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Merseburger Zaubersprüche, Domstiftsbibliothek, Cod. 136, fol. 85r
 
Die Domstiftsbibliothek zu Merseburg, als deren Begründer Bischof Wigbert (1004-1009) gilt, birgt die berühmten „Merseburger Zaubersprüche“, die erst im November 1841 von Dr. Georg Waitz bei einem Studienaufenthalt in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels entdeckt wurden. Er rückte diese althochdeutsche Handschrift aus der Mitte des 10. Jahrhunderts in das Blickfeld der deutschen Literatur- und Sprachforschung. Die Herkunft der Merseburger Sprüche, die in einer theologischen Sammelhandschrift aus dem 9./10. Jahrhundert gefunden wurde, blieb bisher unbekannt. In beiden Sprüchen werden Zauberformeln angewendet. Inhalt des ersten ist ein Spruch zur Befreiung von Gefangenen, der zweite hat die Heilung der Beinverletzung eines Pferdes durch germanische Götter zum Gegenstand.
Die Musikgruppe „Ougenweide“ intonierte und sang die Merseburger Zaubersprüche,
 Album „All die Weil ich mag“ (1974) >>
 

Die Bedeutung dieser Zaubersprüche in althochdeutscher Sprache für die deutsche Literaturgeschichte würdigte Jakob Grimm bei einem Vortrag an der Königlichen Akademie der Wissenschaften 1842 in Berlin mit den Worten: „Gelegen zwischen Leipzig, Halle, Jena ist die reichhaltige Bibliothek des Domcapitels zu Merseburg von Gelehrten oft besucht und genutzt worden. Alle sind an einem Codex vorübergegangen, der ihnen, falls sie ihn näher zur Hand nahmen, nur bekannte kirchliche Stücke zu gewähren schien, jetzt aber, nach seinem ganzen Inhalt gewürdigt, ein Kleinod bilden wird, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben.“ - Ein Faksimile dieser Handschrift ist im „Zauberspruchgewölbe“ in der Südklausur des Merseburger Domes zu sehen.
 
1. Löse-Zauberspruch
 
Eiris sazun idisi, sazun hera duoder.
suma hapt heptidun, suma heri lezidun,
suma clubodun umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun, inuar uigandun.H.
 
Einst saßen Idisen, saßen hier, da, dort.
Einige
hefteten Bande, einige hemmten das Heer,
  einige entflochten Glieder den Fesseln:
Entspringe den Haftbanden, entfliehe den Feinden - H !
 
Einige Interpreten möchten aus „hera duoder“ ein „hera muoder“ = „hehre Mütter“ herauslesen,
doch das deutliche „d“ lässt eine Änderung zum „m“, die eine versehentliche Falschschreibung unterstellt, kaum zu.
 

Die an den Schluss des Spruches gestellte Letter „H“ gilt bis heute als rätselhaft, könnte aber absolut passend zum Kontext, im Gleichklang mit dem Runenbuchstaben „H“, hagalaz/hagal = „Jähes Verderben“ ausdrücken, im Sinne: „Entfliehe den Feinden, welche ein baldiger Tod ereilen soll !“ - Hagalaz (ᚺ) ist die 16. ODING-Rune und nach der falschen linksbeginnenden FUThARK-Leseweise die 9. Rune. Dass die altheilige Zahl 9 nicht zu dieser drohenden Todes-Rune passen will, ist unschwer verständlich. Die Rune trägt den Lautwert „h“ und bedeutet im Konsens der Fachwissenschaftler: „Hagel, Zerstörung, plötzliche Not“.

Umgangssprachlich:
 
Einstmals wirkten heilige Zauberfrauen, da und dort.
Einige knüpften zauberische Knoten, um das feindliche Heer zu hemmen,
einige übten Entfesselungszauber, um Gefangene zu befreien:
„Entspringt der Gefangenschaft, entflieht euren Feinden,
ein schneller Tod komme auf eure Widersacher !“
 
2. Heil-Zauberspruch
 
Phol ende uuodan uuorun zi holza.
du uuart demo balderes uolon sin uuoz birenkit.
thu biguol en sinthgunt, sunna era suister,
thu biguol en friia, uolla era suister,
thu biguol en uuodan, so he uuola conda:
sose benrenki, sose bluotrenki,
sose lidirenki.

ben zi bena, bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sose gelimida sin.
 
Phol und Wodan fuhren zu Holze.
Da ward dem
Balders Fohlen sein Fuss verrenkt.
Da besprachen ihn Sinthgund und Sunna, ihre Schwester,
da besprachen ihn Frija und Volla, ihre Schwester,
da besprach ihn Wodan, wie er's wohl verstand:
Sosei Beinverrenkung, sosei Blutverrenkung,
sosei Gliedverrenkung: Bein zu Beine, Blut zu Blute,
Glied zu Glieder, sosie geleimt wären !
 
Umgangssprachlich:
 
Balder und Wodan zogen in den Wald,
dabei verrenkte sich das Pferdchen des Balder seinen Huf.
Um ihn zu heilen besprachen den kranken Huf die göttlichen Schwestern Sindgund und Sunna,
daraufhin bemühten sich um den kranken Huf auch die göttlichen Schwestern Frija und Volla,
dann kam Wodan, der den Heilzauber besser verstand.
Er sprach: „Sei es Knochenverletzung, sei es Blutverletzung,
sei es Gliederverrenkung: Knochen zu Knochen, Blut zu Blute,
Glieder zu Glieder, so dass sie geheilt sind !“
 
Ein Freund des germanischen Gedankens und seiner Literatur, Herr Vincent Singer, stellte die Überlegung an, ob diese althochdeutschen Reime eine versteckte Nachricht enthalten könnten, die sich an das altheidnisch sächsische Volk richtete. Wäre dem so, könnte sich der erste Lösezauber auf historische Ereignisse beziehen. Die blutige Christianisierung der Sachsen durch „Karl den Großen“ im 9./10. Jahrhundert käme in Betracht. Dreierlei hilfswillige Geistergruppen werden beschrieben. Heilrätinnen, nämlich die Disen, werfen einerseits bannende Haftbande über die feindlichen Krieger der christlichen Franken, andere hemmen das Heer des Franken-Königs, während die dritte Gruppe die Fesseln der Freiheitskämpfer der heidnischen Sachsen unter König Widukind zertrennen. Die Passage „suma hapt heptidun“ könnte auch meinen, dass die Disen den Bindezauber durch Nestelwerk ausüben, d.h. durch Knotenzauber, indem sie magische Hemmungen des gegnerischen Heeres beschworen. Solch ein Brauch wurde ausgeübt indem Verwünschungen ausgestoßen wurden, während gleichzeitig der Fluch durch zusammengeschnürte Knoten festgemacht werden sollte. Nach dieser Bannung des Feindes und nachdem die Flucht der Gefährdeten oder schon gefangenen Freunde magisch bestimmt worden war, folgt zwangsläufig der Vernichtungsfluch als Abschluss und Krönung des Zauberprozesses in Form des runischen „H“ mit der bekannten Bedeutung „jäher Tod des Gegners“. 
 
Dem Knotenknüpfen wurde eine bindende Kraft zugedacht, die, zeitgleich mit Wünschen und Befehlen, in die Schlaufenknüpfung hineinsuggeriert wurde. Der Brauch besaß die Bedeutung einer magischen Handlung, wozu gewisse eingeweihte Personen besonders befähigt erschienen. Der Knoten wurde somit zum Zauberknoten. Der weit verbreitete Volksglaube sprach vom Nestelknüpfen, also der vorgeblichen Kunst, durch Knüpfen von Knoten und auch Verschlingungen der Finger allerlei Prozesse, wie den Fortgang eines Geschäfts, z.B. das Mahlen einer Mühle zu verhindern oder eine bestimmte Person in ihren Bemühungen zu behindern bzw. unauflöslich fesseln zu können. So wurde auch geglaubt, dass durch das Knüpfen eines Knotens einer männlichen Zielperson sexuelles Unvermögen, also Impotenz, anzuzaubern wäre, sowie einer Weibsperson die Fähigkeit zur Empfängnis. Besonders gefürchtet war das Nestelknüpfen während der kirchlichen Trauungszeremonie, dass man durch symbolische Abwehrhandlungen wie Knotenlösen abzuwehren versuchte. Die röm. Göttin Juno soll durch knotenartiges Verschränken der Finger die Geburt des Herkules sieben Tage hinausgezögert haben. In Germanien wurde das Nestelknüpfen (Nestel-Senkel, dünner, lederner Riemen) schon vor Erlassung des „Salischen Gesetzes“ („Lex Salica“ in den Jahren 507-511 auf Anordnung des Merowingerkönigs Chlodwig I. verfasst) für ein schweres Verbrechen erachtet und auf den Synoden zu Regensburg in den Jahren 932 und 976 mit der Strafe der Enthauptung bedroht. Die Schamanen der Lappen und Finnen und anderer nordischer Völker versprachen, durch Knoten den Wind fesseln zu können und verkauften den Seefahrern solche eingeknoteten Winde.
Gotländischer C-Brakteat aus Djupbrunns (IK 44) mit Runenschrift: ALU = Heil -
Wodan haucht ins Ohr des Pferdes die Heilbeschwörung.
 
Der 2. Merseburger Vers, der Heilzauberspruch, nennt zunächst Phol (Baldur) und Wodan die sich in den Wald begaben. Dabei tat Balders Fohlen einen falschen Tritt, so dass sich ihm der Fuß verrenkte. Darauf traten die geschwisterlichen Göttinnen Sinhtgunt und Sunna heran, um mittels Heilzaubergesang das Problem zu beheben. Sie blieben offenbar ohne Erfolg. Darauf versuchten es die Göttinnen Friia und Volla; auch ihre Künste scheiterten. Da besang den kranken Fuß der mächtigste Heilgott, nämlich Wodan, so gut er es verstand. Seine Zauberworte lauten: Sosei Beinverrenkung, sosei Blutverrenkung, sosei Gelenkverrenkung, Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied -, sosei [dass sie] geleimt sind !“ Der göttliche Zauberbefehl lautet am Ende: „So dass sie [die fehlgestellten Organe] wieder geheilt/zusammengefügt sind !“ Diese Fohlenheilung hatte im Altglauben eine zentrale Bedeutung, vergleichbar etwa mit der „Kreuzigung Christi“. Wir finden das geprägte Bild dieser Heilhandlung auf einer Menge von Goldbrakteaten des Mittelalters, so dass Mediävisten wie Karl Hauck von einer Brakteaten-Religion sprachen. (Karl Hauck, Kontext-Ikonographie. Die methodische Entzifferung der formelhaften goldenen Amulettbilder aus der Völkerwanderungszeit - Zur Ikonologie der Goldbrakteaten VII)
 
Uns sind etliche Textstellen und Abbildungen zur germanischen Mythologie bekannt, wenn wir diese ergänzend zusammenzählen rundet sich manches zunächst nebulöse Bild. Wodan ist mit seinem Attribut dem Hengst Sleipnir gleichzusetzen und Baldur, als Wotans Sohn, ist mit seinem Fohlen zu identifizieren. Inwieweit Baldurs Fohlen als eine Metapher für das „Heil an sich“ verstanden wurde, können wir nur erahnen. Balder ist der Gute, also das Gute in der Welt. Sein verwundetes Fohlen muss ein Sinnbild für den Unfall des Gerechten, für die Verletzung des altgläubigen Heiles gedacht worden sein. Zu diesem „Unfall“ gehörten, aus Sicht des Altheidentums, sicherlich die historischen Angriffe und Zerstörungen durch den politischen Christianismus welcher vom Frankenreich, seit dem Reichstag zu Worms im Jahre 767, konkret heraufbeschworen worden ist. Seit jener Zeit der Gewaltmission des Papstagenten Bonifatius, die unter militärischer Deckung durch fränkische Behörden und Bewaffnete geschah und zur provokanten Fällung der Donar-Eiche bei Hofgeismar im Jahre 723 führte, sah das Heidentum den Umbruch heraufdämmern. König Karl ließ seine Heere verstärkt ab 772 die sächsischen Gaue angreifen und öd machen. Im gleichen Jahre zerstörte er das sächsische Zentralheiligtum der Irminsul auf der Eresburg bei Obermarsberg. Nach Massenmorden und Deportationen von sehr erheblichen Ausmaßen endeten die größeren Kampfhandlungen, nach 30jähriger Verheerung Norddeutschlands, im Jahre 804. Dann begann die Unterdrückung jeglicher Glaubensfreiheit nach Maßgabe der „Paderborner Blutgesetze“, die die bisherige Religion unter Todesstrafe stellten. Mit dem Heilzauberspruch der 2. Merseburger Reimerei könnte eine zielgerichtete Beschwörung des drohenden Weltzerfalls angedacht worden sein, denn im 9./10. Jahrhundert erlebte und erlitt das alte norddeutsch-germanische Midgard durch den Angriff eines übermächtigen Unholds, des Utgardloki (Auslands-Lügner), seine bis dahin nie gekannte Erschütterung und schließlich seinen offiziellen Untergang -, fortan musste es im Untergrund seinen versteckten Überlebenskampf führen.
 
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Der Lorscher Bienensegen (repaganisiert)

Frō, imbi ist hûcze !
nû fluic dû, vihu mînaz, hera
fridu frôno in godes munt heim zi comonne gisunt.
sizi, sizi, bîna: inbôt dir heilīg Frija.
hurolob ni habe dû: zi holce ni flûc dû,
noh dû mir nindrinnês. noh dû mir nintuuinnêst.
sizi vilu stillo, uuirki godes uuillon !


Herrgott, die Immen sind draußen !
Nun fliegt, meine Tierchen, her und hin.
Friedlich, fromm, in Gottes Hut, Sollt ihr heimkommen gut.
Sitze, sitze, Biene, da ! Gebot dir die heilige Frija.
Urlaub nicht hast du ! Zu Holze nicht flieg du,
Dass du mir nicht entrinnest, noch dich mir entwindest.
Sitze viel stille, wirke Gottes Willen !