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So soll, laut Herman Wirth, die ältere Rune o - ódil ausgesehen haben.
 
Handskizze_Wirth.JPG
Handskizze von Herman Wirth - Bohuslän, 1936
 
Herman Wirth (1885-1981) schreibt in Des Großen Gottes älteste Runen“, 1939, S.18: „Die verschollene germanische Rune ódil ist von mir in den „Annales Brunwilarenses“ (Vatikan Hs. Urbin 290 membr. fol.) nachgewiesen worden. Auf fol. 71b dieses aus der Abtei Brunweiler bei Köln stammenden Codex hat ein hochdeutscher Mönch um 988 n. Chr. zwei nordgermanische Runenreihen, eine in Alphabet-Folge und eine in Futhark-Folge aufgezeichnet. Auf diese beiden Runenreihen hatte schon 1871 H. F. Massmann „Runen aus Rom und Wien“ hingewiesen.“ In einer Erzählung von Ende 11. Jh., der „Fundatio monasterii Brunwilarensis“, berichtet ein Mönch vom Bau einer zunächst hölzernen Kapelle. Es gibt eine Äbte-Liste aus dem 17. Jh. im „Liber sancti Nicholai episcopi in Bruwilre“. Die verschiedenen Schreibweisen meinen das Kloster Brauweiler bei Köln.
 
 
Hans Ferdinand Maßmann,
der verdiente Germanist und Runenforscher,
gezeichnet von G. Engelbach, 1841
 
Hans Ferdinand Maßmann (1797-1874) war Germanist und Philologe. Auch als Aktivist der nationaldeutschen Turnbewegung gegen die napoleonische Fremdherrschaft und als Dichter wurde er bekannt. Im Zusammenhang mit dem Wartburgfest des Jahres 1817 war er an der symbolischen Verbrennung als reaktionär, antinational und undeutsch erkannten Bücher beteiligt, wofür er mit acht Tagen Karzerhaft bestraft worden ist. 1829 wurde Maßmann, der sich 1827 habilitiert hatte, an der Universität München zum Professor für deutsche Sprache und Literatur ernannt. Dabei handelte es sich um einen der ersten Lehrstühle für Germanistik. Als Hochschullehrer veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Editionen zur Literatur- und Kulturgeschichte, die den Charakter ausgedehnter und daher heute noch wertvoller Stoffsammlungen besitzen. 1820 dichtete er das patriotische Lied: „Ich hab mich ergeben - Mit Herz und mit Hand, - Dir Land voll Lieb’ und Leben - Mein deutsches Vaterland ! ...“ - Er beschrieb in „Runen aus Rom und Wien“, 1871, zwei Runenschriftverzeichnisse in denen die sog. „vergessene“ odil-Rune enthalten ist. Den Hinweis zu den Runen-Pergamenten im Vatikan hatte Maßmann von dem ebenfalls an deutschen Altertümern und Runen interessierten Prof. Reifferscheid aus Breslau erhalten. Die Pergamenthandschrift stamme - gibt Maßmann an - aus dem Jahre 1082. Im Fußnotenkommentar heißt es: „Nach den Schriftzügen gehört die Handschrift zum größten Theil (auch fol. 71) an’s Ende des zehnten oder Anfang des eilften Jahrhunderts. Die irrige Angabe Maßmann’s stützt sich auf die Ostertafeln welche die älteste Hand von 988-1082 geführt hat. Daraus folgt aber in Übereinstimmung mit dem Schriftcharakter mit Evidenz, daß der Codex im im Jahre 988 entstanden ist.“ Herman Wirth monierte in seinen Texten, dass in keiner der Runen-Standartwerke davon Notiz genommen wurde.
 
Unmittelbar über folgender Runen-ABC-Reihe erklärt Maßmann: „Das unmittelbar darauf folgende Runen-ABC ist cum minio colore geschrieben, deßhalb sehr verwaschen und erloschen, aber auch die schwarz daneben stehenden Bedeutungen der Zeichen. Leider kann ich von den Runen und ihren Bedeutungen keine Durchzeichnung geben, da in der Vaticana eine solche nicht gestattet wird. Wo die Benennungen erloschen sind, setze ich in Klammern die weiteren Möglichkeiten, wie sie den Augen erscheinen oder erschienen, hinzu.“
 
 
Runenreihe aus „Annales Brunwilarenses“ (Vatikan Hs. Urbin 290 membr. fol.)
 
 
Die odil-Rune in den „Annales Brunwilarenses“
 
 
*** Offenbar das Mittelmeer
 
 
Maßmann kommentiert: „Jedermann sieht die Vermischung einer, wie wir weiter erfahren, wohlbegründeten Bedeutung oder Verwerthung der Runen mit einer der merkwürdigsten Beziehungen auf die gothische Bibelübersetzung durch ihre doctores, d.i. Ulfilas etc., zugleich mit der bestimmtesten Angabe, daß die gothische Sprache (sua lingua) die deutsche sei (theotisca vel theotonia), so wie daß die Vandalen, die mit jener aus dem Lande der Norðmannorum mit nach Afrika gezogen, gleichfalls „deutsch“ gesprochen haben. Erinnert dieses unwillkürlich an das bekannte falsche, nun so schön berichtigte Augustinische „Sihora armên“ der Vandalen, so möge hier noch leise auf die Möglichkeit hingewiesen werden, dass aus der Örtlichkeit von Braunweiler bei Köln vielleicht ein dämmerndes Streiflicht auf [Kloster] Werden und das rätselhafte Erscheinen des Codex argenteus [Silber-Bibel, Übersetzung des Goten Wulfilas] daselbst fällt, dessen erste Erwähnung uns ja auch über Köln zugekommen ist.“
 
H. F. Maßmann schreibt weiter:
„Ich lasse hiernach die Runen aus den beiden Wiener Handschriften (1609 und 1761) folgen,
die ich durchzeichnen konnte.“
 
 
Auch die Runen vom St.-Gallener Codex sind alphabetisch geordnet:
 
 
Der Belehrungskanon des Lyngby-Brakteaten
 
 
Der zweiseitige Brakteat vom dänischen Lyngby -, linke B-Seite mit ódil-Rune im Halsbereich.
 
In „Odal - Monatsschrift für Blut und Boden“, Mai 1936, veröffentliche Herman Wirth den Aufsatz „Die älteste Odal-Urkunde des germanischen Bauern“. Er bezieht sich darin auf die Ergebnisse seiner „Ahnenerbe-Expedition“ von 1935 in die skandinavische Felsbilderwelt. In diesem Aufsatz erklärte Wirth bereits seine volle Konzeption bezügliche der gefundenen älteren ódil-Rune, wie er sie in etlichen weiteren und späteren Texten ausgeführt hat. Sie fand sich - wie gesagt - in einem Codex des Vatikan der aus der Abtei Brunweiler bei Köln, aus dem 10. Jh.. Die dabeistehenden lateinischen Angaben besagen, es handele sich um Runen der Nordgermanen, mit denen sie ihre alten Gesänge aufzuzeichnen pflegen. Wirth hielt die Doppelkreis-ódil-Rune für die ältere nordische Rune des „o“-Lautes. Er spricht von deren vermuteten Kursivformen in Gestalt der S-Formen, Doppelhaken-Formen, 8-er-Formen. Ich denke, H.W. ging dabei zu weit, die diesbezügliche Leichtfertigkeit war typisch für ihn. Aber je tiefer ich mich mit der Materie beschäftigte und hineinversetze, umso mehr neige ich zur Annahme, dass das Doppelkreis-ódil-Ideogramm tatsächlich ein - wie H.W. als erster vermutetet - bedeutendes und allgemein bekanntes Runen-Symbol gewesen ist. Schon H.W. stellte dar, dass dieses Sinnbild in den schwedischen Felsbildern der Bronzezeit mehrfach auftaucht. Ich selbst suchte und fand es - nach Wirths  Anregung - auf meinen Felsbild-Exkursionen seit Anfang der 80er Jahre. Es findet sich beispielsweise in den Bohusläner Felsbildlagen Backa-Brastad, im Tanumer Litsleby, Kville, im Norrköpinger Himmelstadlund. Doch die mittelalterlichen Zwischenglieder fehlten. Wenn es wirklich ein gebräuchliches Sinnzeichen gewesen sein sollte, hätte es auf den Zeugnissen der germanischen mittelalterlichen Geleitmünzen, den Brakteaten, auftauchen müssen. Erst als ich es dort fand, nämlich auf dem nordjütländischen Lyngby-Amulett (bei Albøge und Tustrup), machte meine bis dahin geübte Skepsis einer neuen Überzeugung Platz. H.W. hat wohl bedingt Recht. In diesen Verständnisbereich gehören die nordischen Doppelschlangen-Ideogramme sowie die Achter-Schlaufen, die wir heute als Unendlichkeits-Zeichen deuten und beispielsweise den wikingerzeitlichen (10. Jh.) Thorshammer von Erikstorp (Ödeshög, Östergötland, Sweden) zieren (vgl. Abb.).
 
Die Brunweiler/Brauweiler ódil-Rune, zusammen mit dem Lyngby-Brakteaten, ergänzen sich zu einem vollgültigen Aufklärungskonzept über die Bedeutung der zusammengestellten Sinnzeichen. Das Ideogramm der Ewigkeit und des darin ewigen Seelenlebens, der Schwanzfresser oder Oroborus, erscheint auf rechter Lyngby-Seite. Die gleiche Bedeutung kommt der 4-er-Schlaufe zu, bestehend aus 4 der üblichen odal-Runen. Die linke Lyngby-Seite vermittelt wohl den jungen Baldur-Kopf mit der odal-Seelen-Haarschlaufe und im Halsbereich die querliegende ódil-Rune. Außer dem linksläufigen Wiedergeburts-Sonnen-Hakenkreuz gehört hier die Doppelschlangen-Chiffre zum Bild-Arrangement. Auch sie - nicht anders wie im religiösen griech.-röm. Symbolismus - meint die Seelenkräfte des Oben und des Unten, die Seelen welche zum Tode gehen und diejenigen welche zum Leben zurückkehren. In zahllosen Varianten sind die Doppelschlangen auf der germanischen Kleinkunst der Fibeln und Gürtelschnallen zu finden, bis hin zu den allamannischen Baumsarg-Deckelzierungen (von Oberflacht / Kreis Tuttlingen). Eine am unteren Rand der linken Lyngby-Seite sich hinziehende Dreier-ódil-Runen-Kette könnte die Dreiergliederung des germanischen Jahres meinen.
 
 
Nachtaufnahme der „Odil-Rune“
in mehrschichtiger bronzezeitli. Felsbildplatte von Backa-Brastad/Bohuslän
 
H.W. stellte im bezeichneten Aufsatz vier ódil-runenartige Zeichen aus den skandinavischen Felsbildern vor (Tanum-Litsleby, Tanum/Bro-Utmark, Backa-Brastad, Tanum-Fossumtorp), sowie ein ódil-runisches Giebelbrett von einem niederländischen Bauernhaus in De-Lutte bei Oldenzaal aus dem Jahre 1924, auch ähnliche Zeichen auf einem Bauernstock aus Lenzen, Kreis Dannenberg/Hannover und über einem Scheunentor in Lechstedt bei Hildesheim, aus 1856. Überzeugen kann er damit nicht. Auch nicht mit seiner Ableitungserklärung der Doppelkreis-Rune aus der Vorstellung des Sonnenjahres mit seinem höchsten und niedrigsten Sonnenstand, dass also die beiden Kreise die Wintersonnwende (WS) und Sommersonnwende (SS) darstellen würden. Da Wirth irrigerweise als letztes Zeichen die „d“-Rune nimmt, steht bei ihm eben auch diese und nicht „o“-ódil in der WS im Südpunkt.
 
Thorshammer-Amulett
von Erikstorp, Ödeshög, Östergötland
 
Wenn wir nach Ausweis des Lyngby-Brakteaten annehmen dürfen, dass die Doppelkreis-ódil-Rune die seelisch-geistige Verbindung von der Erde zum Himmel und zurück, von Dieseits und Jenseits, von Unten und Oben, von Mensch und Gott versinnbildlichen will, dann dürfte es erlaubt sein, sie neben sinnverwandte Zeichen zu stellen, wie dem der Doppelspirale, dem Doppelwendel. Die Doppelspirale, welche viele alte hessische und fränkische Fachwerk-Eckständer ziert und, in anderer Form, niedersächsische Eingangspforten umrahmt, ist das schon bronzezeitliche Sinnbild des jährlichen Sonnenweges, des Sonnenheils, vom Standpunkt des menschlichen Beobachters aus verstanden. Für ihn schlingt sich der jährliche Sonnengang aus seinem tiefsten lichtschwachen Süd-Punkt hinauf auf den Thron seiner leuchtenden Fülle unter dem Nordstern. Die Doppelspirale ist mithin ein Ideogramm kalendarischen Charakters. Ähnlich kann die Doppelkreis-ódil-Rune kalendarisch gedeutet werden, indem der untere Kreis in die WS des Sonnengrabes und der obere in die SS der Sonnenfülle zu stehen kommt. So hat es H. Wirth gedeutet. Ob aber die alten Runen-Weisen es ebenso verstanden haben, entzieht sich unserer Prüfbarkeit, dafür fehlen entsprechende Bildquellen. Die von H. Wirth ausgebreitete exakte Sinnbilder-Systemantik - mit den eckigen und kursiven Ausformungen - erscheinen als Produkt seiner Suche nach prinzipiellen epigrafischen Ordnungen. Die beiden schönsten wikingerzeitlichen Mjolnir- bzw. Thorshammer-Amulette - das von Erikstorp-Ödeshög (Östergötland, Sweden) und das von Bredsättra (Öland, Sweden) - führen die Unendlichkeits-odal-Schlingen. Der Mjolnir von Erikstorp (vgl. Abb.) demonstriert - in Tradition des Lyngby-Brakteaten - die Gleichsinnigkeit von Kreis und Achterschlinge und den S-förmigen Zeichen, die als Kursivformen der Brunweiler ódil-Rune aufgefasst werden könnten, wie es H. Wirth bereits vermutete -, ohne dass er den Lyngby-Brakteaten und den Erikstorp-Thorshammer im Verlauf seiner Argumentationen aufrief.
 
Der Reiterstein von Hornhausen ist eine Steinplatte
mit der bildlichen Darstellung des Wodin-Odin
 aus ca. 7. Jh. - er zeigt die germ. Doppelschlangen-Chiffre
mit den ornamentalen Runen „ing“ und „odil“.
 
RESÜMEE
 
1.) Es gibt eine „o“ ódil-Rune in Form zweier Kreise die durch einen Steg verbunden sind.
2.) Die Rune steht im Sinnzusammenhang mit dem germanischen Doppelschlangen-Symbol, der Doppel-Schlinge und dem Unendlichkeits-Zeichen der 8 -, zwangsläufig auch mit der kalendarischen Doppelspirale. 
 
3.) Dieses Ideogramm erweist sich als Versinnbildlichung der Glaubensvorstellungen vom Ewigen Leben, vom Seelenkreislauf, von den wiederholten Erdenleben, gemäß der Edda-Strophen (Ende 3. Helgilied): „Das war Glaube in alter Zeit, dass Menschen wiedergeboren werden konnten, und das heißt heute alter Weiber Wahn.“
 
Eigener Felsbild-Abrieb - Backa-Brastad,
3. Felsen, 27.06.1982 -
 
Das Felsbildarrangement mutet wie eine Formel an:
Links = Göttliche Sonnenkraft bzw. die Beseelung verwirklicht sich
über dem Seelenbringer-Schwan (Odebar) -
Rechts = gleiche Aussage durch Odil-Rune
 
DIE VERSCHOLLENE RUNE
 
Die eine Rune war verschollen
in der Gruft des Vatikans -,
hat er sie begraben wollen,
getreu des bösen Kirchen-Plans ?
 
Ein Deutscher hat sie aufgefunden,
damit der Geist sie nicht verlor,
vermehrte uns die Runen-Kunden,
hob sie ans Tageslicht empor.
 
Sie ist das Runen-Tor des Lebens,
das Ideogramm vom Seelengeist,
ist Sinnbild allen Gottes-Strebens,
der Menschensinn zur Höhe weist.
 
Die Ódil-Rune ist ein Schlüssel,
zur ewigen, hohen Heiligen Acht,
die aus dem irdischen Genüssel,
die Menschenseel‘ für Gott entfacht.
 
Inbild von Scholle und von Seele,
des Weges zwischen hier und dort,
dass nimmer uns die Ahnung fehle,
vom weiten, ur-heiligen Wort.
 
Wir sollten das OD-Wort vergessen,
und sein urstämmig runisches Heil,
wir sollten ergreifen stattdessen
was die Kirche an Lügen bot feil.
 
Doch die Rune ward wiedergefunden,
ihr OD-Ing, ich grub's aus dem Grab,
dran mögen die Enkel gesunden,
das sei ihnen Weisung und Stab.