Der Norden und der Osten wussten noch nicht viel vom Christianismus und auch in den ländlichen sächsischen Rückzugsgebieten konnte er bestenfalls auf Namenchristen zählen, nicht aber auf ein Verstehen und Annehmen seines Evangeliums. Noch rang die Kirche gegen das Volk, und die Benediktinermönche voran, für ihr Bekehrungswerk. Dementsprechend waren die Bildreliefs an den Kirchen beschaffen, in den Bogenfeldern über den Eingangstüren (Tympanie), den Bekrönungen der Säulen (Kapitelle) und wo auch immer sonst. Um die abseits stehenden Menschen zu erreichen, versuchte der Klerus das fremde kirchliche Gedankengut verständlich zu machen, unter Verwendung einer hinlänglich bekannten Symbolsprache. Aussageformen wurden entwickelt, welche die alten Runenzeichen und andere Sinnbilder einbezog. 
 
Das Kreuzrelief der Domvorhalle
 
Von dem 1820 an einen Handwerker verkauften und von ihm abgetragenen Stiftskirchenbau blieben nur ihre Eingangshalle und die reich geschmückten Sandsteinschranken des Goslarer Kaiserstuhls erhalten. Zum Eingang der im 12. Jh. angebauten Vorhalle gehören die „Bestiensäule“ mit dem „Hartmannuskopf“. Während die Säule ein Netzüberwurf zeigt in dessen groben Maschen sich feine Ranken-Palmetten-Verzierungen befinden, stellt der „Hartmannuskopf“ einen als Heiden Kenntlichgemachten dar, aus dessen Mund - als Versinnbildlichung seiner Rede - Flügeldrachen ausströmen. Der Säulensockel bildet ein sehr verwitterter Löwe. Eine weitere Steinmetz-Arbeit mit Inschrift befindet sich an der Dom-Vorhalle, die Steinplatte mit Kreuz und Buchstaben, links neben dem Eingang, zwischen „Hartmannussäule“ und den romanischen Fensterbögen.
 
Der in die Vorhalle eingemauerte „Kreuzstein“ (Sandstein, 45x85 cm) scheint ursprünglich als Grabplatte gedient zu haben. Oberhalb des Querbalkens sind die Reste einer Inschrift erkennbar, welche vom Kopfbalken unterbrochen wird. Die Majuskelinschrift nennt einen Arnold Colber. Es gibt die Goslarer Urkunde des ältesten Güterverzeichnis des Domstiftes von 1181 (VB I, 301), welche einen königlichen Domherrn Arnold nennt. Wenn die beiden identisch sind, dürfte der Verstorbene ein bedeutender königlicher Capellan gewesen sein. H.-G. Griep weiß in „Harzer Rechtsdenkmäler“, 1957/1993: „In der Goslarer Kaiserzeit war der Capellan noch ein hoher ,Hofbeamter‘, die Hofkapelle die Gesamtheit dieser in kaiserlichem Dienst stehenden Geistlichen, aus der sich später die Kanzelei entwickeln sollte. […] Bischöfe, Äbte und Pröbste nannten sich, wenn sie eine entsprechende Ausbildung für den ,diplomatischen Dienst‘ des Königs und Kaisers erfahren hatten, stolz Capellan.“ Die überragende Stellung des Goslarer Domes lässt sich auch daran ablesen, dass das Goslarer Stift als „spezialis imperii capella“, als Ausbildungsstätte der kaiserlichen Cappellani diente.
 
Abb. 2 - Paulinzella Tympani - Weltendach-Gabelstütze
 
Weltendach-Gabelstütze
 
Zum Fuße hin verbreitert sich der Stamm des Kreuzes, wie es sich für die Standfestigkeit einer Himmelsstütze gehört. Damit wird der Charakter eines tragenden Elementes bedeutet, indem - gleich einem Baum - der stärkste Umfang zum Fuße hin gegeben ist. Bei genauer Betrachtung zeigt es sich, dass der Bildhauer, vertikal gespiegelt, zwei Gabelstützen gegeneinander stellte. Die schlichte Gabelstütze als Weltsäule ist oft und oft in mittelalterlichen Bildwerken nachweisbar, schon in der Kleinkunst germ. Fibeln kommt sie vor. Wahrscheinlich ist auch im Bogenfeld von Paulinzella die Gabelstützte gemeint (Abb. 2). Zu den bedeutendsten romanischen Bauwerken Deutschlands gehören die Anlagen des Benediktiner-Klosters Paulinzella im Rottenbachtal bei Tübingen, das auf Veranlassung der sächsischen Adligen Paulina zurückgeht, von 1106-1924. Das kirchenchristliche Kreuzzeichen ist von seinen Interpreten auch als Weltenbaum und als Weltenstütze erklärt worden.
 
Das Ing-Runen-Zeichen
 
Durch den gabelförmigen Übergang der Kreuzarme gegeneinander entsteht im Berührungsfeld eine rautenförmige Öffnung. Es handelt sich um die offensichtlich gewollte Hervorhebung der solaren Ing-Rune. Mit dieser ins Bild gesetzen Kombination von „Weltstütze - Sonne“ scheint ein offenes Bekenntnis zum Heidentum vorzuliegen. Dem ist nicht so !
 
Abb. 3 - Geisenheimer Türsturz - christlicher Heilbringer noch ohne Kreuz
 
Natürlich demonstrierten die Dom- und Kanzleiherren des „Heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ systemimmanente Kirchentreue, aber deren Ausdrucksmittel waren noch nicht codiert und festgelegt, noch war man freier im Umgang mit den bildhaften Möglichkeiten, die in den Jahrhunderten nach den frühkarolingischen Verheerungen des Heidentums und den nachfolgenden Umstürzen erst mühsam gefunden werden mussten. Wie frei man in langen Zeiten vorchristlich-heidnische Lebensbaum- und Weltstützensymbolik an Kirchen und Klöstern zeigte, ist nicht schwer nachzuweisen. Dass man die Ing-Rune des Sonnengottes Ingo-Frō als Zeichen des Neuen Kreuzgottes gebrauchte, um dessen solaren Charakter für das Publik hervorzuheben, demonstriert der „Geisenheimer Türsturz“ (Wiesbaden, Nassauische Altertümer-Sammlung). Höchstwahrscheinlich ist er schon merowingisch-vorkarolingisch. Hier hängt der christliche Kunstgott noch nicht am Kreuz, hier darf er noch der solare Heilbringer sein, ganz ohne Kreuzestod, aber mit den großen Segenshänden, wie er schon auf den bronzezeitlichen skandianavischen Felsbildern und ebenso auf altirischen Kreuzen zur Abbildung gelangte. Vom Beschauer aus gesehen, an linker Kopfseite, ist auf dem Geisenheimer Tympanon das Sonnenzeichen der markanten Ing-Rune herausgemeißelt worden.